DeForrest Brown Jr. alias Speaker Music (Foto: Joseph Frantz)

Der Soundtrack, der das Wiedererstarken der Black-Lives-Matter-Bewegung im letzten Jahr begleitete, war vielfältig. Was elektronische Musik anbetrifft, brannte sich besonders Black Nationalist Sonic Weaponry mit seinen Collage-artigen, verschachtelten Beats ins Gedächtnis. Verantwortlich dafür ist Speaker Music, ein Alias des amerikanischen Künstlers, Autoren und Musikers DeForrest Brown Jr.

Seine Musik fasziniert aber beileibe nicht nur, weil sie Politisches verhandelt. Speaker Music erschafft eine eigene Version von Techno, fernab des Four-To-The-Floor-Primats – und das mit erstaunlich basalen Mitteln, wie Brown Jr. unserem Autoren Jan Goldmann verraten hat.

Das Gespräch berührt aber mehr als die musikalische Ebene: Brown Jr. wirft Fragen auf: Woher kommt Techno wirklich? Welche identitätspolitischen Konnotationen gehen insbesondere in Bezug auf afroamerikanische Kultur mit dem Genre einher? Und: Wer hat die Zukunft erfunden?


Im Oktober 2019 stellt sich DeForrest Brown Jr. für einen Vortrag auf dem Krakauer Unsound Festival auf die Bühne. Der interessierten Hörer*innenschaft über zeitgenössische elektronische Musik eröffnet er: „Techno is black and everybody shut up!”. Brown Jr. erzählt das nicht, um zu beeindrucken. „Ich habe einem Haufen Leute direkt in ihre Gesichter gesagt, sie seien Rassisten und könnten unmöglich etwas davon verstehen, diese Musik, mit der sie seit 20 Jahren Geld verdienen, zu bewerten.”

Ein Gespräch mit Brown Jr. über Musik ist kein Gespräch zwischen Nerds, die sich einen Schlagabtausch von Meinungen über modulare Synthesizer, die perfekte Bassdrum oder das Für und Wider von DAWs liefern. Es ist politischer. Theoretischer. Historischer. Sehr direkt, nicht beschönigt und ehrlich. „Elektronische Musik wird irgendwann einen Crash erleben”, sagte er in einem anderen Vortrag, „denn diese Szene ist nicht nachhaltig.”

„Well, it’s Speaker Music.” So fängt Brown Jr. an, seine Musik zu beschreiben. Irgendwann werde er sich das schon schützen lassen, ergänzt er trocken. Ganz so einfach ist es aber nicht. Der amerikanische Musiker, Kurator, Journalist und politische Theoretiker, der seine Musik unter dem Alias Speaker Music veröffentlicht, hat recht viel zum Thema Techno zu sagen. Und hat vor allem ein deutlich fundierteres Bild zur Frage, was Techno denn eigentlich sei. Eine Frage, die mit Sicherheit in vielen großen europäischen Szenestädten zuhauf heiß diskutiert wird. Ist Berlin nun die Hauptstadt des Techno? Welche Rolle spielt Detroit? Und: wird es jemals wieder so sein wie in den 90ern, dem vermeintlichen Gründungsjahrzent des Genres? Verliert das Berghain seinen Mythos? Wann können wir wieder raven? Was hat es eigentlich mit vorne links auf sich?

Speaker Music DeForrest Brown by TingDing
Foto: Ting Ding

Ein solcher Fragenkatalog, der genau so aus einer Berliner, Londoner oder Amsterdamer WG-Küche stammen könnte, hat für Brown Jr. aber reichlich wenig mit der Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung von Techno zu tun. Die Geschichte hinter der Musik fängt für ihn früher an und hängt stark mit der amerikanischen, oder um noch genauer zu sein, mit der afroamerikanischen Vergangenheit zusammen. Starke Zusammenhänge sieht er mit dem seit den 1920er Jahren aufkommenden Jazz. Auf Jazz wird er sich in unserem Gespräch noch häufiger beziehen. Auch seine Musik wird er noch als elektronischen Jazz bezeichnen. Aber was genau meint er damit?

