Auf ein überraschend großartiges Debüt wie In Free Fall (Thrill Jockey, 22. Oktober) wartet das Motherboard natürlich immer. Es passiert gar nicht mal so selten, aber selten so allumfassend, so Hirn, Körper und Stil beugend, unterwerfend und befreiend wie von der Berliner Komponistin und Sound-Designerin Maya Shenfeld. Scheinbar mühelos arbeitet sie hier Erkenntnisse aus den vergangenen 40 Jahren Synthesizermusik, 50 Jahren elektroakustischer Komposition und 1500 Jahren Chormusik zu schwer-dichten Dark-Ambient-Stücken, die immer geradeheraus zu so etwas wie Pop werden. Wow.

Ein Albumdebüt, auf das viele gewartet haben, ist Before I Die (Ninja Tune) von 박혜진 Park Hye Jin. Die Produzentin aus Los Angeles hat sich mit nur zwei EPs eine einzigartige Position erarbeitet, irgendwo zwischen groovend explizitem Vocal-House, Bedroom-Hip-Hop, sonniger Headz-Electronica und richtig gutem (ja, wirklich!) K-Pop. Mit kurzen, oft wiederholten Phrasen durchaus explizit in Clubmusik verwurzelt, sind die Stücke im besten Sinne Raum und Genre übergreifend einfach beste elektronische Popmusik, die ihre Wurzeln nicht vergessen hat. So etwas gibt es immer noch viel zu selten.

Richtig lang, um nicht zu sagen mehrere Dekaden lang, war die Wartezeit auf ein Soloalbum von Andy Bell alias GLOK. Als very britischer Gentleman und Schlüsselfigur von Shoegaze (mit Ride) und Indierock (kurzzeitig bei Oasis) seit Ende der Achtziger unterwegs, hat Bell in den vergangenen Jahren eine soft-psychedelische Variante von Techno-Electronica entwickelt, die ohne Gitarren auskommt, aber in ihren ausufernd epischen Strukturen noch auf Bells Shoegaze-Vergangenheit verweist. Pattern Recognition (Bytes/Ransom Note, 15. Oktober) ist dementsprechend durchaus eine Übung im Mäandern und Ausschweifen. Wobei der Exzess hier überraschend zupackend daherkommt, tatsächlich unmittelbarer auf den Dancefloor zielt als bisher. Und das mit Tracks, die kaum unter zehn Minuten, teilweise sogar doppelt so lang bleepen und clonken. Ein schwer beeindruckendes „Debüt”.

In der gleichen Generation ähnlich frisch gehalten haben sich – wie an dieser Stelle regelmäßig erwähnt – The Notwist. Die lassen ihr jüngstes Album Vertigo von wiederum langjährigen musikalischen Freund*innen und Peers remixen. Beginnen darf Alt-Hip-Hopper Odd Nosdam. Für die feine und ziemlich limitierte 10-Inch (Ich liebe dieses Format) Vertigo Dubs Vol. 1: Odd Nosdam (Morr, 1. Oktober) baut David Madson die Stücke „Ship” und „Oh Sweet Fire” zu ausladenden, tatsächlich ziemlich dubbigen Lo-Fi-Jams unter besonderer Berücksichtung der wubbernden Synth-Basslinie und scheppernden Drums. Die Vocals verschwinden tendenziell im Hintergrund, was nicht immer von Nachteil ist.

Zu Recht ausschweifen darf ebenfalls die Jubiläums-Compilation NOO11-21 (Noorden, 10. Oktober) des Kölner Labels Noorden. Was Alex Ketzer und Konsorten in ihren ersten zehn Jahren auf die Beine gestellt haben, kommt (wie einiges in dieser Ausgabe der Kolumne) eindeutig vom Techno und geht auf der Compilation ganz klar wieder zu Techno zurück. Gerne leicht experimentell, gerne eher Electronica-sanfter Wadenschmeichler denn Peaktime-Banger, geben die Tracks der vorwiegend, aber nicht ausschließlich hiesigen Labelkünstler*innen eine schöne Definition von heutiger Electronica im Spirit von Techno und generell Clubmusik ab. So geht das! Eine dicke Gratulation ist angebracht.

Der Brite Ross Harper aus dem Seebad Brighton hält seine technofizierte Electronica gerne klassisch. Oder besser gesagt irgendwo im Spannungsfeld zwischen spätromantischer Klassik-Nostalgie, frühmodernem Ernst und postmoderner Ironie. Das zeigen nicht nur die neobarocken Ölschinken der Künstlerin Iva Troj, die konzeptuell die Cover Harpers jüngster Albumveröffentlichungen zieren. Als Verbildlichung und Vertonung eines (von Ross selbst geschriebenen) Gedichts ist Tower of Light (City Wall, 8. Oktober) die direkte Fortsetzung der Erzählung vom Ambient Girl aus dem vergangenen Jahr. Album und Bildsprache hantieren mit allerlei romantischer Symbolik, Metamorphosen und Retro-Futurismus. Das ist in Wort, Klang und Bild jeweils nicht unbedingt ganz neu, in der Kombination aber schlüssig und frisch. Außerdem: Ein exzellent produziertes und gut durchdachtes Oldschool-Electronica-Album wie dieses ist in der Kolumne immer willkommen.

Instant Gude Laune mit Rave-Nostalgie (und ebenfalls postmodernem Ölschinken-Design von Kenneth Vanoverbeke und Rich Robinson)? Anyone? Der Brite Matt Cutler alias Lone liefert jedenfalls stets zuverlässig und inspiriert. Das ist auf dem mittlerweile achten Großwerk Always Inside Your Head (Greco-Roman, 22. Oktober) tatsächlich noch ein klein wenig besser gelungen als gewohnt. Rave-Fanfaren, IDM-Blubbern, Pads, Bleeps, Clonks, Acid, Electronica, Handbag House, junglistische Breakbeat-Schnipsel, voll alte Schule und ganz alte Schule, jump up and jump down. Das macht einfach direkt großen Spaß und haut in jede denkbare Erinnerungskerbe – von der Rave-O-Lution zum Second Summer of Love. Immer her damit!

Der aus Italien stammende, lange von London und aktuell von Berlin aus operierende DJ und Produzent Marco Shuttle ist bekannt für ausschweifende Sets, die Techno und House organisch miteinander verschmelzen und an die rhythmischen Grenzen und darüber hinaus tragen. In den eigenen Produktionen sind sowohl die selbstbewusst gesetzten Spannungsbögen, die wohlproportioniert eingesetzten weitgereisten musikalischen Referenzen wie auch die offenen perkussiven Elemente in den Dienst von Tracks gesetzt, die nicht in erster Linie auf Clubfunktionalität ausgerichtet sind, aber, richtig eingesetzt, diese durchaus erreichen können. Mit ebendem Twist, dem Mehrwert, hier noch etwas anderes, neues, Ungehörtes mitnehmen zu können. In Kombination mit einer konzeptorientierten Arbeitsweise trägt Shuttles Ansatz gerade im Albumformat besonders reiche Früchte, wie Cobalt Desert Oasis (Incienso, 15. Oktober) beeindruckend darlegt. Körnige organische Sounds, vielschichtige Percussion, raumgreifende Analogsynthesizer auf einem pulsierenden, aber nie stumpf bollernden Fundament aus krautigem Techno ergeben in der Summe eine ungewöhnliche wie eigenwillige Definition von Electronica. Also ziemlich genau das, um was es hier geht.

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