Ein Ensemble wie das 71-köpfige norwegische Kristiansand Symphony Orchestra zur freien Verfügung stehen zu haben und dessen geballte Kraft und Klangfülle nicht auszuspielen, ist schon eine beeindruckende Leistung für sich. Der Komponist und Improv-Gitarrist Bjørn Charles Dreyer hat für Time And Mass (NXN, 26. Februar) genau die Verbindung aus Chuzpe und Zurückhaltung bewiesen. Vielleicht ist es der tragische Anlass des Albums, die Erinnerung an eine verstorbene Liebe, die alles Volumen, alle symphonische Gewalt zu stillem, heilendem Ambient hat werden lassen.

Das Ensemble der in Modena lebenden rumänischen Komponistin Alina Kalancea ist elektrisch und verkabelt, besteht aus einer Schrankwand voll analoger Modularmaschinen. Wo ihr Debüt The 5th Apple (siehe Motherboard vom Februar 2019) noch die Interaktion von Stimme und synthetischer Elektroakustik auslotete, gibt das mehr als beeindruckende Doppelalbum Impedance (Important Records) einen schwarz strahlenden Monolithen von opalglänzendem Analogsynthesizersound aus einem undurchdringbaren Guss. Und doch durchläuft das Album die emotionalen und klanglichen Entwicklungsmöglichkeiten der Maschinen einmal, mehrmals, immer komplett. Ein symphonisches Großwerk aus dem Innenleben der Elektronen, eine archäologische Erzählung von der Ursuppe des Techno.

Der Wiener Finne Johannes Auvinen dürfte als psychdelischer Acid-Techno-Producer Tin Man um Größenordnungen bekannter sein als unter seinem Klarnamen. Doch für elektronische Experimente, die weder die einschlägigen Roland-Maschinen ge- und missbrauchen, noch mit einem Beat unterlegt sind, hat Auvinen erstmals den Zinnmann ins Regal gestellt und sein Gesicht gezeigt. Akoosaari (Editions Mego) sind mal eher krautig-verspulte, mal eher arktisch-karge Synthesizer-Flächenlandschaften am kalten, dunklen Ende von Ambient, aber dafür wieder total eingängig und einladend. Wien im Februar und Helsinki zur Sommersonnenwende.

Kopenhagen liegt nicht nur klimatisch irgendwo zwischen skandinavischer Frostbeulen-Kälte und mediterraner Sonnenwärme, also falls es mal nicht regnet. Frederik Valentin klingt jedenfalls so, als hätte er die vorhersehbare Unvorhersehbarkeit des lokalen Wetters zum Prinzip seiner Produktionen gemacht. Immer in der Nähe von Ambient, Neoklassik und experimentellen Post-Industrial-Klängen nehmen seine Stücke ebenso Mainstream-Pop auf wie Folk und Hip Hop. Und doch bleiben sie immer ruhig und typisch. Seine zusammengehörigen digitalen EPs 0011001 (Posh Isolation, 5. Februar) und 0011000 (Posh Isolation, 19. Februar) geben Ideen von Songs und Collage jedenfalls viel Raum, vor allem im Zusammenhang mit den Gastvokalist*innen von Rapper Jeuru bis Soho Rezanejad.

Tropische Impressionen von Exotica und Easy Listening mit kühlen Synthesizer-Spitzen und Bandmaschinen-Loop-Experimenten ergeben eine ähnlich spannende Mischung, etwas, das der Kalifornier Dravier seit einigen Jahren verfolgt. Auf der Kassette Earth Mirage (Not Not Fun, 19. Februar) nicht mehr in Ultra-Lo-Fi, aber immer noch messy, überfüllt, raumgreifend, knallbunt und jederzeit interessant.

Auf dem Tape Jaguar (Not Not Fun, 19. Februar) des Russen Ilya Ryazantcev alias Iguana Moonlight wirkt die Regenwald-Exotik sogar noch etwas vordergründiger, aber dunkler. Es bleibt offen, ob hinter der schwülen Hitze des Synthesizer-Dschungels etwas Bedrohliches lauert und nur darauf wartet, in deinen Kopf einzudringen. Diese Sounds bewahren ihr Geheimnis, obwohl doch alles offen daliegt.

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