Trance und Trash-Pop liefern den Soundtrack für eine Welt, die in Flammen steht. Das in ästhetischer Hinsicht zu verurteilen, ist sinnfällig. Im Gesamtkontext sozialer, politischer und ökonomischer Entwicklungen zeichnet es allerdings das Bild einer Szene, die aufgegeben zu haben scheint, schreibt Kristoffer Cornils in einer neuen Ausgabe seiner Kolumne konkrit.
Die mit der Pandemie einhergegangenen Einschränkungen wurden in diesem Jahr weitgehend aufgehoben, ein schöner Neustart aber sieht anders aus. Krieg, Energiekrise und Inflation: Die Zeiten sind schlecht und die Aussichten noch schlechter. Die Musik klingt jedoch aufgekratzter denn je. Die wirbelnden Arpeggien und satten Flächen von Trance, die überzuckerten Hooklines von Pop-Songs aus den Neunzigern und Nullerjahren sind von den wiedereröffneten Dancefloors nicht wegzudenken. Es gibt eine Theorie, die gleichermaßen naheliegend wie weit hergeholt wirkt, und die dieses Phänomen erklären könnte: Wann immer es zu ökonomischen, sozialen und politischen Krisen kommt, flüchtet die Gesellschaft auf den Dancefloor.
Naheliegend scheint diese Theorie deshalb, weil sie sich historisch untermauern lässt. Als Disco die Clubs von New York eroberte, stand die Stadt buchstäblich in Flammen. Sogar der vermeintlich gut gelaunte Italo Disco war ein Produkt der sogenannten Jahre aus Blei voller Gewalt und Attentaten. Als in Detroit Techno erfunden wurde, erlitt die ehemalige Autometropole einen graduellen wirtschaftlichen und sozialen Kollaps. Der Second Summer of Love in Großbritannien folgte einem Jahrzehnt unter Margaret Thatcher und damit Jahren der Gewalt und des gezielten Abbaus sozialer Sicherheiten. Und so weiter, und so fort.
Ähnliches ließ sich auch hierzulande beobachten: Als die Berliner Clubszene und die Loveparade zum internationalen Aushängeschild der deutschen Wiedervereinigung wurden, eröffneten sich direkt nach der bis heute bestehende ökonomische und soziale Gefälle zwischen alten und neuen Bundesländern und brannten im Westen wie im Osten Asylheime. Und als sich Minimal Techno aufrappelte und von unter anderem dem Erfolg des Films Berlin Calling gestützt die Berliner Szene (wieder) weltweit bekannt machte, ritt diese auf einer Resignationswelle, die von einer globalen Wirtschaftskrise losgetreten wurde.
Als weit hergeholt könnte eine Aufzählung dieser historischen Gleichzeitigkeiten deshalb verworfen werden, weil Korrelation nicht gleich Kausalität ist. Soll heißen: Nur, weil etwas simultan zueinander geschieht, muss es noch lange nicht zusammenhängen. Ebenso ließe sich einwenden, dass ja irgendwie immer und überall gerade eine Krise abläuft und dass ungeachtet dessen ständig getanzt wird. Oder dass es schlicht menschlich ist, Stress, Angst und Unsicherheit mit hedonistischem Eskapismus zu begegnen, wann immer es möglich ist.
Und dennoch lässt sich fragen, warum die Musik in dieser Szene in den vergangenen Jahren immer greller wurde, während die Aussichten sich verdüsterten. Musikgeschichtlich gefragt: Was bitteschön ist zwischen dem Siegeszug des Berghain-Technos am Ende der Minimal-Ära, das heißt stilprägenden Tracks wie Ben Klocks „Subzero”, und dem heutigen Wirrwarr aus Trance-Hymnen und Trash-Pop auf den Dancefloors dieser Welt passiert?
Eine Antwort darauf lässt sich freilich genau so gut in musikalischen und medialen Entwicklungen finden. Angefangen mit den tradierten Retro-Rhythmen der Musikgeschichte bis hin zur Popularität bestimmter Stile, die bei Boiler Room oder HÖR gut vor der Kamera funktionieren, ergeben sich bestimmten Dynamiken auch abseits größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Sie könnten aber auch als Spiegelung und Kommentar auf noch viel umfassendere Bewegungen ideologischer, medialer, sozialer, politischer und wirtschaftlicher Natur verstanden werden. Das heißt auch: als Bankrotterklärung einer Subkultur, die sich sonst gerne fortschrittlich und politisch gibt.
