20 Years Of Echocord (Echochord)
Wenn es jemanden gibt, der in den letzten zwanzig Jahren das Erbe des Ernestus/ von Oswald’schen Universums rund um Basic Channel, Rhythm & Sound und Chain Reaction konsequent fortgeführt hat, dann wohl Kenneth Christiansen mit seinem Label Echochord. Gegründet in 2002 in Kopenhagen, lotete das Imprint seither mit kontinuierlichen Releases von z.B. Mikkel Metal, Quantec, Fluxion oder Deadbeat die Tiefen und Untiefen von Dub Techno aus. Ganz ähnlich wie bei den Berliner Urgesteinen wird auch bei Echochord die Bandbreite weit gesteckt und reicht ausgehend von klassischem Dub Techno bis in die Ausläufer von dubbiger Electronica und Vocal-getriebenem rootsigem Material, das sich aber stets um einen sehr stringenten Sound aus massiven Subbässen, verhallten Chords und viel Echo schart. Genau dieses Spektrum lotet die Compilation zum 20-jährigen Jubiläum mit zehn Tracks aus, von denen jeder für sich eine Facette des Labels ausleuchtet, während Idealist aus der Schweiz mit dem stoisch marschierenden und klassisch reduzierten Dub-Techno-Prototrack „Ride“ gewissermaßen den markanten Zentroiden des Ganzen abliefert. Stefan Dietze
Fünfzehn + 1 (Ostgut Ton)
Anderthalb Jahre wurde nicht im Berghain getanzt, anderthalb Jahre lief damit auch der Betrieb auf dem hauseigenen Label Ostgut Ton auf Sparflamme. Statt Klubnacht gab es Kunstausstellungen, statt DJ-Tools auf dem Mutterschiff Klangkunst von Emeka Ogboh und die nachträgliche Veröffentlichung des Bonking Berlin Bastards-Soundtracks und eine LP von Luke Slater in Kollaboration mit Artists aus dem erweiterten Dunstkreis auf dem Ableger A-TON zu hören. Mit der Neueröffnung des Clubs allerdings wird nun die im letzten Jahr durch ebenfalls Luke Slater im Mega-Remix erledigte Jubiläumswerkschau wieder im Compilation-Format ausgebreitet. Schon das Format ist ein Besonderes: Ähnlich wie zuletzt Labels wie Mother’s Finest in Kollaboration mit Midnight Shift oder Hausu Mountain und Deathbomb Arc setzt Fünfzehn +1 auf im Duo oder als Trio gemeinschaftlich entstandene Arbeiten von Residents, clubnahen Produzent*innen oder sogar bisher kaum im Berghain-Umfeld wahrzunehmenden Künstlerinnen wie Jessica Ekomane und Zoë McPherson. Die personelle bringt auch eine stilistische Erweiterung mit sich: Über gut 20 Tracks klingt hier kaum etwas wie gewohnt, auch wenn sich alles buchstäblich auf vertrautem Terrain bewegt – die fünf LPs des umfassenden Box-Sets seien fünf verschiedenen Räumen im Club gewidmet beziehungsweise ziehen ihre Inspiration dorther, heißt es.
Wo genau die Reise beginnt, das scheint sich leicht am Personal der ersten Stücke ablesen lassen: MMM, Avalon Emerson und Roi Perez, Tama Sumo und Lakuti sowie Substance und Soundstream starten wohl “oben”. MMM mit einem knochentrockenen Groove und understated Melodieführung, die sie sich nur durch wahre Hits leisten können, Emerson und Perez mit einem gut gemeinten, aber doch sehr zerfahrenen Stück und Tama Sumo und Lakuti mit einer funkgetriebenen Verbeugung vor Audre Lorde. Das reißt mit seiner Killer-Bassline in jedem Fall die Lamellen der Panorama-Bar-Jalousien hoch und wird von Substance und Soundstream mit einem verspielten Ausdauer-Jam abgefangen, der langsam aufs Closing vorbereitet. Zuerst aber geht es auf der nächsten LP im „Temple of Love” weiter, wie das bei Len Faki und Honey Dijon heißt, vulgo “unten” mit entsprechenden Sounds: JASSS und Silent Servant, Barker und Luke Slater, Ben Klock und Etapp Kyle sowie Marcel Dettmann und Norman Nodge tun sich außerdem jeweils zusammen, um den Berghain-Floor zu bedienen. Wo Faki und Dijon noch klassisches Opening-Material liefern und JASSS und Silent Servant langsam auf die Peak zusteuern, wagen Barker und Luke Slater ein vertracktes rhythmisches Experiment, das auf dem Floor sicherlich Proteste nach sich ziehen würde – was uneingeschränkt für diese verschlungene, perkussive Etüde in Sachen Die-Dinge-mal-anders-machen spricht. Klock und Kyle halten sich zwar rhythmisch und dramaturgisch ans Altbewährte, garnieren ihren Track aber mit psychedelischen Sounds, der für jedes sirenenhafte „Subzero”-Zitat entschuldigt. Die wahre Überraschung kommt von Dettmann und Nodge, die einen furztrockenen Acid-Electro-Stampfer präsentieren, der gleichermaßen bräsig und energetisch ist – reiner Purismus, alte Schule und ein Instant-Klassiker.
