Elektronische Musik und Clubkultur sind längst zum Massenphänomen avanciert. Nun könnte man meinen, davon profitieren Subkulturen und Kollektive, die seit Jahren unbeachtet von der breiten Masse mit viel Herzblut und frei von kapitalistischer Verwertungslogik ihr Ding durchziehen. Pustekuchen: Der Kommerz hält weiter Einzug und verdrängt eine organische Szene – so bedroht wie 2019 ist Subkultur lange nicht mehr gewesen. GROOVE-Redakteur Raoul Kranz lässt ein schwieriges Jahr Revue passieren.

Beim Durchblättern der diesjährigen Club-News fragt man sich: Wo ist Techno anno 2019 eigentlich noch erwünscht? Jedenfalls nicht in deutschen Innenstädten, wo ruhebedürftige Zugezogene weggentrifizieren oder doch lieber die nächste Mall oder Luxus-Ateliers hingeknallt werden, die sich garantiert kein*e Künstler*in leisten kann: Alleine in Berlin machten das Chalet, St. Georg und die Rummels Bucht dicht, der Arena Club wurde in eine Eventlocation umgewandelt, der Farbfernseher wechselte seine Besitzer und das Gerangel um den Holzmarkt nahm kein Ende. Der neue Bebauungsplan für das RAW-Gelände in Friedrichshain bedroht Locations wie den Suicide Circus, das Urban Spree und Astra, während ganz aktuell um die Zukunft des KitKats und Sage Clubs gebangt wird – und im nächsten Jahr ein paar prominente Namen dazu kommen könnten.

Im Rest der Republik sieht es nicht gerade besser aus: In München musste das Mixed Munich Arts schließen, in Dresden der TBA Club, im Juli 2020 der Ludwigshafener Loft Club, und in Leipzig muss die Distillery umziehen – diese Liste dürfte sich wohl noch um einige Adressen erweitern lassen, zumal halblegale Locations ihre Schließung selten an die große Glocke hängen und Free-Party-Crews hier sicherlich auch noch die ein oder andere Anekdote – inklusive horrender Gerichtskosten – anführen könnten.

Clubsterben wird zum Unwort. Dabei spülte die Berliner Szene laut einer aktuellen Studie der Clubcommission im Jahr 2017 alleine 1,48 Milliarden Euro in die leere Kasse der Hauptstadt. Mit dem Lärmschutzfonds und den Bemühungen der Grünen auf Landes- und der Linken auf Bundesebene, mehr Clubs steuerrechtlich wie das Berghain als kulturelle Einrichtungen anzuerkennen, sind erste Schritte getan. Ein enormes Ungleichgewicht bleibt trotzdem.

Mensch Meier: Bassiani lässt grüßen

Nicht nur, dass die Politik verpasst, Veranstalter*innen gebührend zu unterstützen. Oft genug werden ihnen Steine in den Weg gelegt. Im März schlugen Zoll und Polizei im Berliner Mensch Meier auf – angeblich um wegen Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung zu ermitteln. Sea-Watch hatte dort zur „Nacht der Zivilen Seenotrettung“ geladen. Ein Schelm, wer an keinen Zufall glaubt. Die Beamten hätten sich laut Veranstalter*innen nicht als solche zu erkennen gegeben, außerdem sollen sie unverhältnismäßig viel Gewalt angewendet, mit gezogenen Schusswaffen das Gebäude gestürmt und einen Schaden von 6.000 Euro verursacht haben. Wie sich später herausstellte, waren Polizei und Zoll – anders als bis dahin behauptet – tatsächlich in zivil aufgetreten und besaßen keinen Durchsuchungsbeschluss. Auch Aktivist*innen, die vor dem Berliner Tommy-Weisbecker-Haus politische Plakate aufhängen wollten, wurden von der Polizei umgehend aufgefordert, diese zu entfernen: Es handle sich um eine Straftat, zivile Seenotrettung sei schließlich illegal.

