Wenn Weggehen oder Dableiben kein Thema ist, werden die Reisen in den Nahbereich oder gleich ins Innere verlegt, wie Portugals Avantgarde-Literat Fernando Pessoa im Buch der Unruhe so brillant dargelegt hat, kann im richtigen Modus schon eine Fahrt in die Vorstadt mit der Tram zu einem tieferen Erlebnis werden als eine Weltreise. Dullmea & Ricardo Pinto aus Porto begeben sich auf Orduak (Dullmea, 25. November) ebenfalls auf einen Trip ins Unbekannte, spärlich ausgeleuchtet von Dullmeas und Pintos digital vervielfachten, als Instrument eingesetzten Stimmen auf sparsam disruptiver Elektronik.

Ambient-Produzent*in, antirassistische Aktivist*in und Pilzzüchter*in, das ist eine Vita, die sich das Motherboard nicht passender hätte ausdenken können. Und die klanglichen Myzelien, die Early Fern produzieren, sind adäquat feinfühlig, von exquisiten Nährstoffen durchwirkt, zart und umwelt- wie geschichtsbewusst, nicht weniger, als es eigentlich immer sein sollte. Das Tape Place of Rest (Métron Records, 10. November) referenziert nicht zufällig auf die Lo-Fi-Electronica von Emily Sprague und Green-House. Es ist mindestens so schön und einfach (einfach schön) wie deren jüngste Arbeiten.

Ein tiefes Bewusstwerden für die innere und äußere Ökologie der Menschen und der Erde zeichnet ebenfalls das episch-meditative Sometimes underwater (feels like home) (Commend There, 4. November) der New Yorker Sound-Art-Künstlerin C. Rena Anakwe alias A Space For Sound aus. Aus klassischen prädigitalen Ambient-Zutaten, von Gamelan, afrikanischen und japanischen New-Age-Klängen inspiriert, treiben die bis zu 20-minütigen Steel-Drum-Explorationen des Albums jegliche Anmutung von Esoterik oder Wellness aus dem New Age. Es ist letztlich ein deutlich formuliertes Manifest des Anthropozän, das dennoch Innerlichkeit, Bewusstheits- und Körperpraktiken verschiedenster Formen zulässt und begrüßt, von Meditation über Yoga zu   Entspannungstechniken der Resilienz – zum kontextfreien Wellness-Soundtrack kann es dennoch nie werden. Offenheit und Bewusstheit machen doch den allerbesten Sound.

Die Londonerin Flora Yin-Wong reibt ihre Stücke gerne in den ungemütlicheren Sound von schartigem Glas, rauen Oberflächen und offenen akustischen Wunden. Heilung und Hoffnung sind jedoch immer intrinsisch vorhanden und offenbaren sich früher oder später. Das gilt in besonderem Maße für die in Covid-Isolation in einer Hütte im ländlichen Wales entstandene EP The Sacrifice (First Light Records, 16. November). Im gewittrigen crunchy Noise der vier Tracks sind zarte Folksongs verschüttet, ihrer glücklichen Ausgrabung harrend.

Exzellente Idee übrigens, Fire-Toolz’ Mega-Opus aus dem vergangenen Monat zusätzlich in einer Version ohne Vocals anzubieten. So dringlich Angel Marcloids prozessierte Gesänge sein mögen, ihre digital krassifizierte Lieferung lenkt eventuell davon ab, wie unglaublich ausgefeilt, durchdacht und wohlfühlig die darunter liegende musikalische Begleitung doch ist. Diese imaginierten Weather-Channel-Jingles wie IDM-Chill-Pillen, wie sie die Achtziger beschwören und doch so jetztig sind, wie es nur geht. Eternal Home [Instrumentals] (Hausu Mountain, 19. November) ist daher ein essenzielles Album.

Fein, hackedepiciotto haben es nach all den Jahren auf eine Plattform mit richtig großem Wirkungskreis geschafft. Noch erfreulicher, dass Danielle de Picciotto und Alexander Hacke für ihr Major-Debüt The Silver Threshold (Mute, 12. November) konsequent bei ihrer sympathischen Idee von dunkler, meditativer Pop-Elektronik geblieben sind. Einem Sound-Universum, das mit dem Kopf und dem Körper schwerstens in Ambient steckt, ohne Vergangenes gänzlich vergessen zu haben. Also Lieder von leichter Liebe und schwerem Kopf. Zum Tanzen und Schwelgen. Das Album ist gerade nicht die Schnittmenge von Ocean Club und Einstürzenden Neubauten, Love Parade und Crime & The City Solution, sondern etwas viel Besseres.

Die Kölnerin mit dem schönen Alias Sonae hat das Spektrum ihrer Ausdrucksformen gehörig erweitert in den vergangenen Jahren. Von reduzierter, eher konventioneller Electronica über dunklere Spielarten von Ambient und grummeligem Prä-Feier-Techno alter Kölscher (Profan-)Schule und neo-neuem Post-Feier-Techno zur avancierten Sound Art, ein bittersüßer, harsch-schöner Kommentar zum Anthropozän und seinem Unbehagen. Summer (Laaps) führt mit eingewebten Samples und den von Sonae schon bekannten Sounds die Solastalgie, den Druck der zuletzt (mit Ausnahme dieses Jahres) viel zu heißen, zu trockenen, einfach zu krassen hiesigen Sommer in einen Soundtrack, der die Schönheit trotz-allem, die Lässigkeit trotz-allem, das entspannte am Sommer, trotz-allem, nicht vergessen hat. Summer Videopremiere auf groove.de:

Ebenfalls in Köln, aus einer anderen Generation und einer anderen alten Schule, nämlich der von freidenkerischer Elektronik, Avantgarde-Pop und Anti-Rock, von Siebziger Kraut zu Achtziger Post-Wave verfolgt Produzent und Studiobetreiber Michael Springer alias Phanton auf Bagufoshe (Phanton) vorbildlich undogmatisch und in handwerklicher Perfektion. Angeschrägelte Vocal-Schnipsel, luftige, vollanaloge Produktion, holziges Geklöppel wie von Midori Takada und kleine Beats, die sich immer knapp nicht zu richtigen Songs verdichten, sondern im offenen Freien bleiben. Ich glaube, ich muss doch mal wieder den Trommeltanz hören, den Gummitwist ja eh.

Cluster Lizard, Berliner Duo der Ukrainer Dmytro Fedorenko and Kateryna Zavoloka, beziehen sich in ihrer Interpretation und Ausformung eines experimentellen Beinahe-Club-Post-Technos auf Star Corsair (Prostir) auf das gleichnamige Science-Fiction-Werk des ukrainischen Autors und Menschenrechtsaktivisten Oles Berdnyk. Im detailversessen retro-dystopischen Sound des Albums finden die freiheitlichen Space-Utopien Berdnyks einen spannenden Resonanzraum.

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