Pom Pom, das Trio Oren Ambarchi / Konrad Sprenger / Phillip Sollmann, Martyn im Verbund mit Duval Timothy, Ekomane und McPherson sowie Atom™ und Tobias. sperren schließlich die versteckte Tür unter der Eisbar zur Halle hin auf. Pom Pom bettet an B12 erinnernden, entschleunigten Ambient Techno in Dubschwaden, die – durch Kazoo-ähnliche Sounds ergänzt – weirde Trip-Gefühle wecken. Der freundliche Kraut-meets-Minimal-Jam der drei Supernerds Ambarchi, Sprenger und Sollmann kommt da als Runterkommmittel gelegen wie ein KiBa nach Rave-Stunde Zwölf. Martyn und Timothy können sich schwerlich zwischen Bar-Jazz, Mo’-Wax-inspiriertem Downbeat und Dub entscheiden und werden von Ekomane und McPherson mit gleichermaßen generativ-slick und muffig-industriellen Sounds weggepustet. Bleibt Atom™ und Tobias nur noch „One Final Thing” zu sagen. Sie tun das in Form einer etwas überambitionierten Spoken-Word-Manipulation – mehr Sound-Art als Musik, angemessener und besser aufgehoben im Kontext einer Ausstellung wohl als inmitten einer solchen Compilation. Schließlich? Steht wohl das Lab.Oratory auf dem Itinerary. Oder geht es doch wieder zurück zur Panorama Bar? Der Opener der dritten LP von Answer Code Request und Gerd Janson wäre wohl auf jedem dieser Floors sowie überall sonst gut aufgehoben: waviger Techno, der mit großzügig gestreckter Bassline viel Pathos verströmt – wie ein Innervisions-Tune aus dem Gefrierfach. Ryan Elliott und – lange nicht mehr im Berghain-Umfeld gesehen – André Galluzzi lassen dann sogar den Sound der späten Nullerjahre wieder aufleben: stur und doch verspielt, minimalistisch und ausdauernd. Für die discoiden Basslines und hüpfenden Melodien ist schließlich die jüngere Generation zuständig: Paramida und Massimiliano Pagliara sorgen mit „Ride Out the Wave” für gedämpfte Euphorie, wenn es so etwas denn gibt – ein House-Tune, der gleichermaßen balearisch wie aseptisch klingt. Toll.