Es ist fesselnd, Brown Jr. beim erzählen zuzuhören. Er holt immer wieder aus, schweift ab und kehrt zurück. Man könnte ihm stundenlang zuhören. Die physische Distanz zwischen uns drosselt das allerdings: Er sitzt in New York vor seinem Computer, ich in Berlin. Aber selbst durch das leicht verpixelte Zoom-Fenster scheint es nichts zu geben, was er unerwähnt lassen möchte.

Juan Atkins, der oft als The Godfather of Techno bezeichnet wird, hat ebenfalls viel aus dem Jazz extrahiert. Als er in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren den Techno „erfand”, so erzählt Brown Jr., habe er versuchen wollen, die Musik der Detroiter Jazz-Ensembles nachzuahmen. Nur mit den Möglichkeiten, die sich ihm boten. Etwa mit einer Roland 808. „Und ich versuche wiederum, etwas ähnliches zu machen.” 

Vieles seiner Arbeit hat damit zu tun, was der britische Musiker Kirk Degiorgio als Pre Techno History bezeichnet. Das, womit sich viele nicht beschäftigen wollen, so Brown Jr. „Die 500 Jahre an Trauma und technologischer Entwicklung, die in Amerika separat von Europa passierten.”

Speaker Music DeForrest Brown by TingDing 3
Foto: Ting Ding

Er bezieht sich viel auf einflussreiche, schwarze Techno-Pioniere aus den USA, vor allem aus Detroit. Auf die Geschichte und das Leid der von der weißen Oberschicht ausgebeuteten schwarzen Bevölkerung. Generell spricht er wenig über sich selbst. Es wirkt so, als sähe er seine Arbeit nur als eine Fortführung des Werks anderer, als eine Art „Update”, wie er selber öfter sagt. 

Four-To-The-Floor: Ein Missverständnis in der Techno-Historie

Das, was viele Leute heutzutage unter Techno verstehen, die Four-To-The-Floor-Beats, das ist da, um die Leute auf der Tanzfläche zum Drogen nehmen zu animieren, zum Rausch. Dabei ist der Four-To-The-Floor-Beat nur ein Ergebnis aus den damaligen technischen Möglichkeiten und verfügbarem Equipment. „Juan Atkins hat seine Musik nicht in einem Club gespielt. Er war in seinem Schlafzimmer”, erzählt Brown Jr. „Oder höchstens auf einem Parkplatz mit ein paar Jugendlichen drumherum, die auf die Beats rappten, die er live auf der 808 oder 909 einspielte.” Man kann ihm regelrecht ansehen, wie genervt oder enttäuscht er ist, wenn er äußert, dass eine gesamte globale Clubindustrie auf einer Fehlinterpretation aufgebaut ist: „Ich meine, wir haben das 21. Jahrhundert, und die Leute benutzen immer noch Four-To-The-Floor-Beats.”

Mad Mike von Underground Resistance hat seine Musik einst als Hi-Tech Jazz bezeichnet. Brown Jr. fasziniert die Mechanisierung vom Jazz, die Idee des Hi-Tech Jazz. Er erzählt, für ein Buch, an dem er arbeite, habe er viel gelesen und recherchiert über Jazz und seine Geschichte. Ab den 1940er Jahren avancierte das Viertel Black Bottom zu einem lebhaften Ort und einem Zentrum der Jazz-Szene Detroits. Auch wenn die Gegend stark von Armut geprägt war, die meisten Anwohner*innen waren afroamerikanische, nicht ausgebildete Arbeitskräfte der großen Autofabriken der Motor City, strömten die Leute in unzählige Bars und Nachtclubs.


