Eine andere Möglichkeit, den Neoklassik-Klischees zu entkommen ist strukturbefreiter Wohlklang. Feines und angenehm zielloses Klimpern und Klappern, wie es zum Beispiel vom Ambient-Pionier Harold Budd vorgemacht wurde. In Perfektion beherrscht dieses aktive Ausweichen, wenn mal eine penetrante Melodie in den Weg kommt, der litauische Nachwuchskomponist Julius Aglinskas. Das nicht geringe Kunststück dabei ist, die Schönheit der Klänge zu behalten. Vom schmalen Grat zwischen belangloser Lieblichkeit und aufdringlicher Melodieseligkeit nie abzurutschen, sondern eine schwebende Spannung zwischen diesen Abgründen aufrecht zu erhalten. Das Album Daydreamer (MIC Lithuania), eingespielt vom Londoner Neue-Musik-Ensemble Apartment House, geht den Pfad mit traumwandlerischer Sicherheit. Superwunderschön ist das.

Was immer gut geht, ist, die Neoklassik zu elektronischem Pop werden zu lassen. Die Australierin Madeleine Cocolas kann das schon richtig gut. Ihre Stücke basieren meist auf Ambient-Ideen, wiederum in Anlehnung an den Piano-Impressionismus von Harold Budd, verdichten sich aber früher oder später zu zarten Electronica-Songs, die vor Beats und Bässen keine Scheu haben. Ihr extrem ausgefeiltes Quasi-Debüt auf dem Pop-Sublabel von Room40, Ithaca (Someone Good, 8. Mai), ist einfach viel zu lässig, sonnenwarm und körperbetont, um es nicht zu mögen. Perfekt, ohne dass wirklich festzuklopfen ist, worin die Qualität dieser Stücke eigentlich genau liegt.

Der Franzose Pierre Rousseau bezieht sich ebenfalls direkt auf die musikalische Entwicklungslinie, die von Erik Satie zu Harold Budd führt, von Klassik zu Ambient. Sein Debüt Musique Sans Paroles (Beats In Space) wickelt sich aber noch deutlich tiefer in ein vollelektronisches Sounddesign aus warmen Analogsynthesizern und kleinen Beats. Wie der Titel andeutet, geht es ihm gerade um das, was nicht gesagt werden muss, was nicht ausgedrückt werden will.

Und ein beinah perfektes Piano-Album im tatsächlich neoklassischen Verständnis gibt es heuer dann doch noch. Piano Mirage (AY Records, 18. Mai) ist das erste selbstverlegte Album der akademisch ausgebildeten kasachischen, in Italien lebenden Pianistin Angelina Yershova, das wirklich Neoklassik im herkömmlichen Stil sein möchte. Wo doch ihre ersten fünf Alben, die in kurzer Folge in den vergangenen Jahren erschienen waren, alles andere wollten und konnten, vor allem Elektroakustik, Electronica, Breakbeats, Dub und Trip-Hop mit pianistischer Virtuosität zu verbinden. Ihre aktuelle Sammlung kleiner Pianostücke beglückend einfacher, aber reichhaltiger und wohlkomponierter Klaviermelodien, hier und da von zarten Streichern begleitet, bedient zwar eindeutig das Genre, nimmt sich aber zum Glück wieder die Freiheiten heraus, die man von ihren bisherigen Arbeiten kennt. Zum Beispiel Jazz und in der kleinen Form Soundtrack.

Lost In Emotions – Angelina Yershova (AY Records) from AY records on Vimeo.

Die Musik des Franzosen Sylvain Chauveau stellt in gewisser Weise den ultimativen Gegenpol zu allem dar, was in dieser Ausgabe des Motherboard vorgestellt wurde. Life Without Machines (FLAU) ist kurz und extrem minimalistisch am Piano. Kleinstkompositionen in der Tradition von Morton Feldman und John Cage aus fast nichts, aber von maximaler Wirksamkeit. Als Vertonung der extrem minimalistischen Konzeptkunst von Barnett Newman aber nur konsequent. 

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