Fotos: Johannes C. Büttner, Fabian Reichle
Erstmals erschienen in Groove 145 (November/Dezember 2013)
Lange Zeit wurde das Albumformat innerhalb der elektronischen Musik mehr oder weniger ignoriert. Das wichtigste Medium für DJ-Musik ist schließlich seit jeher die 12-Inch, und Download-Portale haben die Tendenz zum Kauf einzelner Tracks dabei nur noch verstärkt. Dennoch gibt es genügend Beispiele für herausragende Alben elektronischer Musiker, die weit mehr sind als nur die Summe einzelner Stücke. Nachdem wir in den vergangenen Jahren bereits Listen der besten Tracks und der besten Compilations zusammengestellt hatten, nun also die fünfzig besten elektronischen Alben. Wir haben uns auf Langspieler der vergangenen 25 Jahre beschränkt. Zum einen weil 1988 die ersten House-Platten im Albumformat erschienen, zum anderen weil der Beginn des Zeitraums – fast – mit der Gründung der Groove zusammenfällt. Für die Ermittlung haben wir eine Umfrage gestartet: Eine Jury aus rund siebzig Künstlern und DJs, Journalisten und Labelbetreibern hat uns schließlich Listen ihrer Lieblingsalben geschickt, die die Grundlage für das Ranking bildeten – von Mark Ernestus über Nicolas Jaar und Sven Väth sowie Philip Sherburne bis hin zu Nina Kraviz oder Sam Valenti von Ghostly Records reicht die Liste der Teilnehmer. Mix-CDs und Greatest-Hits-Sammlungen wurden nicht berücksichtigt. Die Rangliste reicht von vergriffenen Platten, die in Tausender-Auflagen erschienen, bis zu Millionensellern. Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre, beim Entdecken und Wiederentdecken.
1. Daft Punk – Homework (Virgin, 1997)
„Homework war für House, was Licensed To Ill von den Beastie Boys für HipHop gewesen war: eine Aneignung schwarzer Musik für den jungen, weißen Rebellen ohne Grund. Aber […] nicht als platter Diebstahl, sondern als respektvolle Referenz bei gleichzeitiger Weiterdrehung des Prinzips. “
Homework im Review von Hans Nieswandt
2. LFO – Frequencies (Warp, 1991)
„Musik, die immer noch nach Morgen klingt.“
Frequencies im Review von Gregor Wildermann
3. Aphex Twin – Selected Ambient Works 85-92 (Apollo, 1992)
„Wer [das Album] heute zum ersten Mal hört, der denkt nicht im Traum an Ambient. Techno ist das, worüber wir hier reden. […] Besser als auf Selected Ambient Works 85-92 ist Techno nicht mehr oft gewesen.“
Selected Ambient Works 85-92 im Review von Holger Klein
4. Massive Attack – Blue Lines (Virgin, 1991)
„Das erste Album von Massive Attack ist keine Blaupause für Trip Hop gewesen. Blue Lines ist vielmehr ein Spross jener Soundsystem-Kultur, die in den Städten des Englands der achtziger Jahre aufblühte.“
Blue Lines im Review von Holger Klein
5. Boards of Canada – Music Has The Right To Children (Warp, 1998)
„Warum an einem Meilenstein rütteln, wenn er wie die Suppendose von Andy Warhol unverrückbar erscheint?“
Music Has The Right To Children im Review von Gregor Wildermann
6. Villalobos – Alcachofa (Playhouse, 2003)
„Was soll das denn jetzt? Ist das der krasseste Trip aller Zeiten? Oder ein alberner Scherz?“
Alcachofa im Review von Alexis Waltz
7. The Other People Place – Lifestyles Of The Laptop Café (Warp, 2001)
„Die Liebeslieder auf Lifestyles Of The Laptop Café haben nichts von der Gewalttätigkeit Drexciyas [dem Hauptprojekt von James Stinson alias The Other People Place, d. Red.].“
