(Foto: Frank P. Eckert)

Vielleicht ist der Lockdown bereits zu Ende, wenn diese Kolumne erscheint, oder die Stellschrauben der Restriktionen werden gerade erst so richtig angezogen. Jedenfalls gab es unmittelbar nach dem Ausbruch eine erfreuliche Vielzahl hoffnungsvoll stimmender Reaktionen, begleitet von jeder Menge frei von finanziellen Restriktionen zugänglicher Musik. Aus der Vielzahl der Kompilationen zum Zwecke der emotionalen Gesundung und Hilfe in der Not möchte ich für den Anfang zwei hervorheben: Healing Sound II (Past Inside The Present) mit fast 50 unveröffentlichten Stücken vorwiegend amerikanischer Ambient-Produzent*innen, deren Erlös der NGO Feeding America zugute kommt, und die freien Solitary Hymns (Vaagner), auf der die Hausproduzenten des Berliner Labels ihre musikalischen Kommentar zur Lage abgeben. Beide Sammlungen sind auf der ruhigsten Seite von Ambient angesiedelt und tatsächlich mehr als geeignet, diesen sonnenhellen und doch emotional dunklen Zeiten Trost zu spenden.

Nicht nur Tocotronic geben Hoffnung. Definitiv ein First Responder in der Krise war die enigmatische Russin, die sich – wohl in Anlehnung an Figuren aus Lewis Carrolls Alice’s Adventures in WonderlandAlice Dodo nennt. Ihr selbstvertriebenes Album Empty Shelves (Alice Dodo) ist bereits Mitte März erschienen, nimmt die Gegebenheiten mit heiterem Ernst auf und setzt sie in moderne, mild-würzige Electronica um, die von Synthesizer-Zwitschern bis zum elektrischen Postrock alles drauf hat, was das Genre erfordert. Eine tolle Arbeit, der man den Schnellschuss-Charakter zu keiner Zeit anhört und die in jeder anderen Situation ebenfalls zum Motherboard-Favoriten geworden wäre.

Sowieso kommt die frischeste Electronica zur Zeit offenbar bevorzugt aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Etwa von der in Moskau lebenden Maria Teriaeva, die ihre Stöpselkunst an edlen Modularmaschinen auf Conservatory of Flowers (Hidden Harmony, 15. Mai) komplett in den Dienst hibbeliger wie wohldurchdacht maximalistischer Ambient-Songs alter Schule stellt. Harte Zeiten erfordern harte Musik? Eben nicht! Sondern humanistische, sonnenwarme Synthesizerklänge aus ungebrochenem Optimismus.

Den strahlt Room for the Moon (RVNG Intl., 12. Juni) nicht weniger aus. Das dritte Album der ebenfalls in Moskau residierenden Yekaterina Shilonosova alias Kate NV klöppelt mit heller Freude durch kleinteilige Song-Tracks mit J-Pop- oder Afro-Beat-Note ohne Schatten, ohne Reue. Woher kommt wohl die Grenzen sprengende Euphorie dieser vor klanglichem Optimismus berstenden Stücke? Egal, denn es gilt erst mal und vor allem, diese herzlichen Geschenke an positiven Vibes und ungetrübter gute Laune einfach anzunehmen.

Das Londoner Neoklassik-Label Trestle Records war mit seiner Antwort auf das Social Distancing fast ebenso schnell wie Tocotronic oder Alice Dodo. Mit Leo Abrahams, Sølyst & Simon Fisher Turner haben sie drei ihrer prominentesten Musiker aktiviert, die erste Ausgabe der auf unbestimmte Zeit angelegten Reihe From Isolation 1 (Trestle) zu bespielen. Und die spannende Kombination aus dem im Pop- und Rock-Mainstream vielbeschäftigten Sessionmusiker Abrahams, dem Kreidler-Schlagzeuger Thomas Klein und Sound-Art-Ästhet Fisher Turner enttäuscht keineswegs. Die erwartbar stabile Kraut-Weirdness der EP lebt von der Lässigkeit, mit der die drei nicht mehr jungen Vollprofis eben mal so perfekte Instrumental-Jams raushauen. From Isolation 2 (Trestle), eine Kollaboration der Ambient-Postrocker Adam Coney, Anders Holst & Duncan Marquiss, agiert noch ruhiger und balsamisch in drei langen, entspannenden Tracks. Die bislang letzte Folge From Isolation 3 (Trestle) von Keeley Forsyth, James Johnston & Ross Downes ist von Forsyths markanter Stimme dominierter Avantgarde-Pop. Exaltiert wie introvertiert, ein kleines Kunststück.

Was Franz Kirmann im Lockdown produzierte, macht ebenfalls Hoffnung. Die kargen Beats von First Broadcast (Bytes, 8. Mai) erzählen eindringlich von Einsamkeit und innerer Unruhe in der Isolation – und wie Kirmann das Bestmögliche daraus gemacht hat. Der Londoner Produzent, der durch die Neoklassik-Dekonstruktion von Piano Interrupted bekannt wurde, hat solo die paradoxe Qualität entwickelt, in keinster Weise wiedererkennbar zu klingen und doch immer wieder schlagartig überzeugend. Sein jüngstes Solowerk nimmt sich Tribal- und Minimal-Techno der Villalobos-Schule und unterzieht sie einer intensiven Entschleunigungskur. Knochentrocken klopfende Percussion-Jams mit ebenfalls radikal vereinsamtem 303-Gezwitscher. Mit Bleeps und Clonks, die, am unteren BPM-Limit von House gespielt, tatsächlich nach Isolation klingen, sich aber darin so frei und ausführlich entfalten dürfen wie sonst selten. Die bereits im Februar erschienene Remix EP (Bytes) zu Kirmanns vorigen Album Madrapour überzeugt nicht weniger. Nicht zuletzt, weil hier Alt-Shoegazer Andy Bell alias GLOK, der sich ansonsten in Remixen und Eigenproduktionen sehr zurückhält, aus dem sehr passenden betitelten Track „Solitary” einen epischen Techno-Trip gebaut hat.

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