(Foto: Privat)
Die praktisch globale Verfügbarkeit der obskursten hyperlokalen Sounds und Beats, von subsaharischen Mobiltelefonen, kongolesischen C30-Kassetten,
südostasiatischen Feldaufnahmen oder vierzig Jahre alten japanischen Disco-Boogie-Vinylen gezogen, kann bedeuten, dass mit dem Kontext die spezifische
Bedeutung, der Inhalt der Sounds verlorengeht. Was in der Vergangenheit auch bei den wohlmeinenden Aneignungen noch oft genug passierte. Das wären dann Exotismus und kulturelle Kolonisation. Dass das inspirationelle Import-Export-Business anders laufen kann als einbahnig von Süd nach Nord
oder von Ost nach West, ist eine erfreuliche Entwicklung, die in den vergangenen Jahren so manchen lokalen Trend in den globalen Westen und wieder aus ihm hinaus gespült hat. Was erstmal nichts Neues ist; in Afrika wurde zum Beispiel US-amerikanischer Hip Hop schon sehr lange zu sehr eigenen Bedingungen lokal
adaptiert. Tendenziell neu ist, dass dieser Austausch zunehmend ökonomisch funktioniert, sodass die hiesigen Produzent*innen und Labelmacher*innen mehr
verdienen als ein aufmunterndes Schulterklopfen.
Der exzellente erste Vinyl-Release des Tape-Labels Hakuna Kulala zeigt exemplarisch, wie weit diese Glokalisierung der Musikwirtschaft selbst bei experimentell avancierten Post-Club Sounds fortgeschritten ist. Headroof (Hakuna Kulala) von Villaelvin, einer Kollaboration der Wien-Berliner Improv-Vokalistin und Beatproduzentin Elvin Brandhi (Freya Edmondes) mit Musikern und Rappern des
Nyege Nyege-Kollektivs in Kampala, Uganda, setzt ein starkes Zeichen gegen die immer noch ziemlich einseitige Ausbeutung der musikalischen Ressourcen
Afrikas. Es ist der gegenseitige Respekt und ein tiefes Verständnis der Funktion der jeweiligen Sounds, welcher die in Glitch-Collagen kontrastierten Klangmoleküle von Klingelton-Trap, extrem abstrahierter Bassmusik und zersplitterten Field Recordings so erstaunlich eingängig zusammenkommen lassen. Dass das Album als Vinyl erscheint, mag ein Zugeständnis an Hipster-Bedürfnisse westlicher Couleur sein, macht aber dennoch Sinn. Headroof spielt das Gros der Berlin-Londoner Post-Club-Releases der vergangenen Saison locker an die Wand und klingt auf einer Funktion-One ebenso groß wie auf einem ugandischen Ghettoblaster.
Die digitale Kollaboration des kenianischen Produzenten Slikback mit der Chinesin Hyph11E schlägt mit noch mehr Wucht in eine ähnliche Kerbe. Auf der
digitalen EP Slip B (Hakuna Kulala/SVBKVLT) finden sich dekonstruierte Tribal-Sounds in massiven Terror-Breakbeats wieder, wird Digital Hardcore der Berliner Schule neu arrangiert als Post-Anything-Noise zwischen Shanghai (wo das Label SVBKVLT logiert), Kampala (von wo aus Hakuna Kulala operiert) und dem polnischen Krakau (wo die Kollaboration der beiden erstmals live erprobt wurde). Ernsthaft furchteinflößend und lebensfreudig verspielt, eben genau nicht posthuman maschinell-abstrakt, sondern so menschlich und jetztzeitig wie es nur geht. Es ist interessant, aber zugegeben etwas unfair, die 1987er Kollaboration des „Fourth World”-Erfinders Jon Hassell mit der Rhythmusgruppe Farafina aus Burkina Faso gegen das moderne Verständnis einer globalisierungsbewussten Musikwelt zu stellen, wie sie von Nyege Nyege, Hakuna Kulala oder SVBKVLT exploriert und praktiziert wird.
Flash Of The Spirit (Tak:til/Glitterbeat/Indigo, VÖ 7. Februar) ist auch heute noch ein wundervolles Ambient/World/Jazz-Album alter Schule mit Hassells gesampelter 8-Bit-
Trompete im warmen Analogsynthesizer-Bad. Die ihrem ursprünglichen lokalen Kontext enthobenen Tribal-Rhythmen von Farafina wirken aus heutiger Sicht wie eine exotische Geschmacksnote, ein deftiges Gewürz im hoch verfeinerten Klangkosmos Hassells. Retrospektiv bleibt so ein bitterer Nachgeschmack, trotz der zweifellos hehren Absichten aller Beteiligter.
