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Motherboard: Oktober 2022

Wenn Matmos die Pet Shop Boys der avancierten Elektroakustik sind, dann ist Drew Daniels Alias The Soft Pink Truth ihr Chris Lowe. Also die extrovertiertere, explizit an Tanzmusik interessierte Hälfte des Duos. Und Daniels jüngstes Großwerk geht subtil in die Vollen, wie es subtiler (und voller) kaum möglich scheint. Is It Going To Get Any Deeper Than This? (Thrill Jockey, 21. Oktober) und die Vorab-Remix-EP Was It Even Real? (Thrill Jockey, im August erschienen) schaffen das scheinbar Unmögliche: Den Maximal-Mainstream von Daft Punk featuring Pharrell Williams & Nile Rodgers mit dem Midtown 120 Blues von DJ Sprinkles zu versöhnen, unter ein und derselben Discokugel. Das klingt, wie nicht anders zu erwarten, brillant, ergibt eine samte wie sublim zupackende Sensation. Jede kleinste Nuance des Sounds immens ausgefeilt, die Samples und Vocals perfekt platziert, gerne ganz weit im Hintergrund. Und dabei so einfach, so leicht.

Clubtracks, ja nachgerade Klopftechno mit exzessiven Flächen und Pads im Neunziger-Delfin-Elfen-Style. Das kann ganz böse enden, die Hard-Trance-Trolle lauern an jeder Ecke. Aber es kann ebenso wundervoll und frisch klingen wie im Lavender Palace (100% Silk, 28. Oktober) des Bay-Area-Produzenten Michael Claus. Letztlich entscheidet eben die Produktion, und für die hat sich Claus den Midtown 120 Blues wohl ebenfalls ganz genau angehört. Allein die abgeflachte, gänzlich ihres Punches beraubte Bassdrum ist ein Fest, von den warmen Staubsaugerbässen ganz zu schweigen. Wo, wenn nicht hier liegt die Zukunft von Deep House?

Die Achtziger. Nie waren sie wertvoller als heute. Nie waren sie einfacher zu erreichen oder billiger herzustellen. Und doch: Nie waren sie besser als heute, nicht mal in den Achtzigern. Neon, Noir und Pastell, im Achtziger-Universum von Ultraflex gehören sie zusammen. Das norwegisch-isländische Duo aus Farao und Special-K hommagiert die Dekade der neoliberal eingefärbten Euphorie keineswegs ironisch oder gar satirisch. Sondern in der einzigen sinnvollen Weise, nämlich mit viel Liebe in der Disco. Das zweite Album Infinite Wellness (Street Pulse, 7. Oktober) ist also High Concept, Kunst und so, aber mehr noch lässiger Spaß, mit dem ausnahmsweise (nur dieses eine Mal) einlösbaren Versprechen vom Exzess ohne Hangover – in Pastell und Neon.

Die französische klassische Pianistin Vanessa Wagner agiert seit einigen Jahren als vorbildliche Weltenverbinderin, die es schafft, Musik unterschiedlichster Genres, Welten und Zeiten in einen pianistischen Kontext zu bringen, der ohne Crossover, Fusion oder Hybridisierung funktioniert. Allein durch ihre Interpretation am Klavier, das weder akustisch präpariert, noch elektronisch prozessiert oder im Klang digital aufgebessert ist. Nach Study Of The Invisible kommt mit Mirrored (Infiné, 21. Oktober) bereits das zweite Langalbum in diesem Jahr, in die sie wiederum Ambient (Ryuichi Sakamoto, Sylvain Chauveau) und zeitgenössische Komposition (Nico Muhly, Melaine Dalibert) den Klassikern der Minimal Music, Moondog und Philipp Glass, gegenüberstellt. Von Letzterem sind gleich drei Stücke enthalten, davon zwei „Piano Etudes”.

Ein interessanter Zufall, dass die kanadische Pianistin Vicky Chow die selben Glass-Stücke ebenfalls aktuell neu interpretiert hat: Philip Glass: Piano Etudes, Book 1 (Cantaloupe Music, 7. Oktober) lädt zum direkten Vergleich ein, ohne dass eine Gewinnerin ermittelt werden müsste. Selbstverständlich brillieren Wagner wie Chow in den technisch anspruchsvollen wie rasanten Etüden Glass’ auf denkbar lässige Art. An ihrer instrumentellen Kompetenz besteht jeweils nicht der geringste Zweifel. Die Unterschiede liegen tatsächlich in der klanglichen Ästhetik. Wo Wagner offensiver virtuos und analytisch die Kleinteiligkeit der Stücke ausspielt, jede einzelne Schicht der verwobenen Klänge transparent macht und getrennt hervorhebt, betont Chow eher lyrisch ausgerichtet den Zusammenhalt der Schichten, was unter anderem zeigt, wie sogar Glass’ Etüden als Ambient-Pop funktionieren können, ohne ihren intendierten Charakter als Lern- und Vorzeigestücke zu verlieren.

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