Sehr neu und sehr nah dran am Geist der Zeit, will sagen: Techno und was danach kam, Post-Präfix Musik mit Motiven aus dem Club, der noch als fernes Zeichen am Horizont präsent ist. Andererseits aber mit einer Lässigkeit und Eleganz, einer offensichtlichen Mühelosigkeit, die an lange vergangene Zeiten erinnert, das kann die Somewhen EP (KP, 8. Oktober) der Bristoler Produzentin Kayla Painter locker übers Knie beugen ohne zu brechen. Der subtile Groove der Tracks wurzelt noch im Techno oder modernem Breakbeat-Stolper-Techstep. Die sparsame, viel Luft lassende Produktion lässt die Beats aber aber nie so dominant oder raumgreifend werden, dass sie sich zu genuiner Tanzmusik verdichten würden. Stattdessen bleiben die Stücke stets in der Schwebe, in einem traumartigen Zustand der Unentschiedenheit. In dem Club, in dem diese Tracks laufen, ist Schrödingers Katze zu Hause und am Leben.

Topmodern und fangfrisch ebenfalls die Debüt-Mini-LP des Berliner Crux-Axul-Co-Betreibers Florian Sankt. Die Beat-Fundamente der sieben Tracks aif Inganical (Crux Axul, 30. September) kommen ebenfalls formal und soundästhetisch aus Techstep oder Footwork, wollen aber letztlich doch immer woanders hin. Gerne zu einem unsteten Post-Club-Sound, der aber dann doch immer noch genug geradeaus nach vorne geht, um im Club zu funktionieren (und in der Galerie sowieso). Da kriegen dann sogar die Techstep- und Amen-Breakbeat-Klischees der mittleren Neunziger nochmal ein neues Leben als Juke-kompatible Stolpersteine im Stakkato. Sie verdichten sich aber nie zu zwecklosem Hardcore-Geballer. Der Raum bleibt jederzeit gut belüftet und offen. Besser ist das in (noch nicht so recht Post-)Pandemie-Zeiten.

Wenn es so etwas wie „intersektionale” Elektronik im Sinne von über- und interdisziplinären Kreuz- und Querverbindungen von Musik, bildender Kunst, Literatur und Theorie (feministisch, antirassistisch), also eine Musik, die mehr als Musik ist, überhaupt geben kann, dann ist die vielschichtige und vielseitige EP der australischen Künstlerin Makeda wohl die allernächste Annäherung an so ein Konzept. Und tatsächlich kann, will und weiß Venus Leaks (Music Company, 29. Oktober) schon richtig viel, was über den puren Klang hinausgeht – und bleibt doch einfach superinteressante Musik von einem offenbar sehr klugen Menschen.

Das unglaublich ausgereift und durchdacht klingende zweite Soloalbum Eldorado (tak:til/Glitterbeat, 1. Oktober) der belgischen Violinistin Catherine Graindorge kommt natürlich nicht aus dem leeren Raum. Graindorge spielt seit vielen Jahren bei diversen altbewährten Indie-Größen wie Nick Cave oder Hugo Race auf Tour und in Aufnahmesessions, aber wie gut gemacht und überzeugend gedacht ihre experimentellen wie melancholischen Postrock-Song-Drones dann doch geworden sind, überrascht schon. Das bläst einen Gutteil der müde gewordenen rostpockigen Neoklassik-Nostalgie einfach mal frisch weg, ohne ihren emotionalen Effekt, die feinherbe, in Rotwein getränkte milde Traurigkeit, ganz aufzugeben.

Die Beinahe-Debüt-EP Dokkaebi (Les Albums Claus, 1. Oktober) des belgischen Klarinettisten Ben Bertrand ist ebenfalls eine ganz und gar erfreuliche Sache. Weil er das Neoklassik-Einerlei mit klanglichen Elementen und Erfahrungen der elektroakustischen Komposition kontrastiert, aber doch immer diesseits von Pop und Schönheit bleibt. Weil er das Album mit exquisit gewählten Gästen wie Christina Vantzou, Indré Jurgeleviciuté oder Otto Lindholm bespielt. Und nicht zuletzt, weil er die Melancholie intim kennt, die ozeanischen Gefühle.

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