Resignation, EDM, der Backlash (und dessen Backlash)
Rewind: die späten Nullerjahre. Die globale Finanzkrise hatte die Weltwirtschaft in Chaos gestürzt und einer ganzen Generation das letzte Gefühl von Sicherheit geraubt. Mark Fisher legte mit Capitalist Realism. Is There No Alternative? die ultimative Diagnose des sich spätestens in dieser Ära verfestigenden Zeitgeists vor. Der Kulturkritiker beschrieb 20 Jahre nach dem Mauerfall und dem Wegbruch des real existierenden Sozialismus als sozio-ökonomische Alternative zum Status quo eine Atmosphäre der politischen Lähmung: Das System des Kapitalismus war dermaßen übermächtig geworden, dass sich schlicht keine andere Weltordnung mehr vorstellen ließ.
Zukunftsperspektiven? Gab es keine. Fluchtangebote aber einige, vor allem in Berlin, wo bereits in den Neunzigern das Strukturchaos und der stete Notstand durchglamifiziert wurden. In logischer Konsequenz easyjettete halb Europa jedes Wochenende nach Berlin, um dort zu raumgreifendem Techno im Berghain oder einem hippiesken Stilblütenmix in der Bar25 den Anblick einer grauen Welt gegen psychoaktive Substanzen und ein paar Tage außerhalb der Zeit einzutauschen. Techno wurde unter dem Banner der ravenden Gesellschaft schon einmal zum Lifestyle gemacht, nun aber wurde er zum individualistischen Sport. Autor:innen wie Airen oder Tobias Rapp beschreiben aus der Gegenwart heraus, wie Eskapismus neu definiert wird – als Triathlon aus Feiern, Ficken, vermeintlicher Sorglosigkeit.
„Die erste Hälfte der Zehnerjahre war geprägt von Distinktionsgesten, mit denen sich die Szenen durch einen härteren Sound und/oder mehr Tiefsinnigkeit von den Stadion-Clowns und Wannabe-Ravern dieser Welt absetzen wollten wie dereinst Minimal von Progressive House und Trance.”
Doch wurde diese vermeintlich neue Rave-o-lution schnell von ihren Kindern, besser gesagt den Candy Ravers, gefressen. Zeitgleich nämlich erreichte elektronische Tanzmusik den Overground und wurde zum Allround-Spektakel. Daft Punks Coachella-Auftritt im Jahr 2006 legte den Grundstein für EDM – für David Guetta, Deadmau5 oder Skrillex. In den USA und in Europa tanzte plötzlich auch die Mehrheitsgesellschaft auf den Four-to-the-Floor und selbst die vermeintlichen Hochburgen des Undergrounds wurden dank Berlin Calling für diejenigen attraktiv, die vorher noch ihre Röhrenjeans auf Indie-Partys durchgeschwitzt hatten. Prekäre Bedingungen, Austerität allenthalben – und die Leute gingen ernsthaft feiern.
In die Techno- und House-Szene schlichen sich darüber monochrom-monotone oder melancholische Untertöne ein. Ob nun „Subzero”, ein unverhoffter Megahit wie UVBs „Mixtion” und roughe Analog-Sounds auf dem Techno-Floor oder der New Romantic House beziehungsweise das traurige Crooning von Ry X, das von Âme in die House-Clubs übersetzt wurden: Die erste Hälfte der Zehnerjahre war geprägt von Distinktionsgesten, mit denen sich die Szenen durch einen härteren Sound und/oder mehr Tiefsinnigkeit von den Stadion-Clowns und Wannabe-Ravers dieser Welt absetzen wollten wie dereinst Minimal von Progressive House und Trance.
Doch der heilige Ernst hielt nicht lange an. Schon bald folgte der Backlash auf den Backlash in Form von albernem Lo-Fi-House und einer veritablen Meme-Sintflut. Eine ganze Szene begriff nach Jahren der bierernsten Jesusgesten-Bilder auf Facebook, welches Potenzial oder besser gesagt Kapital in Humor und Schrägheit lag. Nicht wenige DJs fingen an, ihre Karrieren auf ihrer Instagram-Performance statt in der Booth aufzubauen. Und weil die ganze Welt sich zunehmend schneller durch die Storys wischte, scheint es im Rückblick nur logisch, dass darüber graduell die Tempi nach oben schnellten.
Trance! Trash-Pop! Gabber!
