Foto: Frank P. Eckert

Toll, wie rapide die Reichweite der experimentellen Popmusik der Léonie Pernet expandiert und explodiert ist in den kaum drei Jahren seit ihrem Debüt für das Paris-Berliner Label Infiné. Kein Wunder allerdings, denn Pernets einzigartige Verknüpfung eines tiefen Verständnisses von Techno und DJ-Kultur mit einer selbstbewussten Bezugnahme auf urbane Bedroom-R’n’B-Styles und einem unfehlbaren Instinkt für Timing, Zurückhaltung und Überwältigung, auf die Zwölf gehen und Pausieren, Krawall und Stille (nennen wir es der Einfachheit halber Ambient) hatte Crave zu einem gleichermaßen abenteuerlustigen wie anschlussfähigen Stück Popmusik gemacht. All diese Tugenden sind auf Le Cirque de Consolation (CryBaby/Infiné, 19. November) noch intensiviert und mit einem Verständnis maghrebinischer wie südafrikanischer Beats und Styles euphorisch geworden. Melancholie weiterhin, aber outgoing, Ohren und Augen öffnend.

Und das ist noch lange nicht alles. Die gerade erschienene Soundtrackarbeit H24 (Infiné) zur gleichnamigen, seit Ende Oktober auf Arte laufenden Serie fügt Pernets Sound noch weitere, hier weitgehend instrumentale Facetten zu. Die 24 Kurzfilme porträtieren je 24 Stunden in je einem von 24 Frauenleben, die, jeweils fiktionalisiert von Schauspieler*innen eingesprochen und eingespielt, ein komplexes wie fragmentarisches Bild modernen urbanen Lebens (und den damit immer einhergehenden Residuen von Ungleichheit und sexualisierter Gewalt) ergeben – zusammengehalten und im Kontext präsentiert von Pernets zurückhaltenden, aber eben immer Ohren und Augen öffnenden Sounds.

Die experimentelle Popmusik der japanischen Sängerin und Produzentin Noah entwickelt sich ebenfalls permanent weiter. Auf der EP Étoile (Flau) nun von japanischem Urban-Pop und Glitch-R’n’B in ungeahnt technoide Gefilde und wieder zurück zu etwas, das an Trip-Hop aus Neoklassik erinnert, sich aber doch ganz anders anfühlt, nämlich frisch und modern.

Mit NTsKis Orca, dieser sensationell gelungenen Expansion von urbanem J-Pop in eine hochspannende Rekonstruktion der Achtziger, wie es sie nie gegeben haben kann, nicht mal auf der Ginza in Tokio 1986, hat das Brooklyner Label Orange Milk diese Saison schon einen Glücksgriff mit Zeug zum AOTY im Programm, und mit dem Debüt des Israelis Ilai Ashdot legen sie nochmal mächtig nach. Dieser zieht ebenfalls die Rekonstruktion von aktuellem Hyperpop und K-Pop Mainstream vor die Dekonstruktion semihistorischer Post-Vapor- oder Late-Internet-Styles. Und doch sind diese prägend für MAXIMAL LIFE (Orange Milk, 5. November) werden allerdings durch Ashdots nur wenig digital verfremdeten wie kehllautreichen hebräischen Gesang nachhaltig irritiert. Sehr interessantes Ding. Der Mainstream von morgen, wieder mal?

Der Kanadier Radwan Ghazi Moumneh ist in mancher Hinsicht das musikalische Gewissen der postkolonialen Welt, immer komplex, immer ambivalent, von traditionellen Elementen und digitaler Destruktion gezeichnet. Jerusalem In My Heart, gemeinsames multimediales Projekt mit der kanadischen Filmemacherin Erin Weisgerber, beschäftigt sich auf Qalaq (Constellation) unter vielem anderem mit den noch immer sichtbaren, aber vor allem spürbaren Zerstörungen und Wunden, die nach der Explosion im Hafen von Beirut die Stadt bis heute zeichnen. Die mittlerweile bekannte und perfektionierte Konfrontation von klassisch arabischem Gesang, einer prozessierten Buzuq, Feldaufnahmen und digitalem Glitch in granularer Filterverwesung und digitaler Alterung mit Weisgerbers modernistischen Bildcollage hat auf dem fünften Album noch an Intensität und Dringlichkeit gewonnen. Kein Wunder, denn die Welt brennt.

Mikkel Valentin Dunkerley betreibt in Kopenhagen das Tape-Label Janushoved, das trotz der viel zu limitierten Tonträgerauflage noch viel öfter in dieser Kolumne erwähnt werden müsste. Wegen des tollen, enigmatischen, antikisierenden Designs und wegen der konstant unglaublich hohen Qualität der Veröffentlichungen, die allein dieses Jahr mit Gersemis Ajna, mit Xuris Bedlam of Salt und dem massiven Labelsampler Star Dancer mindestens mal drei Kolumnenfavoriten erzeugt hat, von den grandiosen Alben von Violence of the Fauve, Hercegovina, Mareld oder Ballista ganz zu schweigen. Nun hat mit dem Großwerk Vestiges of Nature (Janushoved, 25. November) Dunkerley selbst als Internazionale noch einmal einen Anwärter auf die Auszeichnung Album des Jahres ins Rennen geschickt. Eine perfekt ausbalancierte Dreiviertelstunde zwischen schwerem Ambient, pathosgeladenen Fanfaren, leichter Electronica und massivem Breakbeat-Geknatter. Zwischen erhaben hohem Ton, knusprigem Noise und milder Melancholie.

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