„Ich benutze hauptsächlich ein iPad”


Ein gutes halbes Jahr, bevor er sein Album Black Nationalist Sonic Weaponry im Juni 2020 auf dem britischen Label Planet Mu veröffentlichte, saß Brown Jr. in einem Flieger aus Amsterdam, „einer der Hauptstädte des europäischen, finanziellen Kolonialismus”, und las ein Buch des amerikanischen politischen Aktivisten James Boggs. Das Buch enthält Notizen Boggs’ aus der Zeit, in der er selbst einer dieser Arbeiter in den Autofabriken war. James Boggs’ Geschichte ähnelt der seiner Familie, erzählt Brown Jr., ähnelt der vieler Afroamerikaner*innen, die in den 40er und 50er Jahren aus den Südstaaten in den Norden emigrierten, um Arbeit zu finden.

Nach einiger Zeit beobachtete Boggs, dass die Arbeit an den Fließbändern nichts anderes sei als die Arbeit auf dem Feld. Mit dem Unterschied, dass die Arbeitenden hier ein wenig Geld bekämen. Und doch prophezeite er eine unglückliche Zukunft. Er ahnte, dass der nächste Schritt nach dem Fließband die Automatisierung sein muss: „Er sagte: ‚Das haben die schon mal mit schwarzen Menschen gemacht, als sie die Baumwolle pflückenden Sklaven durch Maschinen ersetzt haben, die schneller pflücken konnten.’” Er hält wieder kurz inne: „Techno ist passiert, weil genau das passiert ist.” Viele der Tracktitel vom Album sind auf diesem Flug entstanden. Black Bottom existiert heute nicht mehr. Das Viertel wurde nahezu vollständig abgerissen.

„Das fragt mich nie jemand”, sagt Brown Jr. und lacht. „Freut mich.” Eigentlich ist es doch gar nicht so ungewöhnlich, einen Musikproduzenten zu fragen, was für Equipment er benutzt, denke ich. Denn die Art und Weise, wie er Musik produziert, hat ziemlich viel mit der Aussage seiner Arbeit zu tun, die weit über rein musikalische Inhalte hinausgeht. „Ich benutze hauptsächlich ein iPad”, sagt er zu meiner Verwunderung. Ein iPad? Speaker Music ist schwer in Worte zu fassen. Die Musik klingt experimentell, mit vielen gebrochenen Beat-Patterns, schnell auf- und abfahrenden Tonspuren, vielen gesprochenen Vocals, oft sehr poetisch und emotional vorgetragen.

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Foto: Ting Ding

Schwer zu glauben, dass ein in Kritiken hoch gelobtes Album wie Black Nationalist Sonic Weaponry hauptsächlich mit einem modernen Spielzeug produziert wurde. Aber genau darin liegt ein zentraler Teil der musikalischen Aussage von Speaker Music. Er selbst hat lange als Musikjournalist gearbeitet: „Journalist zu sein, rechnet sich nicht. Zumindest hier in Amerika.” In den letzten zehn Jahren haben 70 Prozent der amerikanischen Journalist*innen ihren Job verloren, offenbart er mir. „Ich habe mir immer vorgenommen, wenn ich dem Journalismus den Rücken kehre, werde ich Musiker. Und zwar so ein Arsch, der dann nur ein iPad benutzt.”

An musikalischem Handwerk mangelt es ihm nicht, er hat seit seinem sechsten Lebensjahr Trompete gespielt. In Konzerten und auf Wettbewerben, auch noch als Student. „Ich sehe all diese Leute in ihren Videos mit einem Haufen Gear, wie sie reihenweise Soundspuren übereinander stapeln.” Er hält kurz inne. „Und das ist schön und gut, aber die Leute drücken auf einen Knopf und denken, sie hätten etwas gemacht.” Das Album Black Nationalist Sonic Weaponry hat er mehr oder weniger in zwei Takes aufgenommen. Die Beats sind alle live selbst eingespielt. „Ich wollte etwas machen, das elektronische Musiker*innen nicht können”, kommentiert er. „Ich wollte es selbst machen.” 


Kraftwerk als die Erfinder der Zukunft zu bezeichnen, ist falsch.


Mir wird immer klarer, dass das, was Brown Jr. erreichen will, mehr ein politisches und gesellschaftskritisches Gesamtkunstwerk ist als Musik. Vielleicht nicht mal nur Kunstwerk, sondern ein Kommentar, gar ein Aufschrei.

