Wie mit Katastrophen und Umständen umgehen, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen? Jenseits modischer Begriffe wie Resilienz ist nach innen, in den Körper zu horchen immer eine gute Idee. Der US-Amerikaner Joel Shanahan, der als Golden Donna eher Technoides produziert, hat dafür schon vor Jahren einen treffenden Begriff aus der Medizin geborgt. Nämlich den der Auskultation, dem aufmerksamen Abhören des Herzens und der Lunge mit dem Stethoskop. Shanahan ist einer der Überlebenden des nicht nur für die Musikszene Kaliforniens verheerenden Brandes des DIY-Clubs Ghost Ship in Oakland, eines Safe Spaces für die hiesigen Underground-Zusammenhänge, die über Musik-, Kunst- und LBGTQ*-Szenen weit hinausging. Um III (100% Silk, 15. Mai) unter dem Pseudonym Auscultation produzieren zu können, brauchte Shanahan vier Jahre der Selbstheilung und musikalisch-psychologischen Verarbeitung. Was den überbordenden klanglichen Optimismus des Albums um so erstaunlicher macht. Seine wundervolle Autoren-Electronica könnte wärmer und menschenfreundlicher, allesumarmender nicht sein. Selten so positive humanistische, synthetische Klänge gehört. Ein ungemein wertvolles Gut in diesen so paradox hellen dunklen Tagen.

Einmal quer durch den Gemüsegarten von Electronica und Artverwandtem und noch ein bisschen über den Zaun weg wildern und trotzdem oder gerade deshalb eine tolle Platte machen – der Brite Ross Downes hat das hinbekommen. Kein Wunder, er ist ja sonst auch zwischen den Welten unterwegs. Kunst, Design, Rock, Freie Improvisation und dafür öfter in Resteuropa als im Vereinigten Königreich. Stacked Up At Zero (Trestle, 1. Mai) klingt dafür verhältnismäßig zahm, bespielt (und bricht) die Konventionen von cinematischer, dramatisch dunkler Electronica dafür aber extrem souverän und gekonnt.

Der Berliner Frieder Nagel war bislang vorwiegend hinter den Kulissen der hauptstädtischen Elektronik-Bubble aktiv, als Katalysator und Konnex. Das mag erklären, warum er mit seinen eigenen Klängen auf großen Festivals debütierte und gleich vom renommierten Label Infiné vertrieben wurde. Vor allem aber wirft es ein Licht auf die ungemein ausgefeilte Produktion, die sich detail-optimiert und perfekt ausgearbeitet doch eine hohe Variabilität ihrer Elemente erlaubt. Seine zweite EP Karoshi (Infiné) baut Jazziges, Neoklassisches und Synthetisches mit gebrochenen Techno-Electro-Beats mit einer überlegenen Souveränität zusammen, die andere Erfolgsproduzenten erst nach Jahren und mit Hilfe von Profis wie ihm erreicht haben. 

Dass so manche Elektronik-Künstler*innen über sich hinauswachsen und ihre spannendsten Klänge abliefern, wenn sie für Tanz, Theater oder Film arbeiten, habe ich an dieser Stelle schon öfter angemerkt. Es passiert dann, wenn die kreative Einschränkung der Begleitung, der Soundtrack-Lieferung zu Freiheit mit Nebenbedingungen umgedeutet wird. Es passiert gerade bei superprominenten Aushängeschildern der modernen Tech-House-Electronica wie Âme, Apparat oder aktuell Rone. Der französische Produzent hat sein Sounduniversum für das Tanztheaterprojekt Room With A View (Infiné) perfekt auf den Punkt gebracht. Was zwischen warm-weichem Techno und flirrenden Modularsynthesizer-Patterns so geht, hat Ewan Castex hier in eine perfekte Albumform gebracht. Das ist deswegen so gut, weil er hier auf die offensichtlichen Hit-Tracks verzichtet, ohne hinter sein perfektioniertes Sounddesign je zurückzufallen. Eine Art von Freiheit, die sich hier erschließt und die sich Castex offensiv und proaktiv genommen hat.

Das Irgendwie-am-Ende-von-Rock (aka Post-Post) agierende Trio Talking Book überrascht mit einer interessanten Besetzung und einem nicht unbedingt kommerziellen Erwägungen geschuldeten Release-Plan von etwa einem Album alle zehn Jahre. Der Bassist der Neunziger-Stadionrocker Faith No More, der Sound-Art- und Noise-Komponist Jared Blum und ehemalige Indierocker und jetzige Dub-Abstrahierer Lord Tang haben für Talking Book II (Koolarrow) dramatisch cinematische Electronica in Szene gesetzt, die im angerauten Sounddesign immer tendenziell experimentell daherkommt, aber doch grundsätzlich nach der starken Emotion, nach der Überwältigung im Sound strebt. Und das gerne mit einem leichten Western-Soundtrack Flair.

Das ebenfalls kalifornische PostrockTrio Houses of Heaven ist vielleicht weniger prominent zusammengesetzt, ihr Debütalbum Silent Places (Felte) geht allerdings mindestens genauso bombastisch und angekantet durch die Decke. Der Sound der Weite und Ferne, der mit der instrumentalen Rockmusik aus der Gegend assoziiert wird, bleibt hier von grobem Dub und scharfem Industrial-Gehämmer in einen finsteren Keller verbannt.

Den Klang nach Postrock aus der Wüste, nach Autokino-Nächten und einsamen Cowboys, nach endloser Freiheit, staubigen Zigaretten und schlechtem Bourbon hat sich Kompakt-Bionaut Jörg Burger vorgenommen, in Techno umzusetzen. Der Fortsetzung seiner Kompilationsreihe Velvet Desert Music Vol. 2 (Kompakt)  gelingt das sogar noch besser als dem Debüt im vergangenen Jahr. Die üblichen Verdächtigen aus dem Labelumfeld, allen voran Michael Mayer und Superpitcher, agieren erfreulich losgelöst und ohne den Druck, hier Hits abliefern zu müssen. 

Außerhalb der üblichen Kisten zu agieren ist die Mission der Kompilationsreihe von Beats In Space, die die Londonerin Josey Rebelle mehr als vorbildlich erfüllt. Josey in Space (Beats In Space, 15. Mai) ist ein exzellenter bunter Mix, der moderne Electronica, Spoken Word Poetry, Fringe-House, Warehouse-Techno und britische Bassmusiken, Drum’n’Bass und Post-Anything Step gänzlich frei von musikideologischen Engführungen einfach so zusammenbringt. Wunderbares Ding mit exklusiven neuen Tracks, das zeigt, warum das Format des DJ-Mixes nicht nur in Podcasts, Blogs und freien Downloadplattformen (und aktuell Live-Wohnzimmer-Videostreams) seine Existenzberechtigung hat.

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