Foto: Frank P. Eckert

Darauf hat die Welt gewartet wie auf nix Gutes: ein neues Album von Liz Harris’ Alias Grouper, das wieder alle klassischen, bekannten und geliebten Grouper-Attribute erfüllt. Shade (Kranky, 22. Oktober), ihr Zwölftes, verwittert zartbitter isolationistische Indie-Folk-Songs mit viel Pedal und Hall auf der Gitarre zu psychedelischen Drone-Ambient-Schlieren in extremem Lo-Fi. Harris hat diesen Sound mehr oder minder alleine erfunden und bei aller Motherboard-Liebe zu Künstler*innen wie Ekin Fil oder Matt Christensen: Niemand, wirklich niemand kann ihn so genial wie Harris als Grouper, wenn sie denn noch will, und daran hakte es schon eher in den vergangenen Jahren. So wird die wunderbare Überraschung Shade das ultimative Geschenk zum ersten Herbstnebel.

Darauf hat die Welt gewartet wie auf das Internet: Also eigentlich gar nicht, aber dann war es plötzlich da, und man konnte spannende crazy Sachen mit ihm anstellen, die sich die Schöpfer*innen und frühen Nutzer*innen nicht träumen ließen. Eternal Home (Hausu Mountain, 15. Oktober), Mega-Opus des „✓ iNTERBEiNG”-Angel-Marcloid alias Fire-Toolz, ist ungefähr dasselbe mit Musik, macht so etwas mit den Sounds der Prä-Internet-Ära, baut die Klänge der Synclavier-Achtziger skrupulös nach, unterzieht diese dem Glitch der späten Neunziger, mischt noch ein paar IDM Beats zu und krassiert dann alles noch mit digi-überprozessiertem Death-Metal/Grindcore-Kreischen. Was dabei in 25 ausladenden Stücken rüberkommt, ist nichts weniger als ein permanenter Trip in pixeliert-verzwirbelte Welten, deren fraktale Selbstähnlichkeit täuscht und vexiert, spiegelt und auf bestmögliche Weise das Hirn verknotet, ohne den Körper drumherum nur eine Mikrosekunde zu vergessen.

Ein richtig neues Album einer Avantgarde-Legende (und letzteres Wort verwende ich nicht leichtfertig), ja, darauf haben alle gewartet, hoffentlich. Die Japanerin Hiromi Moritani alias Phew gehört allerdings zweifellos schon immer in diese Kategorie. Seit den frühen Achtzigern stehen ihre Soloarbeiten wie Kollaborationen für kompromissloses Experiment, punkigen Spirit und   Inspiration in Pop. Wobei die Inspiration meist von Phew ausging und sich dann langsam in den Mainstream japanischen Synth-Pops und später auch in Richtung wagemutigerer Indie-Acts der ganzen Welt ausbreitete. Umgekehrt hat Phew ihre Experimentierfreude und klangliche Radikalität nur wenig von J-Pop und internationaler Avantgarde aufweichen lassen. Und doch ist New Decade (Mute, 22. Oktober) ein echtes (Outsider)Pop-Album auf einem renommiertem Label mit hoher Reichweite, das mit Mainstream-Zusammenhängen und Mainstream-Sound friedlich koexistiert, ohne sich je an ihm zu bedienen. Krass toll ist das.

Blue Licks, das experimentelle Projekt der Chicagoer Field-Recording/Sample/Collage-Künstlerin Havadine Stone und des Psych-Freak-Noise-Elektronikers Ben Baker Billington, überzeugt ebenfalls in seiner Kompromisslosigkeit und kontrollierten Konfrontation. Hold On, Hold Fast (American Dreams) ist ein dringliches Spoken-Word-Stück über knisternd knatternder Drone-Elektronik, immer am Limit, an dem die Unmittelbarkeit in Aggression und Lärm umschlagen könnte, es aber dann doch nicht tut. Die Stücke von Moor Mother funktionieren ähnlich. Allerdings haben die Blue Licks andere Themen und kommen eher vom Industrial als vom Free Jazz. Vergleichbar beeindruckend und ähnlich intensiver Nachwirkung sind sie.

Anders toll, anders ungewöhnlich: Die Single Welt in einer Stadt (Karaoke Kalk, 8. Oktober) der seit circa 30 Jahren aktiven Donna Regina. Schon immer hat das Ehepaar Janssen eine äußerst eigenwillige Variante avantgardistischer Popmusik mit jeweils akuter Clubmusik von Dub, Schunkel-Techno über Minimal zu House ohne Anpassungsschmerzen verbinden können. Die beiden Tracks verzichten weitgehend auf solche Referenzen, stattdessen wird der immer latente Weirdness-Aspekt ihrer Stücke hier explizit nochmal eine Umdrehung höher geschraubt und mit abgedreht brillanten zeitanalytischen denglischen Lyrics komplettiert, die endlich mal nicht in den Kanon des neuen Bessergestellten-Biedermeier einstimmen, demzufolge das Leben auf dem Land doch so viel besser wäre (solange die Internetverbindung stimmt). Nein, Donna Regina verteidigen das Leben in der Kompression und Enge der Stadt inklusive Aggression, Dreck und Stress. Sie sind einfach wunderbar.

Experimente jenseits aller Kategorien, aber doch gefühlsbetont, mitreißend, direkt ansprechend, in einem gewissen Sinne Pop. Könnte so etwas den emotionalen Kern, die Jahre, inzwischen sogar Jahrzehnte übergreifende Konstante dieser Kolumne darstellen? Nun, ein komplett unverhofft grandioses Album wie Oko (Hidden Harmony) der beiden Russinnen Sasha Vinogradova & Alina Anufrienko hat jedenfalls unmittelbar Funken geschlagen. Verwehte, wehmütige Vocals, flirrende, kratzende Strings, Synthesizer und genau das richtige Maß an Pathos und Strenge, aber ebenso Offenheit und Experimentierfreude. Was könnte hier noch besser werden? Genau: nichts. Es geht um Träume und Geburten, um Vogelstimmen und Liebe. Wie toll, noch solche Entdeckungen machen zu dürfen, hier und heute. Es war sicher nicht voreilig, Vines von Damiana zum Album des Jahres auszurufen (siehe Juli), Vinogradovas und Anufrienkos Album ist allerdings mindestens ebenso toll gelungen und Jahresbestenlisten-würdig.

Warten Motherboard und Welt auf ein Remix-Album des Meisterwerks Aralkum der kasachischen, seit geraumer Zeit in Berlin lebenden Violinistin Galya Bisengalieva (bekannt etwa durch ihre Beiträge auf dem jüngsten Album von Laurel Halo), dessen Vorlage bereits so perfekt und in sich schlüssig war, dass jede Veränderung, Variation oder Erweiterung einen Riss, eine Verletzung der Textur bedeuten kann? Nein, aber ja, doch, denn zum Glück legen die wohl gewählten Bearbeiter*innen Coby Sey, Jing, Moor Mother, Jlin, CHAINES und Nazira mit einer Ausnahme nicht einfach nur einen Groove unter die Stücke oder zerreißen sie mit Noise oder Breakbeats. Aralkum Aralas (One Little Independent, 15. Oktober) wirkt ganz im Gegenteil noch immer geschlossen und mit Einfühlungsvermögen und Sinn verarbeitet, atmet noch den ephemer fragilen Geist des solastalgischen Originals.

1
2
3
4
5
6
Vorheriger ArtikelIT ISN’T HAPPENING: Festival bringt moderne Clubsounds nach Nürnberg
Nächster ArtikelDas Patriarchat hat Gästeliste – Teil I: Status quo