Die weiteren Strömungen, die sich in den elektronischen Veröffentlichungen dieser Saison ankündigen – von der unverkennbaren Renaissance des Dark Ambient, über den immer noch sehr starken Industrial-Einfluss auf Techno und tiefgekühlte post-aggressive Post-Club Sounds aller Art (mehr dazu in der Augustausgabe des Motherboard) – wollen nicht so recht mit der jahreszeitlich bedingten gelasseneren Stimmung korrespondieren. Aber es gibt selbstverständlich immer Ausnahmen, die sich gegen den Strom stemmen der in die finstere Unterwelt führt. ДЛЯ FOR (RVNG Intl.), das Quasi-Debüt der vielseitig talentierten Russin Kate Shilonosova alias Kate NV ist nicht nur aus diesem Grund etwas ganz Besonderes. Die hibbelige instrumentale Electronica des Albums zeichnet ein ganz anderes Bild ihrer Stadt Moskau als das der kalten und harten Metropole, das ja auch die lokalen Techno-Produzent*innen gerne bemühen, einem Ort an dem Menschen wie Subkulturen sich im Ringen um Anerkennung aufreiben. Ihr luftiges Ballett von Synthesizern und Holzklöppeln ist gleichermaßen modernistisch abstrakt wie melodisch poppig konkret, hebt sich gleichermaßen ab vom Synthpop ihres Debüts Binasu (2016 unter dem Alias NV im Eigenvertrieb erschienen und schwer vom Sound des Yellow Magic Orchestra der achtziger Jahren beeindruckt), wie auch von ihren Verbindungen in der nicht-akademischen Neuen Musik ihrer Stadt (sie ist Teil der Moskauer Abteilung des Scratch Orchestra, dieses großen radikal emanzipativen Traums einer klassenlosen Musik des britischen Komponisten Cornelius Cardew). Ähnlich ins Leben verliebt und doch so detailmelancholisch wie vor zwanzig Jahren Jörg Follerts Einzelstück gebliebenes Projekt Wunder ist auch Kate NVs einzigartiges Album ein seltener weil für diese Welt viel zu zutraulicher Paradiesvogel eines Albums.
Video: Kate NV – дуб OAK
Eine gewisse Gewichtslosigkeit und Wärme zeichnet auch Back & Forth (Modularfield), das Debüt-Tape des deutsch-britischen Duos Vague Contrast aus. Klassische Electronica mit kleinen Beats und nicht zu großen Gefühlen. Das hat definitiv eine eigene Qualität und wenn das Wort nicht so furchtbar von Ressentiment belegt wäre, möchte ich das Album gerne „nett“ nennen. Ein Attribut das nicht weniger auf die Collected Fictions (Sound In Silence) des Briten David Newlyn zutrifft, der aus der nordenglischen Kleinstadt Durham heraus das CDr-Label October Man betreibt und seit einer Dekade mindestens zwei Alben pro Jahr veröffentlicht, die sich zwischen Ambient und Post-Rock-Electronica mit herumschwärmenden Pianolinien bewegen. Auf seinem jüngsten Album ist diese Bandbreite an Sounds vollständig präsent, eingebunden in angenehm unaufdringliche instrumentale Song-Tracks. Im nordkalifornischen Universitätsstädtchen Davis wirkt das Duo Mondo Lava und der von schönem Wetter und Psychedelia aller Art entschleunigte Lebensstil findet sich auch in ihrem Tape Ogre Heights (Hausu Mountain, VÖ 7. Juli) wieder. Loops aus exotischen Tapes die wieder Tapes aus Loops werden treffen auf Easy Listening geprüfte Orgelsounds und Vintage-Synthesizer Arpeggien. Leichtigkeit mit Biss ist ihr Programm.
Stream: Mondo Lava – Air Walk
Der Multiinstrumentalist Johann Pätzold aus Rostock, jetzt Paris, nennt sich Secret Of Elements. Seine Mini-LP Odesea (Infiné) dehnt Electronica noch weiter in Richtung Neoklassik, was vor allem dem ausgiebigen Einsatz einer Kirchenorgel und eines leicht verstimmten knarzigen Klaviers zu verdanken ist. Die unverkennbare Wärme seiner Stücke ist schon etwas melancholisch eingefärbt, ein Schiff das aus dem sonnengefluteten mediterranen Hafen ausläuft, in unbekannte Gefilde, ohne Rückkehrtermin. Der Brite Mark van Hoen, besser bekannt als Locust und als Hälfte des hier schon öfter erwähnten Duos drøne, hat in den neunziger Jahren die Definition von Leftfield-Electronica als Genre und Sound erheblich mitgeprägt, aber nie die Sichtbarkeit und Prominenz seiner Kollegen bei Warp oder Plant Mu erreicht. Unter seinem Klarnamen veröffentlicht er deutlich seltener und verzichtet dabei auf Beats und Songstrukturen. Invisible Threads (Touch) ist ein Album das öfter den je zuvor eine unverstellte Schönheit zulässt, die von irrlichternden Vocal-Samples à la Burial noch gesteigert wird.
Der dänische Produzent Paw Grabowski alias øjeRum ist ungefähr eine Ambient-Generation jünger, kann eine ähnlich umfangreiche Diskografie aufweisen wie van Hoen, und hatte noch nie Probleme mit gleißendem Wohlklang. Seine Arbeiten fußen ebenso wie van Hoens in Samples und Soundcollagen, die aber nicht modernistisch aufeinanderprallen sondern in einen endlos harmonischen Fluss gebracht werden. Auf Selv I Drømme Lyser Den Første Sne (Midira) ist ihm das so gut gelungen wie kaum je zuvor. Der Titel suggeriert traumlogisch warme Winterlandschaften und die Töne machen mit. Ben Rath aus Manchester ist im Vergleich ein Newcomer, allerdings einer der die Spielregeln des Genres schon jetzt perfekt beherrscht. Anything Is Possible (Sound In Silence) balanciert blind und sicher auf der instabil rutschigen Grenze von rettungslos angenehmem Schönklang und feinkörnigem Noise. Energetischer Ambient eines perfekten Tags am Meer. Wellenrauschen und ein entferntes Transistorradio aus dem leise Easy Listening herüberweht. Flood (Fabrique Records) der Berliner Soundart-Künstlerin Jana Irmert taucht noch tiefer in die Klänge der Unterwasserwelt. Ein Soundpanorama der Grenze and der flüssiges auf festes trifft und ein Soundtrack zu Tschingis Aitmatows apokalyptischem Roman Das Kassandramal.
Stream: Ben Rath – Flow Of Creation
Der Brasilianer Ricardo Donoso / Scuba Death hat ein weitereichendes musikalisches Betätigungsfeld, das von Free Jazz zu Soundtracks und Neoklassik reicht. Bekannt wurde er aber vor allem mit komplexen und schwermetallhaltigen Soundscapes. RDTK, Donosos Projekt mit Sänger Thiago Kochenborger geht in eine noch mal andere Richtung. Statt Dark Ambient gibt es Postpunk, Trip-Hop und Synthpop mit teils stark bearbeiteten Vocals. Ihr Debüt Human Resources (Denovali) greift nach den Indie-Sternen. Es bietet überlebensgroße pathossatte Songs wie „Affective Forecasting“, aber es beharrt nicht weniger nachdrücklich auf den Errungenschaften der feinkörnig Noise-affinen Produktionsweise die Donoso in seinen Ambient-Releases perfektioniert hat. So etwas könnte ruhig öfter passieren.