VA – Chill Pill V (Public Possession)
Sommerzeit ist Chill Pill-Zeit: Nummer fünf der Reihe für entspanntes Night-Clubbing erscheint Ende August und wird den hohen Erwartungen weitgehend gerecht. Seit 2019 in einer eigenen Liga der Geschmackssicherheit spielend, breitet auch Chill Pill V ein Füllhorn neuer Tracks vor den Ohren der zurückgelehnt Zuhörenden aus. Erneut groß ist auch das Entdeckungspotenzial: Die meisten der 20 darauf vertretenen Acts geben hier ihr Labeldebüt, für einige handelt es sich möglicherweise in der einen oder anderen Form sogar um echte Premieren.
Zumindest als Duo unserem Wissen nach noch nicht aktenkundig geworden sind Aiden Ayers & Yu Su aus Vancouver, die mit dem wirklich zauberhaften Duett „It’s Not Enough” den Auftakt machen und einen dezidiert flauschigen Ambient-Folk-Ton setzen. Ebenfalls songformatkurz, aber mit trackigem Beginn „The Grand Theft Hope” von SMLR. Seit der ersten Ausgabe noch auf jeder Chill Pill vertreten war dagegen die in Melbourne ansässige Producerin Ruby Kerkhofs alias Nice Girl, ihr „e-e-e” ist der erste echte Track dieser grandiosen Dancefloor-Not-Dancefloor-Anthologie und als mellow-angetrancte Deep-House-Nummer ein Jackpotgewinner auf Samtpfoten. Ähnlich aufgestellt, anders positioniert: der Singer-Songwriter-Synth-Pop von Zylva. Auch neu auf Public Possession, aber spätestens seit seiner Beats-In-Space-EP 2016 ein household name ist das schwedische Duo Mount Liberation Unlimited, dessen „Feeling Out Life” mit gedimmtem Funk das Eis crusht.
Weitere Schaumgummihämmer: DJ Citys somnambul-hellsichtiges „Comeniusplatz”, das faszinierend skulpturale „Good Problems” von Popp und Jürgen Branz, Mayurashkas tribal-hypnotisches „Yellow Echo”. Ozeanisch: Pascal Moschenis „Toyota Mehari”. Persuasiv: Zam Rams „My Desire”. Noch poppiger: „Kindly Eyes” von Aksel & Aino. Quersumme aus The Rah Band und Saâda Bonaire: Ultraflex’ „Digg Digg Deilig”. Dream-Dub-House: „orchard” von ddwy mit countryeskem Unterton, Over The Hills „Power Strength Relaxation” mit weitem Streicherhorizont. Nochmal Melbourne, nochmal ein neues Duo: DJ Chrysalis & Jennifer Loveless mit „Off Key Trip”.
Zum Ausklang steuert Lindsey Wang alias Polygonia mit dem Vogelgezwitscher-Flötentontechno von „Gefieder” die Tanzfläche an. Abteilung: „Future Balearic Essentials“, Salzwassergeschmack und Lichtreflexe inklusive, in der Kopfnote eine Mixtur aus Trance und Folk. Public Possession: Vinylbox dann erst zur Chill Pill X in fünf Jahren? Harry Schmidt
VA – DJs Di Guetto (Príncipe)
Im Nachtzug nach Lissabon holpert es, die DJs aus dem Ghetto schmeißen Holperdiestolpersteinchen auf die Gleise, und schon ist es vorbei mit der hausfräulerischen Touristenschmonzette. Na ja, besser so. Dass sich die Leute von Príncipe nicht unbedingt bei den Postkartenmotiven der Stadt treffen, hat sich vielleicht rumgesprochen. Die Beats kommen schließlich aus der Platte. Dorthin fährt keine gelbe Straßenbahn. Dort stopft man sich keine teuren Puddingtörtchen in die Rippen. Hinkommen kann man trotzdem, wenn man sich den DJs Di Guetto anschließt.
Das war eine Gruppe um DJ Fofuxo, DJ Marfox und weitere Künstler:innen. Sie produzierten Mitte der Zweitausender Musik für die sogenannte Straße – repetitiv, mit Bass, holladrio! Das war eine Zeitlang ziemlich geil, ist aber auch schon ein paar Jährchen her. Wer sich das Zeug also vor ein paar Jahren zum Peak von Príncipe reingezogen hat, wird bei der Mini-Compilation nicht komplett enthusiasmieren. Zur Alternativekstase des Easyjet-Erbes aus Ballertechno und Ballertechno reicht die musikgewordene Hüftoperation aber locker. Christoph Benkeser
Krust – Irrational Numbers Volume 1 (Wonder Palace)
Der Zusatz Volume 1 im Titel dieses Albums verrät schon, was Sache ist: Mit dieser ersten Ausgabe von Irrational Numbers beginnt eine mehrteilige Compilation-Reihe wichtiger Tracks von Kirk Thompson alias Krust, einem der stilprägendsten Drum’n’Bass-Künstler überhaupt. Die fünfteilige Sammlung wird auf Vinyl und digital erscheinen und neben einigen seiner Clubhits auch vom Markt weitestgehend übersehene, selbstveröffentlichte und sogar einige bisher unveröffentlichte Tracks beinhalten.