Lifestyles Of The Laptop Café im Review von Alexis Waltz
8. Burial – Untrue (Hyperdub, 2007)
„Es sind die Stimmen, die dieses Album so außergewöhnlich machen, nicht das weiße Rauschen aus Regen-, Film- und Videospielgeräuschen im Hintergrund […].“
Untrue im Review von Daniel Fersch
9. Metro Area – Metro Area (Environ, 2002)
„Morgan Geist und Darshan Jesrani lebten ihre Leidenschaft für Disco-, R&B- und Dance-Platten aus den siebziger und achtziger Jahren in vollen Zügen aus.“
Metro Area im Review von Holger Klein
10. Rhythm & Sound – w/ The Artists (Burial Mix, 2003)
„Der Hallraum von Jahrzehnten Musikgeschichte, eingedampft in eine Handvoll Riddims.“
w/ The Artists im Review von Arno Raffeiner
11. Robert Hood – Minimal Nation (Axis, 1994)
„Ich wollte einen heruntergestrippten Sound, der nicht so überproduziert wirkt, aber gleichzeitig ein Maximum an Gefühl und Seele transportiert.“
Robert Hood im Interview über Minimal Nation
12. Motorbass – Pansoul (Different, 1996)
„Ein düster schimmerndes Juwel geheimnisvoller Klänge […].“
Pansoul im Review von Thilo Schneider
13. Theo Parrish – First Floor (Peacefrog, 1998)
„Theo Parrish [stellte] die konservativen Regeln der Housemusik kurzerhand und endgültig auf den Kopf.“
First Floor im Review von Gerd Janson
14. Goldie – Timeless (FFRR, 1995)
„Timeless sollte ein Blockbuster werden, ein überlebensgroßes Monument, das den Anspruch von Drum’n’Bass als Science-Fiction-Musik zementier[t] […].“
Timeless im Review von Daniel Fersch
15. Moodymann – Silentintroduction (Planet E, 1997)
„[Ein] Querschnitt durch das mit Soulsamples durchsetzte und lässig wie HipHop schwingende House-Universum des Detroiters […].“
Silentintroduction im Review von Sascha Uhlig
16. Move D – Kunststoff (Source, 1995)
„Kunststoff öffnete einem die Ohren für Jazz […] und ist bei allem Abwechslungsreichtum […] mit unfassbar viel Herzblut und Spielfreude produziert.“
Kunststoff im Review von Thilo Schneider
17. Carl Craig – More Songs About Food And Revolutionary Art (Planet E, 1997)
„Carl Craig programmiert Pattern, die wie live gespielt klingen und trotzdem diese hypnotische Wirkung der ewigen Wiederholung beherrschen.“
More Songs About Food And Revolutionary Art im Review von Gregor Wildermann
18. Jan Jelinek – Loop-finding-jazz-records (Scape, 2001)
„Clicks und Cuts […] wie funkelnde Fragmente, die man aus einem großen Diamanten herausgelöst hatte.“
Loop-finding-jazz-records im Review von Tobias Thomas
19. Burial – Burial (Hyperdub, 2006)
„Eine revolutionäre Platte, die 2Step für eine ganze Generation neu erfand und zudem unzählige Epigonen auf den Plan rief […].“
Burial im Review von Sascha Uhlig
20. Basic Channel – BCD (Basic Channel, 1995)
„Musik, deren magnetische Wirkung jeder versteht.“
BCD im Review von Gregor Wildermann
21. Air – Moon Safari (Virgin, 1997)
„Die Moon Safari der beiden Franzosen bot einen Weg aus der Hektik, hinein in den Weltraum, nur um sich von ganz weit oben aus auf den Augenblick zu konzentrieren.“
Moon Safari im Review von Sascha Uhlig
22. Radiohead – Kid A (Parlophone, 2000)
