Das aus einem Kunstraum und einer Eventreihe entstandene Berliner Label Undogmatisch gibt sich ähnlich geheimnisvoll und barock, immer für eine erfreuliche Überraschung gut, in einem offen verstandenen Bereich zwischen Neoklassik, Elektronik, Sound Art und Komposition. So offen, dass Labelkurator Mirco Magnani und der niederländische Bassist und Elektroniker Andrea de Witt mit Toretam Tor (Undogmatisch,  8. November) eben ein faszinierend freundliches Stück dunkel-romantischen Ambients hineinstellen können, ohne aus dem Programm zu fallen. Sieben kurze Stücke mit langem Nachhall. Sie wirken einfach, ohne viel von ihren Geheimnissen preisgeben zu müssen.

Die EP AvA (Reflektor Records) des niederländischen Duos Amy Root bearbeitet ähnlich den Obengenannten die nicht so kleine Kerbe des schwer romantischen, doch farbenfrohen Post-Club-Ambient. Die beiden Produzenten aus den Haag schieben allerdings gerne noch den einen oder anderen von Techno abstrahierten Beat unter ihre Großraum-Electronica, die im Soundverständnis irgendwo zwischen Extrawelt, Apparat und Nicolas Jaar liegt. Das ist selbstverständlich unmittelbar einleuchtend und eher nicht so subtil, gibt der spätherbstlichen Kälte aber noch eine bereits melancholische eingefärbte Resteuphorie mit auf den Weg.

Unmittelbar einleuchtend zurück in den Club geht All Hours (Ninja Tune) der britischen Produzentin Anz – und geht doch schöne Umwege über Electro- und Electronica-Klassik, UK-Garage, Jazz-Breaks und Vocal-House der New-Jersey-Schule und vieles mehr, das direkt für unnostalgische Brit-Rave-Freude und guten Hüftschwung sorgt. Oder noch mehr für avanciertes Mitwippen, denn der deftige Groove wird nie ganz gerade, nie ganz straight der Clubfunktionalität unterworfen.

In nächster Nachbarschaft spielt die üppige EP In The Sweetness of You (Because Music, 19. November) der Berliner Produzentin Logic1000. Angebrochene Brit-Rave-Beats und samtener Vocal-House treffen sich im slick transparenten Designer-Sound einer avantgardistischen Kuchen-Café-Bar (siehe das geniale Cover).

Den Kopf im neonroten Trap-Firmament, die süße Erinnerung schwelgt im Brit-Rave, die Füße bewegen sich zu postglobalen Beats aus vergangenen nostalgisch-verlorenen Rave-Zeiten in UK und, ganz neu, ganz jetzt, dem südlichen Afrika. 96 Back aus Manchester ist ganz schön rumgekommen für sein jugendliches Alter, zumindest im Kopf. Love Letters, Nine Through Six (Local Action, 5. November) bewegt sich erstaunlich souverän und locker zwischen diesen Welten. Die Musik dieses jungen Typen hat mehr gesehen, mehr erlebt, mehr erfahren und besitzt mehr Wissen über die Welt und alles andere, als es ihm eigentlich möglich sein müsste.

Gleiches gilt für die furiose EP Anyway (Hyperdub, 5. November) der Produzent*in Fiyahdred (ehemals Bamz), die die Beats ihrer Homebase im Süden Londons, von Dub und Grime über UK Garage bis Dubstep, als global annimmt und mit den akutesten Styles aus dem Süden Afrikas und Ostasiens abgleicht, bis eine brillant-frische Essenz entsteht, abstrakter Funk in kristalliner Produktion und höchstem Reinheitsgrad zum konkreten Schütteln von was du hast.

Die britische Vielfachkünstlerin (Performance, Komposition, Piano, Sounddesign) Akiko Haruna stellt sich auf Be Little Me (Numbers, 19. November) experimentell glücklich zwischen die Zeiten, Genres und Stile. Der eine Neo-Gabber-Post-Hardcore-Track auf der üppigen EP kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ansonsten viel lieber die ephemeren Bruchstücke zartester R’n’B-Abstraktionen, flüchtigster Vokaldekonstruktionen und fernster Post-Club-Erinnerungen gen Firmament schweben. Schwerelosigkeit ist eine Kunst. Aber Stillhalten ist eben auch eine Kunst. Gerade für eine gelernte Tänzerin.

