Der seit Beginn der achtziger Jahre bis heute aktive Synthesizer-Wizard und Allround-Experimentator Miguel Ángel Ruíz aus Madrid spielte immer zwischen den Welten von Industrial, Electro-Techno und akademischer Elektroakustik. Sein Alias Orfeón Gagarin steht für pure Synthetik, den Sounds von Hüllkurven aus einem klassischen Korg-Gerät. Orfeón Gagarin (Verlag System), das Tape-Debüt dieses Alias von 1986, ist dabei ein besonderes Leckerchen, denn hier spielt Ruíz noch mehr als üblich zwischen den Stühlen. Vangelis und Jean Michel-Jarre im Spiegel ernsthafter Early Electronics-Spielereien, tribale Industrial-Schleifen in der Echokammer von Dub und World Music. Untypisch typische Außenseiterklänge der achtziger Jahre, also etwas was gerade wieder ziemlich aktuell erscheint.


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Besonders hip sind solche Weirdo-Sounds gerade wenn sie aus Japan in den achtziger Jahren stammen. Da wo einmal die Zukunft zuhause war, wo sich die erste von Hi-Tech und Gadgets angetriebene „Bubble Economy“ abspielte und wo bis zum Platzen der Blase ein Großteil der definitiven und zeittypischen Musikhardware stammte. Jun Chikuma (竹間淳), die sich heute June Chikuma nennt, ist so eine Außenseiterin die mitten drin im Avantgarde- wie im Mainstreamgeschehen im Japan der Achtziger und Neunziger stand. Sie kann eigentlich alles und ihr Portfolio ist so bunt wie ihre Klänge: Soundtrackarbeiten zu Animes und Konsolenspielen von Nintendo, staubtrockener J-Funk, theatralisch modernistische Bühnenexperimente, New Age Ambient und arabisch-ägyptische inspirierte Neo-Klassik. So wurden Chikumas Bomberman-Soundtracks aus den neunziger Jahren, die eine höchst seltsame Art von Drum’n’Bass und IDM-Electronica definiert haben, zu schwerstens gesuchten Sammlerstücken mit Discogs-Mondpreisgarantie. Das Reissue Les Archives (Freedom To Spend/RVNG Intl., VÖ 22.März) geht allerdings noch eine Dekade weiter zurück und präsentiert freie und deutlich verspielt experimentellere Arbeiten, die aber auch einen riesigen Wirkungskreis abdecken von staubtrockenem J-Funk aus Beatbox und Casio-Handheld-Keyboard, zu Klangschalen-Ambient mit panasiatischen Flötentönen bis zu einem ganz und gar nicht „neo“ daherkommenden europäisch-klassischen Streichquartett. Ganz großartiges und absolut zeitgeistiges Reissue auf dem immer geschmackssicheren Label von Pete Swanson und Jed Bindeman.

Tomoyasu Hayakawa ist ebenfalls seit den frühen achtziger Jahren aktiv. Seine Arbeiten unter dem Alias Tomo Akikawabaya sind dank einer Kompilation auf dem Minimal Wave-Label zu archetypischen Artefakten einer spezifisch japanischen Aneignung von Gothic-Post-Punk und Synthwave geworden. Nach beinahe dreißig Jahren Pause ohne nennenswerte Musikveröffentlichung hat Hayakawa zusammen mit seiner Ehefrau Rinko (alias Tomo Noro) 2014 das Projekt The Future Eve ins Leben gerufen, das sich explizit als Hommage an die Musik des britischen Psychedelia, Jazz, Rock, Pop, Fusion-und-mehr Urgesteins Robert Wyatt versteht. Für ihr selbstverlegtes Albumprojekt KiTsuNe (Flau), dass nun vom Flau Label neu aufgelegt und damit erstmals als vernünftiger physischer Tonträger zu haben ist, konnten sie Wyatt überreden, seine selbstaufgelegte Musikabstinenz zumindest temporär zu unterbrechen. Die Soundskizze, die er ihnen lieferte und die von seiner fluid-fragilen Stimme dominiert wird, haben sie subtil nachbearbeitet, elektronisch ausgebaut und mit ihren Stimmen ergänzt. Den lose improvisierten folkigen Charakter von Wyatts Original „Brian the Fox“ („Kitsune“ ist ein japanischer Fuchs-Mensch-Dämon) haben The Future Eve beibehalten. Ihre Variationen über Wyatts Original verschleifen das Stück mal mehr mal weniger stark zu flächigen Drones mit einem deutlichen Einfluß der Japan-Avantgarde etwa von Phew oder eben Jun Chikuma. Sämtliche Bearbeitungen charakterisiert eine außerweltlich-psychedelische Schönheit, was dieses eher junge Reissue ebenso essentiell macht wie Chikumas.


Stream: The Future Eve featuring Robert Wyatt – KiTsuNe 04.08

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