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Rave The Planet: Alle mit allen, ist ja umsonst

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Rave The Planet 2022 (Foto: Simon Popp)

Das Wetter meint es nicht gut mit Dr. Motte und Rave The Planet. Rave The Planet, das ist die Quasi-Reinkarnation der Loveparade, die ohne Pandemie schon 2020 hätte stattfinden sollen. Jetzt ist der 9. Juli angebrochen und Motte, heute 62 Jahre jung geworden, muss mit seiner Karawane durch den Regen ziehen. Am frühen Nachmittag, als sich die 18 Wägen an der Uhlandstraße anschicken, über den Kurfürstendamm zum Großen Stern zu fahren, gießt es eine Weile lang sintflutartig.

Wasser auf die Mühlen all jener, die mit Häme bedachten, was sich Matthias Roeingh zum Ziel gesetzt hatte: Die wohl geschichtsträchtigste Demonstration für elektronische Tanzkultur überhaupt wiederzubeleben, die 2010 in Duisburg mit 21 Todesopfern und als kaputtgesponsertes Abziehbild ihrer selbst ein denkbar unrühmliches Ende fand. Unter diesen äußeren Bedingungen würde, was ohnehin als Ding der Unmöglichkeit erschien, noch schwerer werden.

Doch Friede, Freude, Pustekuchen. Skeptiker:innen hatten die Lust der Frei-, Teil-, Vollzeit und Berufsraver:innen, sich in Massen zu versammeln und in diesen aufzugehen, drastisch unterschätzt. Von 200.000 Menschen sprach die Polizei am Sonntag nach der Parade, Rave The Planet selbst taxierte die Zahl der Anwesenden gar auf 400.000. Mit diesem Ansturm hatten weder die Organisator:innen noch die Exekutive gerechnet, sodass die Parade auf der Straße des 17. Juni kurz vor Zieleinlauf an der Siegessäule aufgrund von Sicherheitsbedenken abgebrochen werden musste.

Bis zu diesem Zeitpunkt passierte viel, was der Vater der Loveparade als Erfolg verbuchen konnte. Nicht nur die Vielzahl der Tänzer:innen überraschte, auch ihre Feierwut. Nach der Anfangskundgebung, auf der Motte ein bedingungsloses Grundeinkommen für Künstler:innen sowie, politisch niedrigschwelliger und damit wahrscheinlich umjubelter, einen Feiertag der elektronischen Tanzmusik in Berlin forderte, zog man durch ein Spalier von Schaulustigen über den Kurfürstendamm. Vorbei an italienischen Restaurants mit interessiert dreinblickenden Senior:innen, durchs Blickfeld gut betuchter Paare mit KadeWe-Tüten, die sich den Shoppingsamstag wohl etwas anders vorgestellt hatten.

Die Teilnehmenden gefallen sich sichtlich in ihrer Rolle als ulkige Exot:innen, die Outfits und Kostüme – Blumenkinder, in Fetischlooks und Ravegear gehüllte Individuen, Dinosaurier, Einhörner, Atz:innen wackeln mal mehr, mal weniger motorisch behände vorbei und wähnen sich dem ultimativen Triumph der elektronischen Musik nahe wie nie zuvor – stehen denen der Loveparade-Blütezeit in nichts nach. Viele sind dem Vernehmen nach schon in den Neunzigern dabei gewesen, die Parade wirkt aber keineswegs wie eine mobile Geriatriestation. Auch junge, mindestens ebenso euphorische Menschen haben den Weg nach Berlin gefunden.

Rave The Planet 2022 by Alexis Waltz
Rave On (Foto: Alexis Waltz)

Denn, eine weitere Parallele zu früher: Die Parade unter dem Motto „Together Again” ist keine hauptstädtische Angelegenheit. Das Publikum rekrutiert sich nicht nur aus ganz Deutschland. Obgleich die sowieso hohen Tourismuszahlen Berlins und die daraus entstehenden Spontanabstecher Neugieriger, die zufälligerweise gerade in der Stadt sind, bedacht werden müssen, scheint internationales Publikum vor allem aus den Nachbarländern wie Polen, Frankreich und Holland extra für den Umzug angereist zu sein.

Die Floats werden von Kollektiven wie Gegen, Disconnekt, Freak de l’Afrique oder dem Club Anomalie bespielt. Für Kritiker:innen von Rave The Planet bekommt die Redewendung „Sich vor den Karren spannen lassen” damit eine neue Bedeutung, für die Veranstaltungsreihen und Kulturorte, denen Motte seine unbegrenzte Solidarität ausspricht, ist die Teilnahme eine prima Möglichkeit, neues Publikum anzuziehen und sich auf großer Bühne zu inszenieren – ethische oder szeneinterne Bedenken mal ausgeblendet.

