Die Freiheit und Offenheit atmende Elektronik, die der japanische Produzent Haioka Shintaro solo produziert, hat interessanterweise fast von Beginn an auf dem hiesigen Neo-Disco-, Cosmic-, und Balearic-Outfit Emerald & Doreen stattgefunden. Ein ganz schönes Stück Weg muss er vom Electro-J-Pop seiner Band Bremen zu den Sounds des jüngsten Albums Aru (Emerald & Doreen), gegangen sein. Pop, Trap und Beatz spielen zwar eine Rolle, aber ebenso eine dezidiert japanische Ästhetik, die sowohl den Kankyô-Ongaku-New-Age der Achtziger reflektiert wie auch ältere, traditionellere Stilistik.

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Die New Yorker, in London lebende Produzentin Veronica Lauren veröffentlicht als vhvl topmoderne Electronica, die immer wieder eine interessante Vergangenheit aufzeigt, seien es die Blockparty-Hip-Hop-Breaks ihrer alten Nachbarschaft in den Five Boroughs, krautiges Analogsynthie-Geblubber, kleine IDM-Beats oder eben die japanischen Ambient-Achtziger, die genauso anklingen dürfen. Schön, dass sie mit hem/sew (RVNG Intl.) nun endlich eine renommierte, langreichweitige Plattform für ihre sehr eigene Vision moderner Beatarbeit jenseits des Clubs gefunden hat.

Der Londoner Produzent und DJ Francesco Cucchi hat nicht unerheblich zur Beliebtheit von Gqom und anderen modernen afrikanischen Clubmusiken in Europa beigetragen. Als Nan Kolè hat er diese Beats selbst produziert, als FR4NCESCO in Richtung kühler Abstraktion verschoben und verkleinert. Sein jüngstes Alias Blu Ritual schiebt mit Field Recordings und Sprachsamples noch eine weitere Sinnebene zwischen spacigen Synthesizer, Electro-Bässe und Beats. Letztere sind noch als solche erkennbar, erinnern an das Genre, aus dem sie ursprünglich stammen, bekommen auf Insects (Identities, 5. November) allerdings eine neue Bedeutung, die sich eher jenseits verschwitzter Clubnächte abspielt.

Der in den USA lebende Brasilianer Ricardo Donoso verfolgt seit ungefähr 15 Jahren und ebenso vielen Veröffentlichungen mit erstaunlicher Konsequenz eine Sound-Politik der Schwere und Dichte, die erstmal via Überwältigung und Selbstaufgabe funktioniert. Was Donosos Arbeiten aber immer interessant machte und sich auf Progress Trap (Denovali, 5. November) wieder in athletischer Bestform präsentiert, sind die reichen wie vielfältigen Texturen unterhalb des derben Bass-Geballers (das hier sowieso öfter mal Pause machen darf). Es eröffnen sich spannende Dark-Ambient-Welten ungeahnter dunkler Schönheit.

Wie zeitgenössische Ensemblemusik – ich scheue mich, es Neoklassik zu nennen, weil es in diesem Fall so viel mehr ist und kann – in kleiner Besetzung klingen kann, wenn sie die Ohren offenhält gegenüber Populärem wie gegenüber Spielerisch-Experimentellem, führt das grandiose Revolver (Unsounds) der australischen Komponistin Kate Moore beeindruckend vor. Pulsierende Minimal Music und wehmütiges Cello müssen keine Gegensätze sein. Es ist daher keineswegs verwunderlich, dass das Album aus einer Auftragsmusik für ein Tanztheater heraus entstand. Wo sonst treffen statisch schwebende und dynamisch bewegte Körper und Klänge so selbstverständlich aufeinander.

Die Komponistin und Performerin Olivia Block bewegt sich in den Szenen ihrer Stadt Chicago seit einigen Jahren souverän zwischen den Sphären von Sound Art, Performance, Free Jazz und Elektroakustik. Jedes neue Werk ist eine Überraschung in Form und Stil, was für die Lockdown-Arbeit Innocent Passage in the Territorial Sea (Room40, 19. November) ganz besonders gilt, wagt es sich doch mit Hilfe halluzinogener Pilze in die verhältnismäßig popaffinen Territorien von glazialem Ambient und pulsierendem Drone. Allein schon die Instrumentierung mit Synthesizer und Mellotron sorgt für einen freundlichen Höreindruck. Schon erstaunlich, was so ein psychedelischer Trip in die eigenen Innenwelten alles bewirken kann.

Blocks im Sommer erschienenes 20-minütiges October, 1984 (Longform Editions) rekurriert auf Field Recordings und endet in einem gleißenden Orgel-Drone. Das subtile wie effektvolle Arrangement lässt ebenfalls keine Wünsche offen. Ein absolut erstaunlicher Ohrenöffner auch dies.

Lange Drones in subtiler Bestform, hat jemand Celer gerufen? Natürlich darf Will Longs Projekt an dieser Stelle nicht fehlen, schon gar nicht wenn es endlich mal wieder auf Vinyl erscheinen darf wie das delikate Sunspots (Oscarson/Two Acorns, 26. November) nun in deutlich erweiterter Form. Wobei sich hier der jüngst beobachtete Trend zurück zu kürzeren Stücken fortsetzt. Kein Track über zehn Minuten, und doch jeder gegen die Unendlichkeit schwebend.

Apropos Drone, eines der letzten beeindruckenden Konzerte vor den Corona-Jahren war für mich das Duo des Japaners thisquietarmy mit dem Duisburger Drone-Gitarristen N. Diese temporäre Kollaboration endete in einer Recordingsession, die zu einem separaten Album führen wird. Eines der live improvisierten Stücke wurde dabei allerdings nicht berücksichtigt, sondern als Rohmaterial zur Bearbeitung an Freund*innen und Kollaborateur*innen weiter gegeben. Diese „Remixe” gibt es nun auf dem Tape Zerstoeren (Midira, 26. November) zu hören. Ein Fest in Lo-Fi.

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