Chill Pill IV (Public Possession)

Seit 2019 erscheint jedes Jahr gegen Ende August eine neue Chill Pill, pünktlich zum Jahrhundertsommer 2022 liegt jetzt die vierte Ausgabe der Compilation-Reihe vor. Ausgangspunkt ist zwar nach wie vor ein imaginäres Ibiza der Siebziger- und Achtzigerjahre, doch mit Chill Pill IV klingt Public Possessions Balearic-Revival-Serie gegenwärtiger denn je. Mood-Master Johan Norling alias DJ City eröffnet den Reigen der 19 Tracks: „Race Point” trifft den Vibe des hitzermatteten Reggae-Club-Tracks der frühen Achtziger exakt, Movulangos „Beautiful Mess” sekundiert mit Cosmic-Dub-Feeling. Tatsächlich ein R’n’B-Song ist „Hypnotized (I Believe)” von Nalan feat. Walter P99 Arkestra – Kategorie: Instant-Hit. Abgeschossener Vogel: der Italo-8-Bit-Hip-Hop von Simone De Kunovic („W³”).

Nice Girl leitet wieder zum Trackschema über, Eden Burns steuert mit „Quokka Rock” einen Midtempo-Dancefloor-Schieber mit verwaschenen Acid-Lines bei. Fabelhaft: das instrumentale „Do You Remember The Name Of This Song”. Das südkoreanische Duo Salamanda knüpft mit „Truffles Sprinkles” an den japanischen New-Age-Ambient der Achtziger an. Bella Boo verfolgt dagegen ihre Neunziger-UK-Breakbeat-Interpretation weiter. Ausreißer aus dem Relax-Modus: „I Dream” von DJ Gigola, ein fiebriger Dancefloortrack mit voranpeitschendem Beat und Spielkonsolensounds. Entdeckungen gibt es auch, allen voran Ciutats grandios übersteuerte Bossa-Wave-Ballade „Sabor A Mi”. Zudem die Französin La Copine De Flipper und den aus Shanghai stammenden Shā Mò. Tatsächlich Ambient, allerdings ungefähr in der Mitte zwischen George Duke und Ry Cooder, kommt von Stiltz/Rowley. Weiteres Highlight der zweiten Hälfte: Kean Farrars DIY-R’n’B-Tune „Out Of My Head”. Grandioser Ausklang: die perkussiv-schwebende, an Jan Schulte erinnernde Klangmagie des Münchner Producers Popp. Wie immer eine Wundertüte, als Download oder auf CD erhältlich – so oder so muss der Inhalt nun wieder für ein Jahr ausreichen. Apropos: Eine Vinyl-Box mit den vielen lediglich digital verfügbaren Tracks zum Mini-Jubiläum 2023 wäre ein feiner Schachzug. Harry Schmidt

Ciao Italia – Generazioni Underground Volume 2 (Rebirth)

Was ist aus der guten Laune geworden? In Berlin hat sie seit Ewigkeiten keine Rolle mehr gespielt, seit zwei Dekaden, oder vier, oder fünf, wird hier der Karneval in schwarzen T-Shirts zelebriert. Und sonst wo? Ob Frankfurt, Leipzig, Wien oder Zürich, der gesamte deutschsprachige Raum wirft ironisierend den Sveni-Shrine als Referenz in die Runde, sobald auch nur die erste Silbe von „Gute” aus einem sprechenden Mund hervorschwebt.

Nichts dagegen, alles gut, so drogeninduzierte Über-Abfahrt. Doch nach so langer Zeit des Gute-Laune-Monopols ist es schön, wenn andere Gesten, Interpretationen, Rituale der guten Laune auftauchen. Passierte vor einem Jahr, hieß Ciao Italia. Und wurde zu Recht begeistert aufgenommen. So begeistert, dass Rebirth Records nun mit der zweiten Ausgabe kommt.

Und wie schon die Erstausgabe erinnert Ciao Italia – Generazioni Underground Vol. 2 daran, wie die frühen bis mittleren Neunziger so waren. Eine Ursuppe waberte durch die Clubs und sollte sich erst später auflösen in all die Untergenres wie Broken Beats, Drum’n’Bass etc. Und es gab eine Aufbruchsstimmung in den westlichen Demokratien, bedingt durch den Untergang sozialistischer Länder wie DDR, Polen und dann auch der UdSSR. Inwieweit dieser utopische Optimismus narzisstisch war oder nicht, ist andernorts durchzuspielen, jedenfalls färbte diese Stimmung auf die Clubkultur ab.

