Eine Field-Recording-basierte Sound-Art-Arbeit als einseitig bespieltes Vinyl auf einem Label, das sonst eher für Electronica und Pop bekannt ist. Das ist mutig, macht aber im Falle des 16 Minuten dauernden Stücks Espacio del Soledad (Karaoke Kalk, 26. November) der deutsch-chilenischen Künstlerin vieler Medien Paula Schopf (die man in Berlin und anderswo eventuell eher unter dem Alias Chica Paula kennt) total Sinn. Es geht um das Fremde und das Eigene, um Heimat, Identität und Nähe.

Field Recordings im weiteren Sinne sind ebenfalls das Kernthema zweier aktueller Compilations. Da wäre einmal das vom britischen Promoter, Veranstalter und Klang-Archivisten Nick Luscombe kuratierte Fieldwave, Vol.2 (Nonclassical, 5. November), das Arbeiten von Klangökolog*innen, wie von Musiker*innen versammelt und die Zugehörigkeit der Stücke zur Kategorie Dokumentation, Sound Art oder zu einem Genre von Musik ganz locker übergeht und verschwimmen lässt. Es sind einfach total interessante Klänge. Nicht weniger. Nie weniger.

Cable A Tierra (Flower Myth Records) ist zugleich Soundtrack zu einem Dokumentarfilm wie eine Compilation bearbeiteter und bespielter Field Recordings aus der chilenischen Atacamawüste, spezifisch von den dort in extremer Abgeschiedenheit, Einsamkeit und der Abwesenheit von groß- oder kleinstädtischer Lichtverschmutzung stationierten Observatorien, die tief in das Universum hineinschauen und -lauschen – und wie die Stücke dieses Albums Spannendes finden.

Sound Art der denkbar freiesten Spielart praktiziert die ebenfalls in Berlin lebende Australierin Felicity Mangan. Ihre eher rar gesäten Veröffentlichungen erschienen offenbar gezielt auf so geschmacksicheren wie konzeptuellen Plattformen, die in dieser Kolumne seit jeher favorisiert werden, etwa Mappa Editions oder Longform Editions. Mit Bell Metal Reeds (One Instrument, 4. November) fügt Mangan ihrem Katalog ein weiteres kozeptbasiertes Favoritenlabel hinzu. Als das eine ausschließliche Instrument, welches die Veröffentlichung verlangt hat Mangan eine Mundharmonika gewählt, die massiv digital-elektronisch bearbeitet zu ungeahnten Klängen zwischen pulsierender Minimal Music und sanftwarmem Drone befähigt wird. So erwächst aus der Strenge und Reinheit des Designs eine üppige, dicht besiedelte Soundlandschaft von immer angenehmer Textur.

Die finnische Komponistin und Vokalistin Johanna Elina Sulkunen ist bestens in der experimentellen Improv-Szene Kopenhagens situiert (während des pandemischen Lockdowns wohl nur halb freiwillig). Ihre Arbeiten funktionieren ebenfalls über Grenzen hinweg und zwischen Stilen. So nutzt Terra (Tila, 30. November) die Konventionen der Neoklassik über die Instrumentierung mit klassisch besetzen Streichern wie die Freiheiten des Jazz und das tiefe Verständnis von Klang und seiner Reproduktion der elektroakustischen Komposition. In einen größeren Zusammenhang spiritueller wie solastalgischer Erfahrung eingebettet – es geht um unseren Umgang mit der Erde und mit uns selbst als Menschen – entfaltet dieses eher experimentell und speziell daherkommende Album doch eine immense Wirkung, zeigt globale, globalisierte Größe.

Der kanadische Komponist Saman Shahi bewegt sich ebenfalls recht lässig zwischen den Sphären von Jazz und Komposition (und wie Breathing in the Shadows vom vergangenen Jahr beweist, kann er sogar hochdramatische zeitgenössische Opernwerke zu Beinahe-Pop machen). Microlocking (People Places Records, 19.November) geht dagegen von nur lose vorgegebenen melodischen Strukturen aus, die von den Interpret*innen jeweils improvisatorisch-kompositorisch auf diversen Instrumenten umgesetzt werden. Vom Piano-Ensemble, Akkordeon, Hackbrett über eine E-Gitarre zu verschiedenen Synthesizer-Konstellationen werden jeweils die Klangfarben der eingesetzten Werkzeuge von versierten Instrumentalist*innen in Klangbereiche weit jenseits des Klischees geführt.