Zeitgleich gewannen selbst vormals belächelte Musikstile wieder an Währung. Trance war zwar irgendwann in den Neunzigern das Genre du jour, wurde aber schnell langfristig in der Abstellkammer entsorgt, Prädikat: objektiv gesehen uncoole Musik von uncoolen Leuten, die ausschließlich uncoole Crowds anzieht. Mit den Trance-Abstraktionen eines Lorenzo Senni oder Installationsprojekten wie Henrike Naumanns und Bastian Hagedorns Museum of Trance formierte sich in den Zehnerjahren zwar ein neues Interesse an Genre und Szene, filterte das aber durch künstlerische Absichten beziehungsweise distanzierte intellektuelle Gesten. Doch erreichte Trance zu Beginn der zweiten Hälfte der Zehnerjahre wieder den Dancefloor. Der Konsenshit des Jahres 2016 war „Mutter” von Konstantin Sibold. Er setzte auf einen dramatischen Ton und genau die großen Gesten, von denen sich ehemals alle abgewandt hatten, und die nun wieder salon- beziehungsweise clubfähig wurden. Die „Rückkehr der Flächen” war plötzlich gekommen.
Es fällt leicht, einen Zusammenhang zwischen diesem Revival und dem allgemeinen Weltgeschehen auszumachen. Während die großen Player dieser Szene immer höher flogen und die Kickdrums immer schneller stampften, brach ab Mitte der Zehnerjahre immer mehr das Chaos in die fragile gesellschaftliche und politische Ordnungen ein. Flüchtlingskrise, Brexit und Trump-Wahl: Eine Hiobsbotschaft jagte die nächste, nichts schien mehr in logischen Bahnen zu verlaufen oder in sie zurückzufinden. Irgendwann legte eine Pandemie als langsam laufende Katastrophe die gesamte Welt auf einen Schlag lahm und selbst der lang ersehnte Neustart fand unter größten Schwierigkeiten statt. Die Gesellschaft flüchtete sich also wieder auf den Dancefloor und der Soundtrack dazu war immer schneller, immer greller: Trance dominierte im Jahr 2022 das musikalische Zeitgeschehen im Club.
Und er schillerte noch greller als zuvor. Die nostalgische Aufladung des – von den zeitgenössischen Party People wohl kaum miterlebten – Genres in seiner Härter-schneller-weiter-Version brachte Schacke bereits vor einigen Jahren per Zitat eines Da–Hool-Klassikers auf den Punkt: „Met Her At The Herrensauna” hieß es nun für alle, die die Loveparade-Katastrophe höchstens aus historischen Berichten kannten, dank DJ Heartstrings „Met Her At Bäreneck” wurde der Rückgriff auf die Neunziger-Ästhetik endgültig zum musikalischen Meme. Dass der neue Retro-Spirit von noch schnelleren Kicks angetrieben wurde, unterstrich auch das zeitgleich aufkommende, wenngleich kurzfristige Gabber-Revival. Vor allem aber wurde der Sound knalliger. Wieder war es Schacke, der im Jahr 2019 vorauseilend den Zeitgeist ausformulierte: „Kisloty People” markierte den Dammbruch für die endgültige Annäherung an Trash-Pop. Der Bubblegum-Sound der Neunziger und Nullerjahre wurde insbesondere während der Pandemie wieder salonfähig.
„Noch mehr als damals schon existieren Gestern und Heute im medialen Durcheinander nebeneinander, werden klare Trennlinien zwischen einzelnen musikhistorischen Zeitrechnungen und Genres algorithmisch durcheinandergewirbelt.”
Mittlerweile scheint zwischen Arpeggien-Geballer und Britney-Spears-Edits alles erlaubt zu sein. Nicht selten wird es von Vertreter:innen der Trance- und Trash-Pop-Revivals so dargestellt, als handele es sich dabei um einen ästhetischen Befreiungsschlag mit sozialen Implikationen. Als wäre all das vordergründig als neuerlicher Backlash gegen Distinktionsgehabe oder gar als kulturelle Emanzipationsbewegung zu verstehen, die die ungenutzten Potenziale der Vergangenheit wieder urbar macht. Die Trance als Musik und Kultur wieder ernst nimmt oder den Camp von Trash-Pop für die Gegenwart updatet, um zu einem unverkrampfteren Verhältnis zu den Freuden der Mainstream-Kultur zu finden.
Es lässt sich aber auch anders deuten. Als ästhetischer Defätismus nämlich, als nostalgischer Rückgriff auf die stilistischen Parameter vermeintlich sorgloserer Zeiten.