Stream: Villaelvin – „Ghott Zilla”
Die tunesische Produzentin Deena Abdelwahed hat ihren ganz eigenen Umgang mit den Komplexitäten der heutigen Weltmusik und Musikwelt etabliert. Etwa wenn sie auf der EP Dhakar (Infiné) mit runtergepitchter Stimme und ironisch gebrochenem Akzent den Exotika-Klassiker „A Night in Tunis” über einen stramm technoiden Breakbeat sprechsingt. Die vier perkussiven Clubtunes der EP gehen unmissverständlich in die Beine, nehmen dabei diverse nordafrikanische und arabische Folk-Styles auf und geben diese respektvoll, aber der Ver- und Entfremdung von arabischem Pop im Westlichen gemäß wieder. Die ganze Komplexität, die Leidenschaften und leichte Entflammbarkeit des maghrebinischen Lebens liegen hier drin, und doch ist es verhältnismäßig leichtfüßige und unmittelbar verständliche Tanzmusik.
Selwa Abd ist in Marokko ebenfalls in der Kultur des Maghreb aufgewachsen. Sie lebt zur Zeit in Brooklyn, New York, und nennt sich Bergsonist. Der Name bezieht sich auf die Denktradition des Élan Vital von Henri Bergson in der Lesart des poststrukturalistischen Philosophen Gilles Deleuze: Denken ist Ausdruck eines lebendigen kreativen Prozesses, Intuition ist eine Methode der unmittelbaren instinktiven Psychoanalyse. Diese Ideenwelt verknüpft Abd mit einer Ästhetik der digitalen Biomorphe, ähnlich etwa Doon Kanda. In ihren Tracks und Edits verarbeitet sie zudem noch die Klänge und Traditionen ihrer Herkunft. Bergsonist hat diese Idee für sich und ihr Netzwerk unglaublich produktiv gemacht. Sie hat in den vergangenen drei, vier Jahren ungefähr dreißig EPs und Tapes produziert, dazu hatte sie noch eine monatliche Show auf NTS Radio mit ebenfalls viel exklusiv produziertem Eigenmaterial. Und sie gründete mehrere Labels und Netzwerke, die zwischen Brookyln und der arabischen Welt vermitteln und vor allem die Produktionen arabischer Frauen und Queers in den Fokus stellen. Was sich so schnöde niedergeschrieben nach ganz schön anstrengend kopflastiger Theoriearbeit anhören mag, geht praktisch allerdings direkt in die Beine. Middle Ouest (Optimo), ihr erstes reguläres Album, reflektiert persönliche Erinnerungen an die Rhythmen des Maghreb, die helle metallische Percussion der marokkanischen Tradition und fusioniert sie mit den melancholischen Technoklängen der globalen Gegenwart zu einer modernen Elektronik, die sich quer durch den Post-Club-Sound wieder zurück in den Club gearbeitet hat – zu ihren ganz eigenen Bedingungen. Groovy, soulful, unmittelbar tanzbar und doch mit dem gewissen Mehrwert eines immensen Hintergrundwissens über Musik, Kultur und über vielerlei Dinge, die über Musik weit hinausgehen.
Video: Bergsonist: „Amazon Snake Charmer”
DeForrest Brown, Jr. ist ein ähnlich interessanter Charakter, der schon mit Bergsonist kollaboriert hat und ebenfalls von New York aus operiert, ohne von dort zu stammen. Ein genuiner Vielfachkünstler, der sowohl in der Musikwelt agiert wie in Kunst, Journalismus, Design und Mode, hat er doch zum Beispiel in der all diese Teilgebiete aufgreifenden Initiative Make Techno Black Again agiert. Als Speaker Music verbindet er die urbanistische Flâneur-Philosophie Henri Lefebvres mit der Tradition der elektroakustischen Komposition (wie das Alias Lautsprechermusik schon andeutet). Diese rückt er weg von der alteuropäischen Hochkulturperspektive hin zu einem explizit afrofuturistischen und nichtbinär queeren Aktivismus, an dem die nachhaltig und fair gefertigten Biotextilien des Labels HECHA / 做 genauso Anteil haben wie die utopischen Black Atlantic-Sounds von Drexciya oder Albert Ayler. Of Desire, Longing (Planet Mu) ist ein hyperkomplexes Collagewerk aus Electro-Techno, Free Jazz und aktuellem Post-Club. Und hier gilt wie bei Bergsonist: in der Praxis weit zugänglicher und körperlicher als der Theorieüberbau eventuell glauben lässt.