Wie in „Parfume 1” von Riviera Traxx scheint immer irgendwo ein Licht durch, in Form von kaskadierenden Flöten-Synthies oder gleich einer echten Flöte wie auf „Anjuna’s Dream” von Anjuna feat. Cirillo. Baia Club mit „Shine On” treiben das Taghelle noch einen Dreh weiter in Richtung Kitsch, bleiben jedoch so verspielt und -spult, dass es kein Stören daran geben kann. Weitere Hits, und es gibt ohnehin nur Hits hier: „Flutride” von Exotica mit tiefer Bassline, abstürzenden Streichern und Cocktail-Attitüde sowie „Tell Me” von Vienna im Innerspace-Mix, eine kosmische Techno-Reise. Damit dürfen wir also anhalten an einem anderen Schrein, dem für die Laune des italienischen Untergrunds. Christoph Braun

Cocoon Compilation T (Cocoon Recordings)

Auf Cocoons Buchstaben-Compilations stellen Sven Väth und Label Manager Edgar Dirksen die Acts vor, die in ihren Augen im vergangenen Jahr besonders viel bewegt haben. Bei der 20. Ausgabe setzen sie allerdings eher auf eine Reihe klassischer Producer, die sich immer ein wenig im Hintergrund gehalten haben. Der ab Mitte der Neunziger auf Labels wie Djax-Up-Beats präsente irische Vordenker des Detroit-Sounds, Stephen Brown, verbindet slicke Tech-House-Grooves mit träumerischen Soundscapes, 20:20-Vision-Veteran Carl Finlow überträgt eine Drexciya-Komposition in einen durch und durch eigenständigen, miniaturartigen Klangkosmos.

Noch unerwarteter erscheint The Emperor Machine, dessen verspielter, poppiger Electro-Jam lebendig klingt wie Tracks aus der Glanzzeit des Briten in den frühen Zweitausendern. Erwartbarer Denis Horvat und Jonathan Kaspar, die den Cocoon-Zusammenhang repräsentieren. Horvat bricht eine hymnische Tech-House-Nummer mit einer ungewöhnlichen, humorvollen Note, Kasper zersetzt einen slicken Disco-Stomper mit einem komplett gestörten White-Noise-Break. Die beste Nummer kommt von Daniel Avery: „Your Future Looks Different In The Light” verbindet bretternde Chicago-Snares mit ungewöhnlich digital daherkommenden Indie-Befindlichkeiten. Alexis Waltz

FDP (Live From Earth)

Nein, der Titel dieser Compilation zollt nicht einer aus unerfindlichen Gründen bei jungen Leuten beliebten neoliberalen Sechs-Prozent-Bastion des deutschen Parteiwesens, sondern vielmehr per Akronym einem N.W.A.-Song Tribut. Wer’s auf Anhieb nicht versteht: Parallel zu FDP haut Live From Earth auch eine Klamottenkollektion raus, auf deren Artikel brennende Fortbewegungsmittel der deutschen Polizei und/oder „ACAB” beziehungsweise „1312” gestickt werden. Weil solcherlei Repräsentationspolitik für Cash mindestens zweifelhaft wirkt, werden die Erlöse aus den Verkäufen an die Initiative KOP Berlin für Betroffene von Polizeigewalt gespendet. So weit, so wohlvertrautes, in Warenform verpacktes politisches Statement eines Unternehmens im Spätspätkapitalismus.

Die Compilation, eher Addendum zum Textil statt eigenständige Zusammenstellung, verzichtet indes mit Ausnahme von MCR-Ts Track auf politische Aussagen. Stattdessen wird weitgehend wortlos vor allem vom Feiern erzählt, bisweilen aber auch wortgewaltige Selbstbefeierei betrieben. Eurodance-Zerhackstücklung, Techno-Rap, Singsang-Acid, Detroit-Techno-Referenzen, Mr.-Fingers-Huldigungen, zum Abschluss Trance mit Säuselgesang. Alles irgendwie jeweils toll, von spannenden Artists eigensinnig vorgetragen und gut zusammengestellt, im Kontext aber bezeichnend unbekümmert. Widerspruchslose Charity-Aktionen mögen ein Ding der Unmöglichkeit sein, im Falle von FDP klafft die Diskrepanz zwischen wohlmeinender, um Aufklärung bemühter Absichten und flashiger Produktpalette schmerzhaft offensichtlich auf. Kristoffer Cornils

RAW Summer Hits III (RAW)

Summer Hits von RAW geht so: Ballerbuben dürfen sich aus ihrer Bravo-Jugend einen Song aussuchen, durch Ableton schleifen und ratzfatzigen Triolentechno rausbiegen. Ob Missy Elliott, Britney Spears oder Kylie Minogue – was in den Nullern auf Hochglanzpostern deine Pubertät begleitet hat, lässt sich in einen Techno-Edit pressen. Wieso? Weil’s fucking Spaß macht! RAW, die Irgendwas-zwischen-Label-und-Veranstaltungsreihe aus Paris, lädt deshalb zum dritten Jahr in Folge Techno-Artists ein, Guilty Pleasures in den Betonmischer zu gießen. Das klappt bei ausgefallenen Picks von Mark Broom, CJ Bolland und Under Black Helmet besser als bei Nummern, die einfach nur Stahlträger über das Popgerippe knallen. Was Björk zu der mutwilligen Kaltverformung von Myler sagt, ist jedenfalls nicht bekannt. Die Sleaford Mods dürften sogar happy sein, das Koks des kleinen Mannes im Sechs-Minunten-Format unter die Nase gerieben zu bekommen. Und Narciss und die Heartstrings: Wie immer Legende! Wer immer noch über Summer Hits III von RAW haten will: geht’s scheißen! Christoph Benkeser

Vorheriger ArtikelCici – Groove Podcast 347
Nächster ArtikelClubcommission: „Wir gehen mit einer riesigen Angst in den Herbst”