Moderne Electronica, die sich in Kopf und Körper beweglich zeigt, kann es eigentlich nicht genug geben. Die Kollaboration von Michelle Samba & Phil Mills findet diese abschweifende Umtriebigkeit in polterndem Tribal-Techno und befreitem, kleinteiligen Geklöppel, das genauso oft bollern darf, wie es schweigen kann. Kombiniert mit retrofuturistischen Pads und verstolperten Dunkel-Rhythmen aus Cyber-Step und Hard-Vapor, zeichnet das pastellige Debüt PLATOO (YUKU, 18. November) der beiden vermutlich aus den Niederlanden kommenden Produzent*innen eine höchst erfreuliche Unzuordenbarkeit aus, die sich selbst keine Grenzen setzt und doch innerhalb vieler Zusammenhänge einpassen würde.

Die ausladende, unendliche Folge der Compilation-Reihe Paradisia Vol.∞ (Gang of Ducks) interpretiert Electronica als Überlagerung von traditionell verstandenem, von Fourth World und Environmental Music informiertem und inspiriertem Ambient mit aktuellen Club-Abstraktionen und zeitgemäßen Tribal-Sounds. Die Auswahl des italienischen Labelbetreibers und DJs Sabla verzichtet bewusst auf die großen Namen und gibt Newcomer*innen die Chance einer Wieder- und Neudefinition des Genres. Es bleibt spannend zu verfolgen, was aus den einzelnen Beitragenden wohl werden wird. Die 16 hier versammelten Stücke sind jedenfalls ein feines Dokument des Aufbruchs und ein tolles Versprechen.

Wo das Leben eben so hinführt. Mariá Portugal, studierte Kommunikationswissenschaftlerin und Komponistin, Vokalistin und Free-Improv-Schlagwerkerin aus São Paulo, lebt zur Zeit in Duisburg, of all places. Auf ihrem ersten zwischen Deutschland und Brasilien produzierten Album EROSÃO (Fun In The Church, 12. November) finden die unwahrscheinlichsten Kontakte organisch zusammen. Elektroakustik, freie Improvisation und brasilianische Popmusik münden in ein sanft psychedelisches, teilelektronisches Singer-Songwriter-Album, bei dem zum Glück gar nicht entschieden werden muss, ob hier eine alte und neue Avantgarde beinahe normale Pop-Songs beunruhigt, oder eine überaus wagemutige Künstlerinnenpersönlichkeit einen extrem gelungenen Ausflug in Pop-Gefilde gemacht hat. In jedem Fall ein interessantes Stück Musik.

Vielleicht etwas naheliegender in der Ferne ist es, als vorwiegend elektronisch arbeitende Radiomacher*in und Produzent*in in Berlin zu landen. Bei Sasha Zhakarenko hat sich der Umzug aber höchst offensichtlich gelohnt. Ihre Produktivität ist jedenfalls explodiert. Etwa in das Sound-Art-Performanceprojekt Aseptic Stir, vor allem aber in das Projekt Perila, das in den zwei Jahren seit 2019 von sparsamst befüllten Düster-Techno und Dub-Räumen sämtliche Beats und Dub-Anmutungen verloren und sich zu höchst subtilen wie fragilen Ambient-Soundscapes entwickelt hat, die gar nicht mal immer so düster sein müssen. Es ist die konsequente Diskretion der minimalistischen Synthesizerflächen und der im fernen Dunst verschwimmenden oder ganz ohrnah knispelnden Samples, die 7.37/2.11 (Vaagner/VAKNAR) in aller Bescheidenheit herausragend macht.

Was für Memories of Log (Vaagner/VAKNAR) von Perila & Ulla nicht weniger gilt. Die jüngste EP der schon bewährte Fern-Kollaboration Zhakarenkos mit der US-Amerikanerin Ulla Straus ist nicht weniger zart, zurückhaltend und in aller Simplizität immer tiefenwirksam und komplex. Das muss dann eben gar nicht immer synthetisch oder nach Ambient klingen, es kann auch mal jazzig swingen, oder sich anhören wie eine dieser knisterrauschenden Dekonstruktionen von Soul und Jazz, die Jan Jelinek gerne macht(e).

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