Und das Finale? Findet dann wohl auf dem jüngsten Floor, der Säule statt – zumindest hat es den Anschein. Zwar sind nd_baumecker und Nick Höppner ebenfalls ganz klare Panorama-Bar-Bewohner, für „Labskaus” wagen sie sich aber in IDM-Gebiete vor. Eine sehr willkommene Abwechslung. Was sich nur eben nicht unbedingt vom gemeinsamen Beitrag Terence Fixmers und Phase Fatales sagen lässt: Hier klingt alles ganz genauso, wie es vom intergenerationalen EBM-Gipfeltreffen zu erwarten war – stinklangweilig, aber effektiv. Bei wem es sich allerdings um Comets handelt? Das lakonische Spoken Word mit dem gesingsangtem Refrain “I remember the future” lässt deutlich an Wolfgang Tillmans denken, um seine Stimme handelt es sich allerdings nicht. Und darunter röhrt dann eine Acid-Bassline, die im Chorus von satten Rave-Pianos ergänzt wird, derweil darunter ein Italo-Disco-Beat abläuft. Eine gleichermaßen rätselhafte wie einnehmende Schlussnote für diese Compilation, deren Qualität kaum überrascht – es ist Ostgut Ton, verdammt, die haben nunmal nur die Weltklasse auf der Schnellwahltaste – und die aller Zuordnungsschwierigkeiten zum Trotz, welcher Track nun auf welchen Floor gehört oder sich dort seine Inspiration abholte, dafür umso mehr ungewohnte Experimente und spannende Perspektivwechsel bietet. Denn zwar mögen sich all diese Produzent*innen im „Klub” am wohlsten fühlen – für Fünfzehn + 1 verlassen die meisten aber mit Erfolg ihre Komfortzone. Kristoffer Cornils
Futureboogie 10² (Futureboogie)
Am Anfang war die Party. 2002 haben Dave Harvey und Steve Nickolls begonnen, in Bristol für ihr Event Seen Acts und DJs wie Metro Area, Moodymann, Carl Craig, Maurice Fulton oder Gilles Peterson einzuladen. Neben einer als Futureboogie firmierenden Booking- und Management-Agentur ist 2011 auch ein gleichnamiges Label aus dieser Saat entstanden. Zehn Jahre später sehen wir das Team im Aufbruch zu neuen Ufern. Entsprechend ist Futureboogie 10² auch als Höhe- und Endpunkt zu verstehen – ein Ausrufzeichen als Schlussstrich. Die 19 (digital 20) Tracks zeichnen das Profil eines Imprints, das zunächst Nu-Disco als dritten Weg elektronischer Dancefloormusik neben Techno und House propagiert hat, um diesen Vibe im nächsten Zug mit dem interessanteren Teil der beiden Genres zu einem gegenwärtigen Sound zu verschmelzen. Auffällig: Ohne Acidline kommt hier fast keine Nummer aus – vom Auftakt mit Francesca Mackays famosem Downbeat-Track „Desire“ über den Italo-Western-SciFi-Funk in „Wormhole“ von Natural Sugar und Ponty Mythons grandiosen House-Tune „I Summoned Rick“ bis zu Rodions „morti DFAMe” und der forcierten Dringlichkeit in „Times Square“ von James Welsh. Auch auffällig: Eine Vielzahl der Tracks pendelt sich auf eine Laufzeit von rund sechs Minuten ein. Outstanding: die Italo-Synth-Apothose „Less But Better“ von Maia Lee, Manamis unwiderstehlicher Mover „Narcos.Is”, der HiNRG-Disco-Funk von N-Gynn in „Dutch-E“, Darkhouse statt Deephouse mit The Robinsons „Scream“, eine Art Oneiro 2.1., und Lauers hymnische Mr.-Fingers-Hommage „Offset Pat“. Harry Schmidt
Jessy Lanza – DJ-Kicks (!K7)
Es ist ein Kunststück. Jeder Track des Mixes von Jessy Lanza für die DJ-Kicks-Reihe steht stark genug für sich und gleichzeitig für den Klang der gesamten Auswahl. Das zeigen direkt die ersten drei Tracks, mit denen Lanza einsteigt. Alles Eigenproduktionen, spiegeln sie die musikalische Spannweite der Produzentin und DJ und die Anschlussfähigkeit an verschiedene Ausprägungen elektronischer Musik. Rudimentäre Footwork-Architektur mit Melodie-Ornamenten und verhuschten Vocal-Versatzstücken gleiten in rumpeligen Elektronik-R&B und schließlich zu geradlinigem four-to-the-floor über. Jessy Lanza greift diese Sounds im Lauf des Mixes wieder auf, wobei der experimentelle Synth-Pop mit klarem Gesang, der die bisherigen Alben von Lanza vor allem