„Auf den Kulturkampf von Rechts muss eine gemeinsame Antwort gefunden werden.”

Anias vom Club-Kollektiv Mensch Meier

Das unverhältnismäßige Vorgehen erinnert an die Razzia im georgischen Club Bassiani – das Aufregerthema 2018 – und zeigt, dass staatliche Repressionen gegen links-kulturelle Institutionen auch im ach so demokratischen Europa an der Tagesordnung sind. Fast zehn Monate später läuft die Klage des Mensch Meiers gegen Zoll und Polizei noch immer – sich gegen staatliche Repressionen aufzulehnen, kostet einiges an Geduld, Geld und Kapazitäten. Mit #nocopsinclubs soll für das Thema sensibilisiert werden, gemeinsam mit dem Club-Bündnis Reclaim Club Culture und der Clubcommission e.V. arbeite man an einer Lauten Hilfe nach Vorbild des Vereins Rote Hilfe, der mit einem Notfall-Telefon, juristischem Beistand und Übernahme von Gerichtskosten helfen kann. Am 25. Januar 2020 findet dazu die nächste Info- und Diskussionsrunde mit Netzpolitik-Expertin Marie Bröckling und Sea Watch-Advokatin Sophie Scheytt statt.

Anias vom Mensch Meier bleibt gegenüber der GROOVE optimistisch: „Wir haben die Hoffnung, dass die Klage nicht im Sand verläuft.” Ob das Club-Kollektiv durch die Aktion vorsichtiger geworden sei? „Nee, das hat eher dazu geführt, dass wir uns sicherer darin geworden sind, dass politisches Engagement notwendig ist. Auf den Kulturkampf von Rechts muss eine gemeinsame Antwort gefunden werden. Da sind wir natürlich auch im Gespräch mit dem Kulturkosmos. Da versuchen wir uns auszutauschen und ein bisschen den Rücken freizuhalten.”

Fusion Festival: Mit Kanonen auf Spatzen schießen

Apropos Kulturkosmos Münze e.V.: Der Verein, der vor allem für das Fusion Festival bekannt ist, hält sich aus Presse und PR komplett raus und würde am liebsten medial gar nicht beachtet werden. Nach diesem Jahr weiß auch der größe Provinzdepp, wo die Hippies feiern: Zum ersten Mal in der 22-jährigen Geschichte des Fusion Festivals war das Sicherheitskonzept von der Polizei nicht genehmigt worden. Diese wollte daher eine feste Wache auf dem Gelände errichten und regelmäßige Streifen über den ehemaligen Flugplatz schicken, sogar von Wasserwerfern, Räumpanzern und Bundeswehr war die Rede. Schließlich ruderte die Polizei zurück. Ob es sich hier bloß um einen Clinch mit dem neuen Polizeipräsidenten Hoffmann-Ritterbusch handelt? GROOVE-Autorin Cristina Plett drängt sich in ihrer Kolumne ein Verdacht auf: „Sollte das nur eine Machtdemonstration sein?“ Oder müssen wir noch einen Schritt weiter gehen und bekommen hier, ansonsten gemütlich in der Techno-Bubble eingelullt, den rechten Umschwung im Land plötzlich hautnah zu spüren – Plett weiter: „Recht (oder rechts?) und Ordnung gegen eine linksalternative Szene.“

„Recht (oder rechts?) und Ordnung gegen eine linksalternative Szene.“

GROOVE-Autorin Cristina Plett

Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle der Fusion-Nachbericht auf dem FAZEmag-Redaktionsblog. Für ein paar Klicks mehr wird dort das Festival so sensationslüstern beschrieben, dass selbst dem BILD-Redakteur sein Frühstücksei in den Kaffee fällt: Dealer gäbe es dort „wie Sand am Meer”, die Leute sollen mit Schildern wie „Ich verkaufe Weed“, „Nices Hash“ oder „LSD?“ umherlaufen. Die Autorin macht das Festival für ihren Drogenkater verantwortlich und versucht diese krude These mit Aussagen eines Neurowissenschaftlers zu untermauern. Ein derart skandalisierender Text heizt die Debatte nur noch weiter an und wird in Polizeikreisen vermutlich gerne zitiert – ähnlich wie die Clickbaits um die US-Touristin, die 2017 an einer Überdosis MDMA im Berghain verstarb, deren tragische Geschichte bis heute von Stern bis Spiegel gerne noch mal aufgewärmt wird.

