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Motherboard: November 2022

Wie klassische Electronica machen und doch von den ewig gleichen, alten Neunziger- Ausdrucksformen wegkommen? Die Langzeitberlinerin Hermione Frank alias rRoxymore scheint die Geheimformel gefunden zu haben. Vielleicht weil sie nicht von IDM oder Glitch ausgeht, sondern von Clubmusik, von Techno, House und Dubstep, und diese abstrakt macht, ohne ihnen die Funktionalität komplett zu entziehen. Die EP Perpetual Now (Smalltown Supersound, 4. November) erscheint konsequenterweise auf einem Jazz-Label und nimmt sich die Freiheit, in einen unauffällig freundlich vor sich hinzwitschernden Krautsynthesizer-Track ein Free-Form-Tröten-Intermezzo einzubauen, oder Breakbeat-Techno und Footwork soweit runterzukochen, dass sie wie Ambient schmecken und die Reste an der Küchendecke zu Vaporwave kondensieren. Es sind nur nur vier Stücke, die können aber jeweils so viel wie anderswo ganze Alben. Diese Qualität des Durchlebten in Kombination mit einer außergewöhnlich transparenten und detailverliebten Produktion dürften der Grund sein, warum rRoxymore über die Jahre so selten und wenig veröffentlicht hat.

Nadia Peter aus Lugano hat sich ebenfalls lange Zeit genommen, als DJ und Veranstalterin in der Schweiz und Italien gearbeitet, bevor sie im vergangenen Jahr mit ihrem Projekt Perpetual Bridge an die Öffentlichkeit ging. Der synthetische Space Ambient ihrer selbstverlegten Debüt-EP Upon The Deep bewegte sich noch im Rahmen des Genres, war aber bereits ein hörbares Versprechen von etwas Spannendem, Neuen, was nun das Debütalbum Astral Departures (Everest Records, 28. Oktober) massiv einlöst. Ein frei zwischen Weltraum-Ambient und krautiger Electronica, zwischen Post-Vapor und Dreampunk flirrendes Werk, dem man den langen und sorgfältig durchdachten und durchlebten Entstehungsprozess ebenso anhört wie den Hintergrund in Clubmusik und Experimentellem, jeweils deutlich abseits des Üblichen.

Der polnische Minimal-Techno-Pionier Jacek Sienkiewicz hat sich von Beginn an und nicht nur nebenbei den weniger funktionalen Aspekten elektronischer Clubmusik gewidmet. War anfangs Techno noch klar im Vorteil, hat sich das Verhältnis seit einer Handvoll Jahren umgekehrt. Obwohl er noch hin und wieder Dancetracks produziert, liegt sein Fokus auf der Entwicklung eines beatlosen Post-IDM-, Post-Glitch-Sounds, der die Konventionen des Genres strikt zu meiden sucht. Auf Pristine (Recognition, 7. Oktober) ist das auf die bislang überzeugendste Weise gelungen. Klar, es erinnert gelegentlich an das Warm-Glitch-Idiom von Taylor Deuprees Label 12K oder an die Gamelan-Techno-Experimente des Japaners Kuniyuki. Aber letztlich ist das eine ganz eigene freie elektronische Musik, die gerne mal zum gerade polternden Beat zurückfindet. So viel Freiheit muss schon sein.

Wie die Zeit vergeht (Pt. I): Schon fast 25 Jahre her, dass Uwe Zahn mit seinem Projekt Arovane den Shoegaze abstrahierte und dabei eine füllige, textursatte Dark-Electronica aus analogen Synthesizersounds erfand. Mit 12K-Labelmacher Taylor Deupree, mindestens ebenso lange im Geschäft und ebenso ein Sound-Nerd, erfolgt nun die konzeptuelle und virtuelle Kollaboration. Eine, die Sounds des Vintage-Synthesizers C15 von Nonlinear Labs, den beide besitzen, als Ausgangspunkt nimmt für die feinherben, selbstverständlich vor Textur und kleinsten Klangevents überbordenden Drones von Skal_Ghost (12K, 4. November).