Zu den Hits zählt auf Volume 1 definitiv „Jazz Note”, das auf Krusts Spotify-Seite zu den zehn meistgestreamten Stücken gehört und alles Essenzielle seiner Musik beinhaltet. Den Briten unterscheidet von Weggefährten wesentlich, dass seine Musik sich immer einer Eindeutigkeit verweigert hat. Tracks können jazzig sein, ohne es mit entsprechenden Samples darauf anzulegen, moody, ohne klangliche Weichspüler zu benutzen, hart, ohne die Distortion-Brechstange auszupacken.
Allen gemeinsam ist eine positive, puristische Kargheit, eine gewisse Strenge, der jedes klangliche Lametta fremd ist – nie sind sie überladen, aufgeplustert oder gar überwältigend. Es geht und ging Krust immer mehr um den Flow als um dramatische Breakdowns oder spektakuläre Timestretching-Effekte. Trotzdem oder gerade deswegen stecken seine Produktionen voller mitreißender Energie, in ihrer immer nach vorne rollenden Sturheit, vergleichbar mit den groovigen und von Jaki Liebezeit getragenen besten Songs von Can. Mathias Schaffhäuser
VA – Peach Pals Vol. 3 (Peach Discs)
Shanti Celeste und Gramcry sind nicht nur gute Kumpels, sie betreiben seit 2017 auch gemeinsam das Label Peach Discs. Während es das erste Release des Labels noch auf die Groove CD 77 schaffte, gab es zu Pandemie-Zeiten dann eine erste Compilation mit Demos von Menschen aus dem erweiterten Pfirsichfeld. Die Nachfolge-Ausgabe hatte schon doppelt so viele Tracks und bot einen besseren Einblick in die Perspektive des Labels auf zeitgenössische House- und Technomusik. Vol. 3 bleibt dem Konzept treu, schiebt neue Namen in den Vordergrund und bietet doch den farbenfrohen, facettenreichen Sound, für den Shanti Celeste und auch Peach Discs mittlerweile stehen.
Darauf finden sich gut gelaunte Partystarter (Fernanda Arrau mit „Ritmo Tropical”), blubbernder Microhouse (Keppler mit „Effect”), swingender UK-Garage (Stephen Howe mit „Body Heat”) oder auch perkussiv Angetranctes (Nelson of the East mit „Chiaroscuro”). Grundsätzlich trägt jeder Track ein gewisses Schimmern und freches Augenzwinkern mit sich – so wie man es eben auch von Shanti Celestes Selektionen und ihren eigenen Produktionen gewöhnt ist. Leopold Hutter
Sven Väth – Catharsis Remixes (Cocoon)
Es war schon ein ziemlicher Paukenschlag, als sich zum Jahreswechsel 2022 mit Catharsis nach über 20 Jahren ein neues Album von Sven Väth ankündigte. Schließlich symbolisiert Väth seit Anfang der Achtziger wie kaum ein anderer DJ und Produzent Genese und permanenten Reifeprozess elektronischer Tanzmusik in Deutschland und darüber hinaus. Das gemeinsam mit Gregor Tresher produzierte Werk steht für Läuterung, Standortbestimmung und Perspektive gleichermaßen, erst recht, nachdem Väths Retrospektive What I Used To Play wenige Monate später die variablen Einflüsse des Klangkünstlers offenbart hatte.
Mit dem nun vorgelegten Remix-Paket macht Väth den Sack zu und positioniert sein Album, ungleich mehr als die schon hochtanzbaren Originalversionen, im Zentrum moderner Tanzflächen. Den Anfang macht Robert Johnson-Resident Damiano von Erckert mit einer stark balearisch angehauchten Strings- und Piano-Fantasie von „Silvi’s Dream” und gibt den Ring frei für eine inspirierende Mischung aus altbekannten Namen und mit Bedacht ausgewählten Talenten. Die Berliner R&S-Geheimwaffe Benjamin Damage betört bei der Überarbeitung von „Mystic Voices” mit metallischen Percussions und melancholischen Elementen, Robag Wruhme lässt „The Worm” durch ein hochfrequentes Insektengeschwader winden, während Luke Slater mit seinen beiden Planetary-Assault-Systems-Versionen von „Nyx” gewohnt industriell-kraftvoll zu Werke geht.