„An die Stelle fest verteilter Rollen für Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gesang trat die kollektive Arbeit an Sounds. Als neue Instrumente dienten ebenso Cubase und Klavier, Streicher und Drumcomputer.“
Kid A im Review von Heiko Hoffmann
23. Isolée – Rest (Playhouse, 2000)
„Der Pionier des bald so genannten Microhouse wob einen dichten und doch transparenten Tonteppich und setzte diesen auf einen […] elektronischen House-Puls.“
Rest im Review von Hans Nieswandt
24. DJ Sprinkles – Midtown 120 Blues (Mule Musiq, 2009)
„Seit 1993 veröffentliche ich Musik, meist recht unbeachtet, besonders außerhalb von Japan. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Midtown 120 Blues etwas daran ändern würde.“
DJ Sprinkles im Interview über Midtown 120 Blues
25. DJ Shadow – Entroducing….. (Mo Wax, 1996)
„[DJ Shadows] einziges Instrument war neben Plattenspielern und DAT-Gerät ein Akai MPC 60-Sampler mit 1,5 Megabyte Speicher.“
Entroducing….. im Review von Daniel Fersch
26. Fingers Inc. – Another Side (Jack Trax, 1988)
„Es gab nicht viele gute frühe House-Alben. Dieses gehört zu den wenigen.“
Another Side im Review von Holger Klein
27. Autechre – Amber (Warp, 1994)
„Musik für Reisen, Tracks für die Ewigkeit.“
Amber im Review von Gregor Wildermann
28. Photek – Modus Operandi (Science, 1997)
„Diese komplex-metallischen Rhythmen […] übten […] einen nachhaltigen Einfluss aus, nicht zuletzt auf die zehn Jahre später erscheinenden Produktionen von Burial.“
Modus Operandi im Review von Heiko Hoffmann
29. Love Inc. – Life’s A Gas (Force Inc., 1995)
„Life´s A Gas […] überführte das Prinzip Zitat-Pop in die Welt der geraden Bassdrum.“
Life’s A Gas im Review von Tobias Thomas
30. James Blake – James Blake (Universal, 2011)
„Ein Kleinod an fragil-intimem Avantpop-Soul, wie man es seither auch nicht wiedergehört hat.“
James Blake im Review von Tim Lorenz
31. Fennesz – Endless Summer (Mego, 2001)
„Es heißt, Christian Fennesz habe immer wieder Brian Wilson gehört, als er um die Jahrtausendwende in Wien an Endless Summer arbeitete.“
Endless Summer im Review von Arno Raffeiner
32. Black Dog Productions – Bytes (Warp, 1993)
„Bytes klingt in seiner lebensbejahenden Verschrobenheit wie die Science-Fiction-Version einer geheimnisvollen keltischen Kult-Musik.“
Bytes im Review von Thilo Schneider
33. Carl Craig – Landcruising (Blanco Y Negro, 1995)
„Techno [erklomm] mit der jazzigen Freigeistigkeit und dem Funk entlehnten Beats dieses Albums die nächste Stufe.“
Landcruising im Review von Holger Klein
34. Herbert – 100 lbs (Phono, 1996)
„Mir war immer jeder einzelne Sound sehr wichtig. Ich wollte den stärksten Effekt mit der geringsten Menge von Elementen erreichen.“
Matthew Herbert im Interview über 100 lbs
35. The KLF – Chill Out (KLF Communications, 1990)
„The KLF waren für eine ganze Reihe von Dingen berühmt und berüchtigt: Sample-Pioniere, […] Stadium-House-Erfinder, Backkatalog- und Geldvernichter, Nummer-1-Hit-Schreiber.“
Chill Out im Review von Heiko Hoffmann
36. Depeche Mode – Violator (Mute, 1990)
„Depeche Modes siebtes Album stellt […] (und welche Gruppe kann das schon sich behaupten?) einen Höhepunkt ihrer Diskographie dar.“
Violator im Review von Heiko Hoffmann
37. Caribou – Swim (City Slang, 2010)
„Ausbruch, Wirbel, Rush. Dan Snaith wurde zu Caribou, und Caribou zum Popstar der guten Musik.“