Der Crash wird kommen

In Europa werden häufig weiße Bands wie Kraftwerk oder Tangerine Dream als die Pionier*innen der elektronischen Musik, als Pionier*innen des Techno bezeichnet. Kraftwerk selbst bezeichnen sich in ihren Performances als Man Machines. In einem Artikel im New Yorker verglich Brown Jr. einmal Kraftwerks Assoziation der Man Machine mit schwarzen Sklav*innen, die schon seit Jahrhunderten Maschinen in den Feldern waren. Waren die Elemente von Rhythmus und Musik etwas weiteres, das die White Supremacy der schwarzen Kultur raubte?

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Foto: Ting Ding

„Das ist es doch, was Europa und Amerika machen”, antwortet er. „Europa hat keine Bodenschätze, keine Ressourcen, deshalb reisen sie rum und kolonialisieren, töten und beuten andere Völker aus. Und Amerika ist nur ein Start-Up gewesen. Mit großen Investoren aus Europa.” Er spricht, als könnte er selbst nicht glauben, wie absurd das Ganze ist. Als wäre er beinahe fasziniert davon. „Dann kommen da ein paar deutsche Typen, nehmen sich ein paar Instrumente, die buchstäblich verfügbar waren und besitzen auch noch die Dreistigkeit, sich die Man Machines zu nennen.”

Und das sage er als Kraftwerk-Fan. Kraftwerk als die Erfinder der Zukunft zu bezeichnen, sei falsch. Das ikonische Plattenlabel Motown Records aus Detroit hat schon sehr früh damit begonnen, Popmusik zu konstruieren. „Die haben einfach auf der Straße ein paar Frauen aufgegabelt und gesagt, ihr singt jetzt die Vocals. Und das Gleiche haben sie gemacht mit Gitarristen. Und dann haben sich die großen Produzenten wie Berry Gordy oder Norman Whitfield ins Studio gesetzt und das Ganze zusammengebastelt.” Das Man-Machine-Orchester von Kraftwerk war später. „Kraftwerk hat die Zukunft nicht erfunden. Sie haben die Zukunft gesehen.”

„Es wird einen Crash geben.” Brown Jr. erklärt, dass das, was wir gesehen haben in den letzten 30 Jahren, ein Siegeszug der Kolonisierer gewesen sei. „Und deshalb nenne ich die Berliner Technoszene, nenne ich die britische Technoszene, nenne ich die holländische Technoszene Kolonisierung. Hier und jetzt.” Und der Crash kam. „Menschen klagen darüber, dass die Clubs geschlossen sind, obwohl über zwei Millionen Menschen gestorben sind an einer Krankheit, die die Wissenschaft nicht in den Griff kriegt und deren Erreger schneller mutieren, als wir mithalten können.” Er schweigt kurz. „Aber wir brauchen unsere Four-On-The-Floor-Beats.”

Brown Jr. möchte, dass sich Europäer hinsetzen und über die letzten 30 Jahre nachdenken. Sich fragen „Warum zur Hölle habe ich jemals Drogen genommen? Woher kamen die Drogen? Woher kam diese Musik?” 1989 fordert Ronald Reagan Michail Gorbatschow auf, die Mauer zu öffnen und droht mit einem nächsten Krieg. „Die Mauer fällt, und alle denken sich, ‚Lasst uns zu dieser schwarzen Musik tanzen, die auf einmal aus dem Nichts aus den Radio-Stationen kam!’” Als Brown Jr. laut eigenem Bekunden herausfand, dass es in der ursprünglichen Location des Tresors einen Tunnel gab, der zu dem Ort führte, an dem sich Adolf Hitler vermutlich das Leben nahm, kam ihm zuerst in den Kopf: „Leute, was macht ihr da? Was ist das?”


Am 7. Oktober präsentiert DeForrest Brown Jr. sein Buch Assembling A Black Counter Culture im Berliner HKW samt eigenem Live-Set und DJ-Sets von Lakuti und Mark Ernestus.

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