Festival-Kolonialismus: Feiern bis zur Insolvenz

Nicht nur um die Fusion wurde gezittert, ähnlich dramatisch lief es beim Garbicz Festival, das quasi bis zur letzten Minute bangen musste und erst zwei Tage vor Beginn die Genehmigung des Bürgermeisters der polnischen Gemeinde Torzym erhielt. Die Techno-Hippies verschwinden also vom Acker und die Clubs aus den Innenstädten, während gefühlt jede Woche ein neues Massen-Festival aus dem Boden sprießt. Die Line-Ups sind exzessiv wie austauschbar – kaum ein Fleckchen, an dem Nina, Marcel, Luciano und die anderen Top-Namen nicht ihre Big-Room-Sets abfeuern. Häufig wird mit großen Marken kooperiert und Festivalgänger*innen werden unfreiwillig zu Werbeträgern – wie weit ist das eigentlich noch von der EDM-Szene der USA entfernt? Total abenteuerlustig geht es nach Kroatien oder Marokko, aber dortige Szenen und lokale DJs werden kaum eingebunden, siehe Dekmantel-Backlash. Ganz davon zu schweigen, dass sich die breite Bevölkerung selten ein Festivalticket leisten kann. In seiner Kolumne konkrit analysiert GROOVE-Autor Kristoffer Cornils die Situation und kommt zum Schluss: „In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren hat sich vor allem in Europa eine Festival-Blase ausgeprägt, die im Geiste von Expansion und Akkumulation langsam aber sicher kolonialistische Züge annimmt.”

„In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren hat sich vor allem in Europa eine Festival-Blase ausgeprägt, die langsam aber sicher kolonialistische Züge annimmt.”

GROOVE-Autor Kristoffer Cornils

Unsere Szene muss sich also nicht nur gegen Gentrifizierung und staatliche Repressionen wappnen, sondern auch gegen den totalen Ausverkauf und Techno-Haie. Was passiert, wenn Profitgier auf Idealismus trifft, wird beim Her Damit! und 7001 Festival deutlich. Dahinter steckt eine mittlerweile insolvente Firma, deren Besitzerin seit 2014 Festivals betrieben und Mitarbeiter*innen und Dienstleister nicht oder nur zum Teil bezahlt hat. In unserer GROOVE-Reportage haben wir mit 14 unabhängigen Quellen die skandalöse Geschichte rekonstruiert.

Vive La France: Nur noch mit Anwalt auf den Dancefloor

Ein Blick ins Nachbarland dürfte jeden übrig gebliebenen Optimismus killen: In Frankreich schloss die Institution Concrete, das von den Betreiber*innen initiierte Dehors Brut musste infolge eines Todesfalls kurz nach der Eröffnung bereits wieder dicht machen. In Nantes stürmten mit Tränengas und Gummigeschossen bewaffnete Einsatzkräfte der Polizei eine Party der Fête de la Musique, es gab zahlreiche Verletzte und einen Todesfall.

Außerdem plant der französische Staat, noch härter gegen Partys vorzugehen: Im Oktober wurde der Gesetzesentwurf zur „Verstärkung der Kontrollen von Rave-Partys“ vom Senat vorgestellt – festliche Zusammenkünfte mit Musik von bis zu 500 Personen müssen dann mindestens einen Monat im Voraus bei den Behörden angemeldet werden. Wer dagegen verstößt, hat mit bis zu 400 Sozialstunden und Geldstrafen von bis zu 3750 Euro zu rechnen, das Soundsystem und Equipment können beschlagnahmt werden. Eine Gesetzgebung, die klar darauf zielt, kleinen Veranstalter*innen und Newcomer*innen das Leben schwer zu machen.