Aber auch für verspielte Trance-Arabesken ist Väth selbstverständlich immer zu haben. So fühlt man sich bei Mano Le Toughs „Catharsis”-Remix gleichermaßen an Plastikman und Mathew Jonson erinnert, und mit dem spukigen Dauerlauf durch nebelverhangene Herbstlandschaften rundet der Cocoon-erfahrene Winzer/Maler/Musiker Florian Hollerith mit seiner „Silvi’s Dream”-Version diese fabulöse Sammlung ab. Jochen Ditschler
Snippets findet ihr in den einschlägigen Stores, hier geht’s zur Platte auf Bandcamp.
Orpheu the Wizard – The Sound of Love International 005 (Love International)
Das im kroatischen Tisno abgehaltene Festival Love International ist wohl eines der wenigen seiner Zunft, das sowohl Ansprüche von Nerds und Liebhaber:innen obskurer Musik genauso befriedigen kann wie die gemeiner Partygänger:innen – dank eines Teams um ausgeprägte Selektoren und DJ’s DJs wie Orpheu The Wizard aus den Niederlanden. Sein spezieller Anspruch liegt unter anderem darin, Weirdes und Verschrobenes auch auf der Mainstage funktionieren zu lassen. Das stellt er auf dieser Compilation-Serie mal wieder zur Schau, die in ihrer Historie schon so manche rare B-Seite zu populären Hits gemacht hat.
Orpheu beginnt die Fahrt mit japanischem Ambient-Trance aus den Neunzigern, arbeitet sich langsam zu atmosphärischen Breakbeats vor und landet schließlich bei frühem House und Electro mit charmanten Vocal-Samples. Leicht schräge, Synth-lastige Oldschool-Tunes prägen die Compilation-Mitte, während Tempo und Energie stetig anziehen. Zum Schluss geht es dann via Trance und Acid schließlich wieder sanft Richtung Dub und Reggae, um die Reise so stilvoll wie stilsicher zu beenden. Leopold Hutter
Thomas P. Heckmann – Legacy (Monnom Black)
Bereits seit 1991 ist Thomas P. Heckmann im Geschäft und steht wie kaum ein anderer für den Facettenreichtum sinistrer elektronischer Tanzmusik. 32 Jahre, diverse Aliasse und drei Labelgründungen später ist es an der Zeit, auf ein Œuvre zurückzublicken, dass es schafft, Düsternis, Witz und Groove auf der Tanzfläche zu vereinen, und damit seit Jahren nicht an Relevanz verliert.
Für die Retrospektive, die unter dem Titel Legacy auf Monnom Black erscheint, hat der Meister persönlich 23 Tracks aus seinem Katalog kuratiert, wobei 17 davon auf drei Vinylscheiben gepresst sind und die restlichen 6 digital beiliegen. Natürlich dürfen die üblichen Klassiker wie „Amphetamine”, „Himmel und Hölle” oder „Tanzmaschine” nicht fehlen, aber auch ein paar unbekanntere Stücke wie beispielsweise das verträumte „Parnophelia” unter dem Alias Drax Ltd. II oder die Acid-Spielerei „Spectral Emotions” haben es auf die Compilation geschafft.
Insgesamt ist die Platte, wie zu erwarten, durchgehend Dancefloor-tauglich, wobei das Repertoire von Synthesizer-Nerd Heckmann sehr divers daherkommt und von EBM-inspirierten Vocal-Chants über trancige Grooves bis zu hartem Techno keine Wünsche offenlässt. Eine beeindruckende Reise durch mehr als 30 Jahre Musikgeschichte, die die Vorfreude auf die nächsten 30 schürt. Till Kanis
VA – XXIV – The Compilation (Freude am Tanzen)
Das Label Freude am Tanzen ist mittlerweile 24 Jahre alt. Wow! Gratulation, endlich erwachsen! So klingen auch die Produktionen auf dieser Compilation, die nach drei einzelnen Maxis nun auch noch gebündelt erscheinen.
Anfang der Nullerjahre erfand das Label mit den Wighnomy Brothers den mitteldeutschen Minimal-House. Heute streut kein Geringerer als Gerd-Janson-Mitstreiter Phillip Lauer, der die zweite Generation hessischer Houseproduzenten repräsentiert, freshen Italo-House à la UMM mit Pariser Neunziger-Deep-Acid-Referenzen ein („Janitors”). Safe, Alter! Und d.m.s. schlendert im rund hinkenden Groove von Reclooses Cardiology direkt von Frankfurt in die Civil-Rights-Blaxploitation-Funk-Westside Chicagos. An die Anfangstage von Freude am Tanzen erinnert Effgee. Der Hamburger pumpt den dreckigen Soul-Shuffle-Kompressoren-House in Detroitberliner Tradition, als gäbe es noch das Label Ladomat aus Hamburg. Kein Wunder, Freude am Tanzen aus Jena ist in etwa gleich alt. DJ Kriton vom Ladomat-Act Nettohouz, erster House-DJ des Tresor, hätte „Lost My Things (In The Club)” in Dauerschleife gespielt. Mirko Hektor