ausgemacht hat, in den Hintergrund rückt. Der Mix zeigt ihre Nähe zu Clubmusiken, die sie in der Vergangenheit auch schon andeutete, etwa durch die Zusammenarbeit mit den Footwork-Produzent*innen der Teklife-Crew. Der Mix hat ein durchgehend hohes Tempo, nimmt Electro wie von Mr. Ho oder Golden Donna auf oder den Gqom der Mafia Boyz. Mit Gant-Man im Remix von Loefah oder DJ Swisha geht es auch kurz Richtung Acid. Jessy Lanza lässt die Stücke, die mal von Breaks, dann von geraden Kicks angetrieben werden, elegant ineinander übergehen. Die Rhythmuswechsel halten den Mix abwechslungsreich, ohne dass er wankelmütig oder hektisch wird. Durch Jessy Lanzas Auswahl, Anordnung und Verbindung wirkt er am Ende wie ein einziger catchy Track. Philipp Weichenrieder
Nasty Tales (Nasty Enterprises)
Es ist doch gut, dass die meisten Menschen das mit der Musik sehr ernst meinen. So schließlich fällt den wenigsten von ihnen ein, Humor mit ins Spiel zu bringen. Wirklich nachhaltig witzige Musik, die dazu noch nachhaltig gut ist, bleibt selbst in der hedonistischen Welt der Dance Music eine Seltenheit. Die Nasty Tales auf Nasty King Kurls Label Nasty Enterprises versuchen dennoch merklich, den mehr als schwierigen Spagat zwischen Humor und ernsthaften Dancefloor-Bedürfnissen zu stehen. Das beginnt schon mit der Cajmere-Persiflage “Twerkulator” von Bae Blade, zieht sich weiter über Namen wie Justin Tinderdate und vor allem durch die Musik selbst: Selbst ein Benedikt Frey zeigt sich von seiner verspieltesten Seite, daneben gibt es Samples von Missy Elliott und totgenudelten Dance-Klassikern zu hören, werden Ghetto House, Rave-Signale, Acid-Kanonen und in gharte Electro-Tracks integrierte, bisweilen an Hyperpop erinnernde Elemente durcheinandergewürfelt. Diese Nasty Tales erzählen in diesem anarchischen Durcheinander von jeder Menge kreativer Zerstörungswut, die sich auf die Bierernsthaftigkeit zeitgenössischer Dance Music richtet – liebevolle Subversion durch Überaffirmation. Und wenn auch mal die eine Happy-Hardcore-Referenz selbst ins Klischeefettnäpfchen fällt oder auf der Darkside angesiedelte Jungle-Abstraktionen in dieser kunterbunten Mischung leider zu Unrecht verblassen: Einige der insgesamt 20 Tracks mögen zwar als Spaß gemeint sein und legen es damit nicht auf Nachhaltigkeit an, doch Spaß macht diese Compilation im Gesamten allemal. Zumal insbesondere die letzten Tracks von DJ Detox, Scart Lead und Ferguson ein atmosphärisches, nach so viel Aufregung sehr willkommenes ernstes Finish anbieten. Kristoffer Cornils
Paradisa Vol. ∞ (Gang of Ducks)
Gang of Ducks sorgen dafür, dass Schamanen keine Arbeit haben. Das Turiner Irgendwas-mit-Kunst-Ding, das sich auch als „multidisziplinäre Plattform“ bezeichnet, bringt den vierten Labelsampler raus und hängt aus Gründen der Prophylaxe ein paar Traumfänger über den Herrgottswinkel. Viel Freude spüren auch jene Menschen, die auf den 16 Tracks ihr Valium auspacken, um Purzelbäume ins wattierte Bällebad zu schlagen. „Geografische Koordinaten, Körper und ihr Geist verflechten sich zu einem Ganzen und formen eine psychoaktive Landschaft, die man in mehreren Dimensionen durchwandert.“ Halleluja, da hat jemand am richtigen Zeug geschnüffelt. Oder arbeitet in der PR-Abteilung von L’Oréal. Dass man sich auf Paradisa Vol. ∞ zwischen A wie Allerweltsambient und Z wie Zündschachteltechno auf direktem Weg zum Wunderdoktor ausbilden lässt, hat vielmehr damit zu tun, dass die Gang auf Schulmedizin ein feuchtgeschneuztes Kleenex gibt. Aus aller Welt schieben Spezis wie Kelman Duran from se UK, Piezo da Milano oder Polygonia aus Deutschlands Monaco deswegen ihre Globulivorräte unter die Zunge. Letztere wirft mit „Drifting Clouds“ sogar eine Hymne in den Trommelkreis, bei dem einem schon mal die Schublade auskommen kann. Besser als jede Tageslichtlampe! Christoph Benkeser