Swim im Review von Christoph Braun
38. LCD Soundsystem – Sound Of Silver (DFA, 2007)
„Sound of Silver ist das eindrucksvollste Vermächtnis der 2011 aufgelösten Band.“
Sound Of Silver im Review von Heiko Hoffmann
39. Portishead – Dummy (Go! Beat, 1994)
„Ein Meisterwerk, so weit entfernt von Dance-Kultur, wie kaum ein anderes Album dieser Liste.“
Dummy im Review von Heiko Hoffmann
40. Nicolette – Now Is Early (Shut Up And Dance, 1992)
„Now Is Early lebt […] von dem Wechselspiel zwischen Nicolettes poetischem Blues-Gesang und den typisch anarchischen Beats und Samples ihrer Produzenten Shut Up And Dance.“
Now Is Early im Review von Daniel Fersch
41. Alec Empire – Low On Ice (Mille Plateux, 1995)
„Die Radikalität der Aufnahmen und der Produktionstechnik strahlt bis heute.“
Low On Ice im Review von Max Dax
42. Aphex Twin – …I Care Because You Do (Warp, 1995)
„Auf dem Cover lässt sich James’ manisch grinsende, verzerrte Visage als Vorbote dessen lesen, was später an Krassheit […] noch drin sein würde.“
…I Care Because You Do im Review von Thomas Venker
43. Mr. Fingers – Ammnesia (Jack Trax, 1988)
„Hier hatte jemand eine Vision, die über die hektische Betriebsamkeit und die Effizienzprioritäten der Gründertage von House weit hinausging.“
Ammnesia im Review von Finn Johannsen
44. Wunder – Wunder (Karaoke Kalk, 1998)
„Hat deepness und herzt dabei auch noch das hörende Ohr.“
Wunder im Review von Christoph Braun
45. Plastikman – Consumed (M_nus / NovaMute, 1998)
„[Hawtin] reduzierte sein Instrumentarium radikal, entschleunigte das Tempo und setzte ganz auf eine dunkle, fast schon unheimliche Atmosphäre.“
Consumed im Review von Thilo Schneider
46. Jeff Mills – Waveform Transmission Vol. 1 (Tresor, 1992)
„Mills [entwickelte] den Detroit-Sound zum Masterplan für die europäischen Clubs und Raves weiter.“
Waveform Transmission Vol. 1 im Review von Alexis Waltz
47. Akufen – My Way (Force Inc., 2002)
„Das Album repräsentierte in jedem Moment die 2002 hochköchelnde Montrealer Cut-Up-Techno-Szene, die sich rund um das […] Mutek Festival gebildet hatte.“
My Way im Review von Thomas Venker
48. 808 State – Newbuild (Creed, 1988)
„Im Mittelpunkt dieses wie losgelöst musizierenden Maschinenparks standen Roland TB-303s, die wie von Sinnen um ihr Leben zu spielen schienen.“
Newbuild im Review von Holger Klein
49. Closer Musik – After Love (Kompakt, 2002)
„Die Musik des Albums nennt alle Zeit ihr eigen, lässt sich nicht von der Außenwelt in ihrem Habitus beeindrucken […].“
After Love im Review von Thomas Venker
50. The Orb – The Orb’s Adventures Beyond The Ultraworld (Big Life, 1991)
„[…] Das war ein sehr wichtiges Statement. Ein Debütalbum als Doppel-LP ohne Hitsingle herauszubringen war damals etwas, das es noch nicht gegeben hatte.“
Alex Paterson (The Orb) im Interview über The Orb’s Adventures Beyond The Ultraworld
Zu den Plätzen 51-100 | Die Listen der Jury: Teil I | Teil II
Die Jury: Für die Wertung der besten elektronischen Alben der Jahre 1988 bis 2013 haben die unten stehenden Personen Listen mit ihren Lieblingsplatten eingereicht. Wenn Jury-Mitglieder für ihre eigenen Alben stimmten, flossen diese Punkte nicht in Wertung ein.
Stream: Die 50 besten elektronischen Alben 1988-2013 – Spotify-Playliste