Restaurative Nostalgie auf allen Kanälen
Im Jahr 2001 schrieb die Kulturtheoretikerin Svetlana Boym in The Future of Nostalgia, ihrer konzisen Analyse eines sehr schwammigen Gefühls, über verschiedene Formen desselben, darunter auch die sogenannte „restaurative Nostalgie”: „Restaurative Nostalgie manifestiert sich in totalen Rekonstruktionen der Monumente der Vergangenheit”. Lässt diese Beschreibung nicht sogleich an eine Flut von Büchern über diese oder jene Subkultur der Neunziger, überbordende Doku-Serien zu Techno und House hierzulande, bauchnabelnde Ausstellungen und selbst ganze Museen für elektronische Clubkultur sowie ein mittlerweile staubig gewordenes und doch ständig auf Tour befindliches Museum of Trance sowie last but definitely not least an eine Neuauflage des prägendsten Karnevalsumzugs der Rave-Kultur (dem Boym schon damals für ihr Buch einen Besuch abstattete) denken?
Dass die Nostalgie für vermeintlich bessere Zeiten der größte Trend der Neuzeit ist, lässt sich dementsprechend empirisch nachweisen und schätzungsweise sogar in Verkaufszahlen beziffern. Mehr noch als vereinzelte, rein musikalische Revivals von Electro bis Ghetto House wird der gesamtsubkulturelle Rück- aber zum Klammergriff, weil er versucht, eine ganze, vermeintlich einheitliche Kultur zu rekonstruieren. Nur: Woher rührt das? Ein normaler Fall von Retromania, wie es Simon Reynolds in einem Buch über das gleichnamige Phänomen im Jahr 2011 beschrieb? Der machte für die Zunahme von Retro-Sounds während der Nullerjahre vor allem den medialen Wandel des frühen Web-2.0-Zeitalters verantwortlich: Wo plötzlich dank MP3-Blogs und YouTube alles ständig abrufbar wurde, schwand das Bewusstsein für die die Kontexte bestimmter Musikstile und subkultureller Bewegungen, während sie sich leichter replizieren ließen.
Auf heutige Verhältnisse übertragen lässt sich über dieses Erklärungsmuster nachvollziehen, warum sich gerade während der Pandemie DJs über HÖR und andere Streaming-Formate einen Namen machen konnten, die sich hochgeschwind und recht eklektisch durch verschiedene Ären und Bewegungen der Vergangenheit mixten: Noch mehr als damals schon existieren Gestern und Heute im medialen Durcheinander nebeneinander, werden klare Trennlinien zwischen einzelnen musikhistorischen Zeitrechnungen und Genres algorithmisch durcheinandergewirbelt. Und vielleicht lässt sich die Geschwindigkeits- und Überdrehtheitssteigerung in der Musik darauf zurückführen, dass sie vor allem mittelbar über Medien konsumiert wurde, in denen der Immer-schneller-immer-greller-Imperativ voreingebaut ist: YouTube, TikTok, Instagram, sie alle treiben auch das Tempo der Produktion und Konsumtion von Kultur gleichermaßen nach oben.
Diese dynamische Totalrekombinatorik erklärt aber kaum, warum vor allem in die Vergangenheit gelauscht wird, der neue Sound des Eskapismus so retro ist. Wenn wie heute der Sound von Frankfurter Trance, Eurodance aus den Neunzigern oder Post-Y2K-R’n’B miteinander gemischt wird, mag das im Sinne der postmodernen Recordart, von der Westbam bereits Mitte der Achtziger sprach, nur logisch sein. Aber es erklärt noch nicht, warum dieser Trend so gar nicht auf zeitgenössische Tendenzen reagiert – ob nun UK Drill, südafrikanischer Amapiano oder experimentelle Clubmusik aus China. Warum wird all das geflissentlich übergangen? Dass die Abgrenzung vom überernsten Techno-Business durch den Griff in die Vergangenheit erfolgt, lässt sie als historisch informierte Subversion erscheinen. Oder aber als Ausdruck einer allumfassenden Einfallslosigkeit, die eben nur die Sehnsucht nach vermeintlich unbeschwerteren Zeiten bedient und die Gegenwart bewusst auszublenden versucht.
Mehr noch lässt sich die Frage stellen, ob der vermeintliche kreative Freischlag wirklich für hierarchielose Verhältnisse sorgt oder nur einen Paradigmenwechsel darstellt, der nun alle Produzent:innen und DJs mit Hang zu quote unquote seriöser Clubmusik zu angeblichen Spielverderber:innen macht: die langweiligen Gatekeeper:innen des monochromen Sounds. Denn natürlich verbirgt sich auch hinter der vorgeblichen Lust an Trance und Trash eine Distinktionsgeste, die ihrerseits Ausschlüsse schafft. Doch setzt sie sich nicht mittels einer neuen, sondern vielmehr einer altbekannten Ästhetik vom vormaligen Status quo ab. Subkulturen wie Lo-Fi-House hatten der Anti-EDM-Ernsthaftigkeit der Techno-Szene noch den Finger gezeigt, um die Dinge mittels zeitgenössischer ästhetischer Marker ironisch weiterzudrehen. Im Trance- und Trash-Pop-Trend allerdings ist lediglich das vormalige guilty nachgerade zum guiding pleasure geworden.