„Politiker machen Gesetze auf Grund ihrer Bewertungen von fremden Lebensstilen, und das ist keine Art und Weise, Gesetze zu machen.”

Jon Savage in The Faber Book of Pop

Das Anti-Rave-Gesetz erinnert an das Großbritannien der 90er-Jahre, als mit dem fragwürdigen „Criminal Justice and Public Order Act 1994” dem zweiten Summer Of Love Einhalt geboten werden sollte. Damals sollte repetitive elektronische Tanzmusik tatsächlich verboten werden, was Artists wie Orbital, The Prodigy oder Autechre mit ihrer Anti-EP gekonnt auf die Schippe nahmen und auf dem Booklet vorwarnen: „Besser sind ein Anwalt und Musikologe die ganze Zeit anwesend, um im Fall einer Polizeischikane die nicht-repetitive Natur der Musik bestätigen zu können.” Ähnlich absurde Worte müsste man Raver*innen mitgeben, wenn der Gesetzesentwurf in Frankreich tatsächlich abgesegnet würde. 1995 sagte der britische Musiktheoretiker Jon Savage in The Faber Book of Pop zum britischen Anti-Rave-Gesetz: „Politiker machen Gesetze auf Grund ihrer Bewertungen von fremden Lebensstilen, und das ist keine Art und Weise, Gesetze zu machen.” Wiederholt sich das Spiel ein Vierteljahrhundert später?

Support your local DJ: Wir Raver*innen haben die Macht

Feiern, damit die Kasse klingelt – klar. Aber aus Überzeugung, für politische oder soziale Zwecke – nein danke! Am VIP-Tisch zu Tech House Champagner schlürfen – immer gerne. Aber im Kellerclub an neuen Genres schrauben – sorry, kein Platz mehr! Auf dem totalüberwachten Kommerz-Festival Papis Kohle ausgeben – aber bitte! Aber seine eigene Spielwiese frei erschaffen – die müssen doch kriminell sein! In einer Zeit, wo Scooter im Fernsehgarten auftreten und Ellen Allien für VW Werbung macht, verdrängt der Mainstream stetig echte Subkultur. Eine Szene, die jahrzehntelang als autarke Parallelgesellschaft existierte, steht immer mehr im Spotlight der Öffentlichkeit. Nur logisch, dass nun auch von Politik und Polizei genauer hingeschaut und versucht wird, zu regulieren.

„Support your local DJ, stay loud and mind the business techno…“

GROOVE-Autor Raoul Kranz

Was 2020 kommen wird? Platzt die Techno-Bubble? Hausdurchsuchungen bei allen, die beim Fusion-Bingo mitmachen – wir haben schließlich nichts zu verbergen? Das Berghain veranstaltet gemeinsam mit Spotify wöchentliche Tomorrowlands vorm Brandenburger Tor? Oder brauchen wir mit Boiler-Room-VR sponsored by Kümmelschnaps bald eh nicht mehr zum Raven vom heimischen Sofa hoch?

Ganz so dramatisch ist es dann doch noch nicht – schließlich haben wir Raver*innen die Macht: Clubs und Partykollektive müssen sich stärker vernetzen und gemeinsam gegen staatliche Repression und Ausverkauf vorgehen. Veranstalter*innen sollten sich auf ihre Stärken und Talente in ihrem Netzwerk konzentrieren, anstatt den nächsten Massen-Sell-Out abzuklatschen. Und wir Raver*innen entscheiden doch, ob wir lieber mit Zehntausenden unter einem Coca-Cola-Banner feiern oder die authentische Party ums Eck besuchen, ob wir uns von Spotifys Fluxhouse-Algorithmen berieseln lassen oder doch mal wieder eine Platte im Laden nebenan kaufen. Support your local DJ, stay loud and mind the business techno…

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