Bereits zum siebten Mal hat sich das Waking Life im portugiesischen Nirgendwo eingerichtet. Eine international durchmischte Crowd, die ausgeklügelte Formel aus musikalischen Acts und zahlreiche Highlights abseits des Dancefloors haben das sechstägige Festival in den letzten Jahren zu einem Geheimtipp für Raver:innen gemacht. GROOVE-Autor Leonard Zipper hat sich das friedvolle Treiben in der überaus ansprechenden Kulisse von Crato genauer angesehen.
„You made it!”, schreit uns ein Volunteer euphorisch entgegen, als wir mitten in der Nacht aus dem Bassliner in die portugiesische Pampa stolpern. Endlich! Diese Anreise hat sich ganz schön gezogen. Nicht zuletzt aufgrund der logistischen Schwierigkeiten, die mit einem Campingtrip von Berlin-Neukölln nach Zentral-Portugal einhergehen. Aber was nimmt man nicht alles auf sich, um für sechs Tage in einen Geheimtipp der europäischen Festivallandschaft einzutauchen, der ähnlich wie Nachtdigital oder Freerotation seine eigene Festivalkultur geschaffen hat?
Richtig gehört: sechs Festivaltage, inklusive durchgängigem musikalischem Programm. Dieses Versprechen lässt selbst beschlagene Raver:innen erst mal schlucken. Mit Blick auf die Traumkulisse bei Tagesanbruch erscheint diese Ansage aber gleich weit weniger herausfordernd: Zwischen Zypressen und Pinien schmiegt sich das Waking Life 2024 um einen großen malerischen See, mitten in die Natur, gut acht Kilometer vom verschlafenen Dreitausend-Seelen-Örtchen Crato entfernt. Da kommt sofort Urlaubsstimmung auf, auch dank der harmonischen Atmosphäre, die die Zusammenkunft erfüllt. Woodstock lässt grüßen – aber ohne sich dabei übermäßig aufzudrängen.
Akku auftanken mit den Profis
Darüber hinaus hat sich die Crew dieses Jahr wieder mit viel Liebe zum Detail ordentlich ins Zeug gelegt, um den feierwilligen Gästen eine Festivalerfahrung zu bieten, die keine Wünsche offen lässt und auf Nachhaltigkeit setzt: Neben dem ambitionierten musikalischen Programm fährt das Festival Kunstinstallationen, Workshops, Screenings und Performances auf. Zwei vegan-vegetarische Food Courts mit erschwinglichen Preisen und zahlreiche liebevoll aufgemachte Möglichkeiten zum Abhängen auf dem Wasser und zu Land sorgen dafür, dass der Akku voll bleibt.
Kurzum: Wir haben es mit Profis zu tun. Dieser Eindruck entsteht auch mit Blick auf die international durchmischte, unprätentiös wirkende Crowd: Australien, Deutschland, Portugal, USA, Schweden, UK, Niederlande, Brasilien – die Liste der Nationen, die mir während des Aufenthalts begegnen, ist lang. Viele der Teilnehmer:innen sind dort, wo sie herkommen, selbst aktiver Teil der Szene. Darauf deuten auch zahlreiche Label-Shirts und die Abwesenheit von Handylinsen auf den Dancefloors hin. Auffällig ist, dass mir im Vergleich zum letzten Jahr mehr Outfits über den Weg laufen, die instaworthy nach Neo-Hippie schreien.
Mehr Menschen für Morgen
Ob diese Ausgangsbedingungen für mich nach bereits zwei Waking-Life-Besuchen abermals in eine Ausgabe münden, die vor intimer Festivalatmosphäre strotzt, bleibt zum Auftakt allerdings offen. Schließlich werden sich so viele Menschen wie noch nie auf dem weitläufigen Areal tummeln: Auch aufgrund des finanziellen Drucks, der derzeit die gesamte Festivalbranche infolge von Pandemie und Inflation umtreibt, sowie hohen Verlusten, die die Crew vergangenes Jahr machte, sah sie sich dazu gezwungen, die Kapazität von 8.000 auf gut 11.000 Personen zu erhöhen. Damit will das Projekt auch weiterhin ohne Sponsoren und Kommerzialisierungen auskommen und an seiner Vision von einem besseren Morgen festhalten.
