Die mechanische oder semi-automatische Erzeugung von Loops, Schleifen, Rhythmus und Sample-Bits hat in der elektronischen Musik eine lange und ästhetisch ergiebige Tradition: Von Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge im Feuerofen” zu William Basinskis Disintegration Loops. Klassischerweise ist die Basis dafür eine Bandmaschine, hin und wieder ein speziell modifizierter Plattenspieler, spätestens seit dem Siegeszug der Sampler und Sequencer wie dem Akai MPC auch digital. Es gab und gibt aber immer wieder die (manchmal) genialen Heimwerker*innen, die ihre Loops und Glitches aus eigens gebauten Musikmaschinen ziehen. Der Schotte Lomond Campbell ist so einer. Der hat sich für LŪP (One Little Independent, 22. Oktober) einen Tape-Loop-Automaten gebaut, der sich konzeptuell auf die großen Vorbilder Basinski (was subtilst mäandernde, bei jedem Durchlauf nur ein klein wenig andere Schleifen angeht) und Steve Reich (was den Puls der Minimal Music angeht) bezieht, aber eine völlig andere Soundästhetik verfolgt. Campbells Loops überlagern sich zu einem üppigen, großzügig poppigen Klangfluß, der Synthesizer-Stimmen und andere Instrumente in sich aufnimmt und keineswegs die genreübliche Lo-Fi-Ästhetik typischer Tape-Loop Electronica ausstrahlt, eher schon den stotternden CD-Glitch, den Markus Popp als Oval einmal pioniert hat.

Afrofuturismus, aquatische Inner- und Outer-Space-Utopien, Tiefseeforschung und modulare Synthesizer gehen sehr gut zusammen, das wissen wir allerspätestens seit Drexciya. Der in San Francisco lebende Joel St. Julien, hauptberuflich Komponist für Film und Tanztheater, hat die ausgefransten Fäden dieses immensen Kulturerbes immer fest in der Hand behalten. Sein erstes als physischer Tonträger in Kassettenform erscheinendes Album Empathy (Land and Sea, 8. Oktober) nimmt sie wieder auf und knüpft neue Verbindungen von schwerem Synthesizer-Noise mit tieferen Ambient-Strömen in einer kritischen wie selbstkritischen Reflexion von Rassismus, Politik und Identität in den USA und den Internetmedien von heute. Black Mirror und Black Atlantic, das ist ganz schön viel für ein kleines Tape, aber bei St. Julien erscheint es ganz natürlich und logisch, kathartisch in manchen Passagen, aber immer folgerichtig und erhellend.

Ein Soundwalk, der sich das Abschweifen, das Sich-Verlieren im Moment zum Thema genommen hat, das kann gar nicht schlecht sein. Zu was für einem tollen Klangerlebnis es sich aber im Fall der japanisch-schweizerischen Künstlerinnenkollaboration von Tomoko Hojo + Rahel Kraft entwickelt hat, ist schon etwas ganz Besonderes. Als ortsspezifische Auftragsarbeit für ein japanisches Sound-Art-Festival transzendieren die beiden aus- und abschweifenden Tracks auf Grass Eater Diary (L-NE) alle Kategorien, die mit solch spezieller Klangkunst üblicherweise verbunden werden. Es sind freie Klänge, die ins Offene führen.

Die spannende Reihe von Konzerten und begleitenden Tape-Veröffentlichungen des Berliner Labels Feral Note eröffnet ebenfalls jede Menge interessanter Perspektiven eher jüngerer, eher unbekannter Künstler*innen, die tendenziell experimentell, in einem Zusammenhang von Sound Art, elektroakustischer, neoklassischer Komposition oder Improvisation arbeiten, aber doch immer mindestens mit einem Fuß im Club stehen. Die bisher auf drei Konzerte im September und drei jeweils am zweiten des Monats erscheinende Kassettenboxen mit Artprint ausgelegte KLANGBOX eröffnet zahlreiche interessante und frische Zugänge zu Sound und Track, zu funktionalem und nicht-funktionalem Klang. Die KLANGBOX I (Feral Note, 2. September) kontrastiert mit Jemma Woolmore, Contrapunct, Hakan Cepni und jeker/moser Positionen von straigthem Dark Techno über Neoklassik zu freier Improvisation, was auf der KLANGBOX II (Feral Feral NoteNote, 2. Oktober) mit Sudden Beach, Stefan Hadjiev, Martyna Poznańska und Jamaica Suk ähnlich offen und weit angelegt ist, und auf KLANGBOX III (Feral Note, 2. November) mit ZO, Michael Rauter, Cosmin TRG, und Luise Enzian & Kaan Bulak sogar noch ordentlich Techno-Prominenz im experimentellen Mindset zu bieten hat.

Eine Woche nach den Berliner Klangbox-Events fand in Köln das alljährliche Ambientfestival statt, das, die Selbstbezeichnung ebenfalls gehörig erweiternd, immer wieder Blicke in benachbarte musikalische Felder wagt. Gerne und oft in die Neoklassik, aber auch immer wieder in experimentellere Gefilde, freiere Improvisation, algorithmische oder elektroakustische Komposition (dieses Jahr mit Fokus auf einen ihrer Pioniere, Alvin Lucier). Persönliches Highlight war allerdings der 45-minütige Orgel-Drone der mittlerweile in Los Angeles lebenden Kanadierin Sarah Davachi, die hier einmal mehr die alte Techno-Weisheit bestätigte, dass gutes Timing mehr als die halbe Miete ausmacht – mit wahrlich atemberaubendem Effekt im überwältigenden Finale. Ihre jüngste LP Antiphonals (Late Music) bespielt eher kürzere Formen in deutlich diverserer Instrumentierung – manchmal nähern sich die Stücke sogar instrumentalen, postrockenden Songs an –, aber mit einem ähnlich sicheren Gespür für Timing und die Balance von Exploration und Struktur, von Freiheit und melodischer Fülle.

Was die Myriaden Bands und Projekte zusammenhält, in denen die New Yorker Gitarristin Dana Schechter bislang so mitspielte, ist eine konsistent eingetrübte Stimmung zwischen mitternachtschwarzem Doom und blaugrau-nebliger Melancholie. In ihrer „eigenen” Band Insect Ark kommt zum vorherrschenden Doom & Gloom noch eine gehörige Portion Experimentierfreude hinzu, die auf der EP Future Fossils (Consouling Sounds) besonders zum Tragen kommt. Vielleicht, weil die Stücke mit einer Ausnahme solo in kreativer Isolation eingespielt wurden (vor Corona).

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