„Neben Lippenbekenntnissen an diese oder jene moralischen Grundfeste linksliberalen Gedankenguts oder ein paar Spendenlinks in der Instagram-Bio ist in politischer Hinsicht innerhalb der Szene weiterhin herzlich wenig zu holen.”
Was als musikalische Inklusion unter dem Banner einer allumfassenden Aufbruchstimmung präsentiert und vermarktet wird, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als kaum mehr als restaurative Nostalgie. Sie bezieht sich auf eine Vergangenheit, die mythisch überhöht wurde: Im Kern steht nicht weniger als der eigentlich geplatzte Traum der ravenden Gesellschaft.
Mit offenen Armen in den Untergang
Ein Hauch von Friede, Freude, Eierkuchen liegt also in der Luft. Nur brennt drumherum die Welt, ist an Frieden in diesem Teil der Welt – und vielen, vielen anderen – nicht zu denken. Und wer isst überhaupt noch Eierkuchen? Es bleibt die Freude, schon damals der eigentliche, um nicht zu sagen einzige Inhalt dieser Zeit, der bis heute noch Bestand hat. Er wird ideologisch aufgeladen, denn weil der pure Hedonismus noch nie so leicht zu rechtfertigen war, wird die Party seit geraumer Zeit zum Politikum hochgejazzt. Keine Geschichtsschreibung über Techno, kein Artikel über diese oder jene lokale Szene oder gar nur eine Werbekampagne eines Schnapsherstellers kommt darum herum, Rave irgendwelche subversiven Potenziale oder umstürzlerisches Ansinnen zuzuschreiben.
Das wirkt umso zynischer in einer Zeit, in der allerhand ökonomische, ökologische, gesundheitliche und soziale Krisen durch politische Organisation angegangen werden könnten, anstatt Nacht für Nacht dem wilden Durcheinander fremdnostalgischer Illusionen auf dem Dancefloor nachzujagen. Neben Lippenbekenntnissen an diese oder jene moralischen Grundfeste linksliberalen Gedankenguts oder ein paar Spendenlinks in der Instagram-Bio ist in politischer Hinsicht innerhalb der Szene weiterhin herzlich wenig zu holen, und daran wird sich auch nichts ändern, wenn erst die 170-BPM-Grenze überschritten ist und wieder Scooter auf Mainfloor läuft. Oder wofür genau wurde eigentlich nochmal genau bei Rave the Planet demonstriert?
Freilich ist von Clubmusik eigentlich nicht zu erwarten, die revolutionäre Vorhut im Kampf gegen alle Übel dieser Welt darzustellen, und es behauptet (hoffentlich) auch niemand, mit Trance und Trash-Pop ein politisches Zeichen setzen zu können. Im Immer-schneller-immer-greller-Imperativ des Jahres 2022 schreibt sich allerdings auch eine Ideologie fort, die Dance Music seit den frühen Rave-Zeiten geprägt hat und die sich in den aktuellen Krisenzeiten umso deutlicher zu erkennen gibt: Der totale Eskapismus erreicht sein Endstadium, zündet ein riesiges Feuerwerk aus satten Pads und Vocal-Samples ab, während die Heizungen auf Sparflamme laufen.
Den Aufstieg von Trance oder Trash-Pop in ästhetischer Hinsicht zu verwerfen, ist sinnfällig. Die Leute mögen es – sollen sie doch. Spannender ist indes, sich die ideologischen Implikationen dieser Revival-Trends im Kontext unserer Zeit genauer anzuschauen: Wo zuvor auf Krisen mit neuen Soundentwürfen reagiert wurde, horcht der westliche Teil der Dance-Music-Welt inmitten der Vielzahl aktueller Krisen in die Vergangenheit zurück, statt etwa, das böte sich schließlich noch dringender an, in die weitere Welt hinaus. Die kreative Einfallslosigkeit, die alles durchwirkende Nostalgie für vermeintlich goldene Zeitalter – das ist auch in subkultureller und sozialer Hinsicht mindestens lähmend und kommt einer Bankrotterklärung gleich.
Denn was bricht sich darin Bahn, wenn nicht ein komplettes Desinteresse am eigentlichen Zeitgeschehen? Es hat daher den Anschein, als tanze eine ganze Szene bei 160+ BPM mit offenen Armen in den Untergang.