Das kanadische Duo City & i.o bringt mit einem Industrial-Elektroniker und einem Metal-Schlagzeuger Erfahrungen aus dem eher extremen Spektrum des klanglichen Ausdrucks zusammen. Interessant ist das, weil sie zusammen eben nicht nur harschesten Power-Noise mit Power-Drumming machen, sondern leise, ja beinahe zart können – und so etwas wie Pop. Das passiert auf Chaos Is God Neighbour (Éditions Appærent, 1. November) besonders dann, wenn sie Gäste wie Dis Fig oder x/o aufnehmen, die beide ihr jeweils deutlich verschiedenes radikales Sound- und Songverständnis einbringen. Auch so geht Freiheit.

Die Festtage rücken unerbittlich näher. Zeit für die kleinen Retrospektiven und großen Reissue-Boxen. Heuer besonders gelungen und zeitig kommt The Tyranny of Fiction (Waveshaper Media, 19.November), das die vier Alben Electron Music, Shore Leave, Nautilus und Rue du Poisson Noir des Synthesizer-Wizards Allen Ravenstine versammelt. Dieser dürfte vor allem als Keyboarder der Rock-Avantgardisten Pere Ubu bekannt sein, hat aber offenbar im zweiten Leben eigenwillige und sehr zugängliche, auf ganz andere Weise experimentelle Klänge produziert, als seine Hauptbeschäftigung vermuten lässt. Ein Doppelleben in New Age, Ambient, und meditativer Neoklassik.

Wenn Coldcut & Mixmaster Morris aufrufen, exklusive Stücke oder spezielle Remixe für einen richtig groß aufgelegten moody Ambient-Electronica-Mix beizusteuern, dessen Erlös auch noch einem guten Zweck dienen soll, lässt sich wohl niemand lumpen, da kommen die Beiträge zahlreich und prominent. Die 29 Stücke von @0 (Ahead Of Our Time, 19. November) sind aber breit und informiert genug ausgewählt, es bekommen eben nicht nur die super solide abgehangenen Peers eine Chance. Im Rahmen der ziemlich Sound-optimistisch daherkommenden Compilation sind auch „jüngere” Positionen möglich und erwünscht. Erfreulich genug, dass so altgediente Produzenten wie Coldcut noch ein Interesse an Neuem und Experimentellerem haben.

Interessant, dass sich die altgedienten IDM-Electronica-Recken von The Black Dog nochmal so weit aus ihrem bestens eingeübten Sound herauswagen wie auf Music For Photographers (Dust Science Recordings, 12. November). Als Soundtrack zu den in zwei Fotobüchern zusammengestellten Bildern der Bandmitglieder begleitet das Album die postindustrielle brutalistische Architektur ihrer nordenglischen Heimat, die in Brutal Sheffield und Brutal Yorkshire wunderbar plattenbautrist und betonromantisch dokumentiert und ästhetisch gemacht ist. In Stücken, die auf Samples verzichten, auf Vocals, größtenteils auf Beats und Strukturen – alles relative Neuerungen für The Black Dog. Stattdessen fokussieren sie sich auf feinste Details im Sound, auf Textur in betongrau. Das ist definitiv eine Errungenschaft im Bandsound. In der Fülle der beinahe eineinhalb Stunden Musik sind die besten und zartesten Ambient-Stücke zu finden, die sie je gemacht haben.

Ebensowenig hätte ich erwartet, dass IDM-Electronica-Altstar Uwe Zahn alias Arovane nun ebenfalls Brücken in die experimentelleren Regionen von Ambient und Sound Art baut. Reihen (12k, 19. November) entsinnt sich definitiv noch der strengen Tugenden von Zahns Arbeiten, die um die Jahrtausendwende herum entstanden, nimmt aber einen Großteil der Lautstärke und Härte aus den prozessierten Sounds, so dass etwas Flüchtiges wie Zartes übrig bleibt. Eine höchst erfreuliche Entwicklung. Es ist nie zu spät, Neues zu versuchen, zumal wenn es so gut glückt wie hier.

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