Video: Speaker Music – „A Finesse”
Der utopisch-melancholisch ungerade Techno Detroits, spezifisch James Stinsons Beiträge zu Drexciya und UR, liegt den krakenartig raumgreifenden Breakbeats des kanadischen Berliners Aquarian ebenso nahe wie das britische Hardcore Continuum. Das Kunststück von The Snake That Eats Itself (Bedouin Records, 14. Februar) liegt darin, sich diese Styles komplett ohne Rave- oder Hardcore-Nostalgie einzuverleiben, also immer noch massiv nach Zukunft zu klingen und doch immer die Vergangenheit mit einem melancholischen Blick im Auge zu behalten. Wie die Groove-Premiere des Vorabtracks „365 Days And Counting” bereits andeutete, lassen Zeitgeistigkeit und Hit-Potenzial dieser Mischung keine Wünsche offen. Der Konsens geht von Unsound und CTM Festival, wo er jeweils Liveshows spielte, bis zu Nina Kraviz, Aphex Twin und ins Berghain, wo seine Tracks regelmäßig auf den Tellern liegen.
Das norwegische Boy-Girl Duo Soft As Snow bringt sämtliche Voraussetzungen mit, die für eine Instant-Karriere im Post-Punk/Minimal-Wave-Business notwendig sind. Auftreten, Coolness, Stimme, roher kraftvoller Sound, da stimmt einfach alles. Richtig super ist allerdings, dass die beiden alle Erwartungen an ein Hitalbum systematisch mit viel Verve enttäuschen. So spielt etwa die zwanzigminütige Live-Improvisation des Tapes Take Your Honey (Mansions and Millions) weit jenseits von Synthpop wie wir ihn kennen, selbst in der avantgardistischen Variante. Ein erbarmungsloser Hirn-Einlauf aus brummendem Analogsynthesizer-Noise, brutalen Schredderbeats und zerhackten hoch- und runtergepitchten Terror-Vocals und zarten Dark Ambient-Intermezzi.
Dichte Percussion und ein Noise-affines Techno-Fundament mit Industrial-Flavor sind die Erkennungsmerkmale des US-amerikanischen Produzenten Davey Harms. Die Kassette World War (Hausu Mountain, VÖ 21. Februar) bollert in sechs schwerstmetalligen Tracks entlang von Warehouse-Techno der gröbsten Sorte, hat aber definitiv schon einige nordafrikanische Beats gehört. Harms ist allerdings jederzeit bereit, diese im Zweifelsfall unter deftigem Lo-Fi Analogsynthesizerkrach zu beerdigen. Beeindruckendes Ding, dem eigentlich ein Release auf Vinyl angemessen wäre.
Stream: Soft As Snow – „Take Your Honey”
In den Neunzigern nannte man das, was uns Danielle de Piciotto und Axel Hacke vorleben, leicht stieselig „umherschweifende Produzenten”. Die nomadische, aber doch irgendwie noch immer sehr berlinerische Lebens-, Liebes- und Arbeitsgemeinschaft hackedepiciotto bereist auf The Current (Potomak) recht dunkle Gemütslandschaften, zumindest im Vergleich zu ihren bisherigen Alben. Mit einer ordentlichen Portion orchestralem Postrock-Pathos verstärkt, haben die Stücke die spielerische Esoterik ihrer Meditationsalben Joy und Unity ebenso weit hinter sich gelassen wie die cinemascopeweit gedehnten Country- und Western-Zitate ihrer früheren Platten. Das existenzielle Umherschweifen verbietet ja grundsätzlich die Idee eines Ankommens. Ihre aktuelle wie temporäre Station war das britische Arbeiterklasse-Strandbad Blackpool, wo die beiden mit The Current ein großformatiges Album aufgenommen haben, das irgendwo in der Nähe des exaltierten Dark Pop von Zola Jesus und Chelsea Wolfe spielt, nur eben mit den oldschool-geraden Beats ihrer Vergangenheit in Industrial und Techno, bei den Einstürzenden Neubauten, dem Ocean Club und den ersten Jahren der Love Parade. Interessante Menschen, tolle Platte.
Die Kanadier von We Are The City haben ein verwandtes Verständnis von experimentellem Pop und Prog. Die leicht zickigen Songs ihres fünften Albums RIP (Sinnbus) brechen immer wieder aus ihrem Indie-Rock-Korsett aus. Manche wären wohl lieber R’n’B- oder Ambient-Tracks geworden und rütteln so effektiv am engen Käfig ihres gegebenen Formats.
Das tun ebenfalls The Golden Filter auf ihrem Remix-Album Autonomy Variations (4GN3S). Die ungewöhnlichen und extrem diversen Bearbeitungen der sowieso schon sehr Stil-beweglichen Originale des britischen Synthpop-Duos bieten einen wilden Trip von House zu Cold Wave, von Industrial-Techno bis Post-Club Electro.
Stream: hackedepiciotto – „Onwards”