Wer in Asheville, North Carolina, einer abgelegenen kleinen Universitätsstadt im “Heartland” der USA an den Ausläufern der “Great Smoky Mountains” in den Appalachen verwurzelt ist wie die Folk-Fingerpicking-Gitarrenvirtuosin Sarah Louise Henson hat, wie sich leicht ausmalen lässt, einen etwas anderen Zugang zu Electronica als ein London-Berliner Hoodie-Träger. Provinziell oder altmodisch muss dieser Ansatz aber keineswegs sein. Was Louise auf ihrer dritten LP Nighttime Birds and Morning Stars (Thrill Jockey) mit den traditionellen Folk-Klängen ihrer Heimat anstellt ist nicht weniger als phänomenal und hat trotz oder wegen der extrem einfachen handwerklichen Mittel – eine akustische oder elektrische Gitarre mit einer Handvoll digitaler Effektgeräte für Chorus und Delay – genauso viel mit der amerikanischen Drone-Gotik von John Fahey zu tun wie mit der gleißenden Elektronik der oben erwähnten LTO oder Kelly Moran. Henson wagt sich dabei ähnlich weit in experimentelle Improv-Gefilde wie zum Beispiel die Australier Julia Reidy und Andrew Tuttle oder jüngst der britische Alt-Folkie Mike Cooper, bleibt wie diese aber jederzeit erkennbar harmonisch. Henson entwickelt das unbekannt ungeahnte ausschließlich aus dem vertraut traditionellen. Modern und zeitlos zugleich.


Stream: Sarah Louise – Rime

Ein Lebenszeichen von lange verschollen geglaubten ist eine feine Sache, erlaubt sie doch den meist spannenden Abgleich von Erinnerung und aktueller Realität. Für Klangwart, die Hausband des Staubgold-Labels gilt das allemal. Das Projekt von Timo Reuber und Staubgold-Macher Markus Detmer hat immer weit außerhalb von Hypes und Trends gespielt, einen ganz eigenartig aus der Zeit gefallenen krautig-kosmischen Zugang zu Electronica verfolgt, der hochexperimentell doch immer leicht zugänglich, verständlich war. Nach Detmers Umzug ins beschauliche Perpignan nahe der französisch-spanischen Grenze, wo er den Cougouyou-Plattenladen betreibt, haben sie nur noch sporadisch zusammen Musik gemacht. Für Bogotá (Staubgold) sind sie zusammen in die kolumbianische Hauptstadt gereist und haben dort mit befreundeten Musiker*innen von den Meridian Brothers und den Sängerinnen Las Áñez elektrisch hüftschwingende Jams improvisiert. Entgegen den medienüblichen Klischees einer in Gewalt und Gesetzlosigkeit versinkenden Narco-Metropole hat Bogotá eine wohlgedeihende experimentelle Musikszene, die ganz selbstverständlich sowohl traditionelle lokale Stile wie globalisierte High-Tech Elektronik für ihre Stücke heranzieht. Vor allem die hiesigen Rhythmen und der free-jazzig improvisierte spanischsprachige Gesang prägen das Album deutlich. Und doch hat es den typischen Klangwart-Charakter eines freundlich analogen Soundaliens, das aus den frühen Kölner siebziger Jahren in eine lateinamerikanische „Global City“ der nahen Zukunft geworfen wurde und sich dort erstmal zurechtfinden muss.


Stream: Klangwart – Chocolate

Der Grieche Dimitris Papadatos hat sich in den vergangenen fünf, sechs Jahren auf höchst individuelle und spannende Weise am Thema Dub abgearbeitet und nebenbei auf der EP The Safest Dub auf Berceuse Heroique noch gezeigt, dass sogar ein Sade-Edit ohne Kitsch und Nostalgie machbar ist. Sein Bezug auf die in House, Techno und Elektronik allgegenwärtige Materie war im Rahmen des Jay Glass Dubs-Projektes schon immer indirekt, von den Wänden diversester Echokammern reflektiert, ungewöhnlich vermischt und neu ausgesteuert. Also nicht unbedingt wie eine von Echo und Delay verschleifte instrumentale B-Seiten „Version“ einer jamaikanischen Roots-Reggae 7″, sondern eher so wie der Dub-Edit einer Italo-Disco Single von einem Deep-House-Produzenten mit Industrial- und Doom-Metal-Hintergrund. Der einzige (aber entscheidende) Aspekt des klassisch jamaikanischen Dub-Sounds, den Papadatos niemals vernachlässigt hat, ist die intensive Räumlichkeit und Körperlichkeit des Sounds. Im Vergleich mit den Tapes und EPs ist der Bezug zu Dub auf dem Vinyl-Albumdebüt Epitaph (Bokeh Versions) noch abstrakter geworden ohne die unmittelbare klangliche Intensität zu vernachlässigen. Die bemerkenswert düsteren und schwer durchschaubaren Tracks des Albums haben entschieden mehr mit Papadatos psychedelischem Krautrockprojekt Ku zu tun als alles, was er bisher als Jay Glass Dubs produziert hat. Faszinierende Platte, von der sich nicht sagen lässt ob sie für den Abschluss und Höhepunkt des Jay Glass Dubs-Projekts steht – wie der Titel andeutet – oder ob sie im Gegenteil den Aufbruch in unbekanntes Terrain markiert.


Stream: Jay Glass Dubs – Epitaph

Wer hat so viel Geld und Zeit? Grönland Records haut gerade wohlkuratiertes Reissue um schick aufgemachtes Vinyl-Box-Set raus. Eins ums andere lobenswert detailliert, sinnvoll wie aufschlussreich editiert. Aktuell ist Michael Rother an der Reihe. Solo (Grönland) versammlt die ersten vier Solo-Alben des Gitarristen und Studio-Wizards von Harmonia und Neu! aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren. Zudem zwei Film-Soundtracks sowie jüngeres unveröffentlichtes Live-Material. Die Box verfolgt Rothers Entwicklung von den perlenden Krautrock-Grooves auf Flammende Herzen und Sterntaler zu den verspielteren Katzenmusik und Fernwärme, auf den Rother die starr energetischen Grooves mit kleinen Synthesizer-Spielereien bereicherte und einen ultrasauberen hochauflösenden wie komplexen Studio-als-Instrument-Sound definierte der seit den mittleren achtziger Jahren von OMD bis Stereolab und vor allem deren Nachfolgeband Cavern Of Anti-Matter immer wieder aufgegriffen, hommagiert, modifiziert und erneuert wurde. Auf den Soundtracks und vor allem auf den Live- und Remix-Stücken zeigt sich ein experimentellerer Rother, der komplex verwaschenen Sound zulässt und ausschweifende Ausflüge in Prog-Rock und Psychedelik unternimmt.

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