Wer da noch FOMO verspürt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Im musikalischen Programm verzichtet die Crew weitestgehend auf Standard-Bookings und große Headliner, die den ganzen Sommer von Festival zu Festival touren. Zwar bringt sie diese Ausgabe mit Goldie, Jane Fitz, Margaret Dygas, Dasha Rush und Ogazón etablierte Größen an den Start und mit GiGi FM, mad miran und Nathalie Seres auch solche, die auf dem besten Weg dahin sind, welche zu werden.
Gleichzeitig bleiben aber musikalische Erweckungsmomente nicht aus: Unter den rund 130 Acts tauchen viele noch relativ unbekannte Talente auf. Wobei ein Drittel davon live spielt – vor allem auf der Cochilo-Stage, wo sich Acts wie Astrid Sonne, Aleksi Perälä oder Valentina Magaletti & upsammy die Klinke in die Hand geben. Das ist besonders spannend und heute in diesem großen Umfang auf den meisten Festivals nicht zuletzt dank steigender Produktionskosten eher die Ausnahme.
Auch genretechnisch werden zahlreiche Gaumen und Gemütszustände bedient: ob Ambient-Gabber (Djrum), eingängige Klaviereinlagen (Lubomyr Melnyk), Psychedelic Rock (Gala Drop), Old-School-Dubstep (Mala), eine Überdosis an Powerhouse (Cormac) oder verspulter, aufgekratzter Electro (Lake Haze). Hier gibt es wirklich einiges auf die Ohren – in bester Soundqualität und pausenlos. Wer da noch FOMO verspürt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Grinsen, wippen, realkeepen
Solche, die bei all dem musikalischen Anspruch einfach nur mal stoffwechseln und ja nicht aus dem Takt geraten wollen, checken am besten beim Outro-Lado-Floor ein. Auf der kleinen Halbinsel macht sich Jahr für Jahr vor allem die Weimarer Giegling-Crew breit. Hier werden musikalische Trends und Avantgardismus bewusst ausgeklammert und bewährten (Tech-)House-Acts das Ruder überlassen. Dass es dabei keineswegs eintönig und stupide zuging, war diese Ausgabe insbesondere Yamour & DJ Dustin, Eduardo De La Calle und Matthias Reiling zu verdanken. Letzterer tut sich samt Dauergrinsen und enthusiastischem Mitgewippe hinter den Plattentellern am Freitagabend mit besonders viel Feingefühl hervor. Bei so viel Einsatz bleibt einem gar nichts anderes übrig, als die ganzen drei Stunden seines energiegeladenen House-Sets mitzunehmen, das sich zunehmend hochschraubt. Ein wahrer Realkeeper, der Hamburger.
Es scheint den Feierwilligen hier festivaluntyptisch sogar von Tag zu Tag sogar besser zu gehen.
Nicht nur Matthias Reiling, sondern auch die meisten anderen DJs stehen in der Regel mindestens drei Stunden oder mehr in der Booth. Derart lange Slots sind heute, vor allem bei zwei- bis dreitägigen Festivals, eher die Ausnahme – obwohl es ab zwei Stunden häufig erst richtig interessant wird. Vor allem dann, wenn Künstler:innen den ausgedehnten Rahmen nutzen, um sich ordentlich auszutoben. Das gilt auch für Ben UFO, der Samstagnacht den Floresta-Floor fest im Griff hat. Dabei nimmt der Brite die musikalische Offenheit der Crowd zum Anlass, um sich im letzten Drittel des Slots von seinem cleveren, UK-lastigen Clubsound zu entfernen und in experimentellen, viszeralen Gefilden und Dub-Sounds zu verlieren. Dieser erfrischende Einschlag kommt übrigens in zahlreichen Darbietungen zum Vorschein – insbesondere in der von Luke Slater, der unter seinem Alias L.B. Dub Corp ein Set zum Besten gibt.