Wie die Zeit vergeht (Pt. II). Schon fast 25 Jahre her, seit Stefan Betke mit seinem Projekt Pole den Dub abstrahierte – und das ganz wörtlich verstanden als Abnabeln von den kontextuellen und kulturellen Bindungen an Reggae. Stattdessen angekoppelt an maschinelle Technologie, an den glitchenden Groove defekter Technik (wie den namensgebenden Polfilter) mit seinerzeit angesagtem quasi-anonymen und seriellen Design und einem Lo-Fi-Sound, der extrem ausgefeilt in höchstes Hi-Fi gewendet wurde. Was hat sich inzwischen geändert? Gar nicht so viel. Die Cover sind bunter und die Tracknamen weniger einsilbig, aber die Prozessierung elektronischer Verfahrensfehler und defekter Technik (hier ein Minimoog) bildet noch immer die Ausgangsposition, von der aus Tempus (Mute, 18. November) zeitvergessene Dub-Schleifen zieht. Loops, die nicht immer als Dub erkennbar sind, aber doch da herkommen. Also nochmal abstrahiert und darin ein Stück weit ins Konkrete gewandert, in die Welt eingebettet.

Wenn es um das Weiterdenken und Fortentwickeln zeitgemäßer Formen von Ambient und Sound Art geht, ist Sawako seit mehr als 20 Jahren eine kontinuierliche (leider in den vergangenen Jahren etwas seltener gewordene), stabile Quelle für Innovation und Inspiration weit über Japan hinaus. Ihr Sound war und ist permanentem Wandel ausgesetzt, und doch gibt es unmittelbar wiedererkennbare Konstanten in ihrer Arbeit, die von puren Field Recordings über Deep Listening, glitchige Elektronik und warme Drones zu J-Folk reicht. Es waren immer die lose zusammengefügten Strukturen, die zerbrechlichen Sounds am Rand von Stille, die ihre meist kurzen wie lose dahingeworfen wirkenden, aber im Detail doch meisterlich konzipierten und ausgeführten Stücke ausmachten. Eine universelle Zartheit, ja Zärtlichkeit gegenüber Sound. Diese einzigartige musikalische Stimme, diese nicht-invasive, anti-aggressive Art von Schönheit ist auf Stella Epoca (12K, 4. November), ihrem ersten offiziellen Solowerk seit knapp zehn Jahren, sofort und wunderbar präsent. Die hochtechnisierte wie abstrahierende algorithmisch-generative Produktionsweise der Stücke mindert diese Schönheit keineswegs.

Richtig weit gekommen ist Christina Vantzou, deren Reihe an durchnummerierten persönlichen Alben die Geschichte einer musikalischen Emanzipation rekonstruiert sowie eine kreative inspirationelle Explosion. Was vor knapp zwölf Jahren als relativ zahme und konservative Neoklassik begann, ist mittlerweile bei No. 5 (Kranky, 11. November) angelangt – definitiv „Not in Kansas anymore”, wo Vantzou geboren wurde. Konzipiert, komponiert und aufgenommen auf zwei griechischen Inseln in der Ägäis und den Kykladen im Seuchenjahr 2020, markieren die Stücke eine neue Einfachheit in den Strukturen und eine neu-alte Archaik in Sounddesign und Skalen. Sie Zeugen von einem Selbstbewusstsein, das Skizzen und gute Ansätze als solche stehenlassen kann, wenn nötig und sinnvoll. Denn wirklich simpel oder trivial sind Vantzous Kompositionen nie, sie können und wollen viel mehr, schreien es aber nie heraus. Diese Art des Leiseseins, diese bewusste Zurückhaltung erfordert nämlich immenses Selbstbewusstsein, das hier von jedem Ton gerechtfertigt wird.

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