Das Set des Festivals
Einfallslose Auftritte bleiben beim Waking Life weitestgehend aus. Auch wenn der Niederländer Ion Ludwig das verbliebene Feld Sonntagnacht doch noch auf eine Geduldsprobe stellt: Während seines dreistündigen Live-Gigs gleicht eine minimalistische Passage der anderen. Sein Set kommt nicht nur nicht in Fahrt, sondern mit gespenstischen Glockenklängen streckenweise auch noch ziemlich kitschig daher. Derweil mag der Funke auf dem einzig anderen noch offenen Dancefloor merkwürdigerweise auch nicht überspringen – und das, obwohl die sublimen, hypnotischen Techno-Nummern von Rrose und Co., die der Schweizer Garcon verwebt, sich als Synthese wirklich sehen lassen können.
Ein Auftritt des Chilenen wäre nur die Kirsche auf der Sahnetorte.
Jetzt heißt es ausnahmsweise mal durchhalten. Wem das gelingt, der wird dafür ab Montagmorgen mit einem siebenstündigen transzendentalen Mash-up aus treibenden Club-Tracks von Jane Fitz und Marco Shuttle belohnt, das sich nicht ganz unerwartet als eines der Sets des Festivals entpuppt.
Helga? Ricardo!
Schließlich macht noch eine verheißungsvolle Ankündigung die Runde: Ricardo Villalobos, also der Minimal-Gott höchstpersönlich, soll sich laut Buschfunk am Montag ums Closing kümmern. Ein Gerücht, für mich schon ein wahrer Festival-Klassiker wie der Helga-Ruf, der mir auf derartigen Zusammenkünften nicht das erste Mal zu Ohren kommt. Schön wär’s! Und selbst wenn nicht: Angesichts zahlreicher programmatischer Highlights würde ein Auftritt des Chilenen nur die Kirsche auf der Sahnetorte ausmachen.
Zwar merkt man, dass sich das Waking Life als Geheimtipp mittlerweile auch außerhalb des harten Kerns der Szene rumgesprochen hat. Ebenso nimmt die höhere Teilnehmerzahl im Vergleich zu den letzten Jahren dem Festival etwas Intimität. Auf der anderen Seite hat man es aber insgesamt immer noch mit einer absolut gescheiten Crowd zu tun. So sind etwa orientierungslose, durch und durch verstrahlte Gestalten selbst auf der Zielgeraden des Waking Life die absolute Ausnahme. Vielmehr achten die Leute auf sich und ihre Mitmenschen.
Es scheint den Feierwilligen hier festivaluntypisch sogar von Tag zu Tag besser zu gehen. Die positive und entspannte Grundstimmung steckt jeden an. Gleichzeitig hat bei dieser Ausgabe neben dem 1A-Setting und den ruhig gelegenen Campingplätzen auch der wohlgesonnene Wettergott seinen Teil dazu beigetragen.
Wer also bereit ist, sich auf diese ausgedehnte 360-Grad-Festivalerfahrung einzulassen – inklusive der weiten Anreise und dem fairen Ticketpreis von gut 270 Euro – ist gut beraten, nächstes Jahr im portugiesischen Nirgendwo vorbeizuschauen. Wer außerhalb von elitärer Feierkultur seinen Horizont erweitern will, auch. Ob das dann mit mehr Menschen auf dem Gelände passiert, ist jetzt schon eine spannende Frage. Gleiches gilt übrigens für das Erscheinen von Ricardo Villalobos. Denn der Don hat sich diesmal – natürlich – doch nicht blicken lassen.