Und während sich die Wägen in gemächlichem Tempo, dafür aber zumeist mit wuchtigen, stilistisch breit bespielten Anlagen ausgestattet ihren Weg durch die westliche Innenstadt bahnen, an der Spitze des Zugs natürlich Motte, floriert an den Rändern das Geschäft. Spätis quellen über vor Kund:innen, vor den kleinen Shops, selbst noch einige Seitenstraßen weiter, bilden sich lange Schlangen. Wer die Geduld aufbringt und es zum Kühlschrank schafft, merkt: Wirklich kühl sind nur noch die alkoholfreien Biere, es herrscht Ausnahmezustand. Am Wittenbergplatz hat die behelfsmäßige Kommerzialisierung der elektronischen Musik über die Hochkultur triumphiert. Fassbierpreise für 0,3 und einen halben Liter kleben über einem Plakat, das eine Ausstellung über die Großen Meister der Renaissance bewirbt.

Rave The Planet 2022 Fassbier by Maximilian Fritz
Die Großen Meister der Renaissance am Boden (Foto: Maximilian Fritz)

Das bunte Treiben nähert sich langsam, aber laut seinem Höhepunkt, auf der Straße des 17. Juni wird die Karawane der Liebe bereits sehnsüchtig erwartet. Lange Reihen von Dixies wie beim Berliner Halbmarathon drei Monate zuvor stehen bereit, um die Notdurft des hydrierten Feiervolkes aufzufangen. Natürlich genügt das nicht, der grüne Tiergarten wie auch schon der graue Kurfürstendamm kurz zuvor werden mit Urin geflutet, die Enthemmung hat – wie so oft im Leben – nicht nur ihre schönen Seiten.

Abgesehen von hygienischen Kollateralschäden ist die Stimmung aber brillant. An einem Viererpissoir versammeln sich norddeutsche Veteranen. Schon in den Neunzigern Teil des feucht-friedlichen Spektakels gewesen, wie sie jovial erklären, wissen sie, wie der Hase läuft: das Ketamin kommt aus dem Nasenspray. Auf dem gepflasterten Mittelstreifen fragt ein Schotte mittleren Alters nach einer Kippe. Just, als er sie sich anzündet, nähert sich seine bessere Hälfte: „What are you even doing?”, tadelt sie ihren Mann, der eigentlich nicht mehr rauche, wie er betont, und seiner Partnerin schuldbewusst folgt, während im Hintergrund ein grünhaariges Jack-Daniels-Testimonial mit Zylinder vorbeiflaniert.

Am Großen Stern suchen sich schaulustige Kiebitze die besten Plätze, noch nicht wissend, dass der baldige Abbruch der Parade unmittelbar bevorsteht. An den Rändern des runden Platzes tummeln sich Rocker, Motorradbanden, Menschen aus der Mitte der Gesellschaft und von deren Rändern. Wirklich politisch wirkt die Veranstaltung zu keiner Zeit. Alle tanzen mit allen, ist ja umsonst! Es hat was von Fasching, von Karneval. Zur Erinnerung: Eine der Forderungen der Initiator:innen ist die zukünftige Anerkennung als Demonstration auch ohne Redebeiträge. Mehr Musik, mehr Exzess.

Dr. Motte Fahne Rave The Planet 2022
Hielt auf seinem Wagen nicht nur diese Fahne in der Hand: Dr. Motte (Foto: Maximilian Fritz)

Den weiß Motte wie kaum ein anderer zu befördern, das muss man ihm lassen. Einfach formulierte Ziele, ein nach wie vor vages Motto und Spaß als Minimal- und zugleich Maximalziel. Das funktioniert, ebenso wie Sets von Altbekannten wie Westbam oder Mijk van Dijk, der „Schöneberg” passenderweise am Nollendorfplatz zum Besten gab. Eine bessere Rückkehr hätte sich der ewig junge Motte nicht erträumen können.

Und doch: Die Berichterstattung am Tag danach dominierten Negativschlagzeilen: Motte hat das Logo der Freedom Parade, des Querdenker-Kollektivs um Captain Future, hochgehalten. Ein Fauxpas, der ihm laut eigener Aussage „megapeinlich” ist und ihn zu einer seiner häufigsten und zugleich verhasstesten Tätigkeiten zwingt: Der Entschuldigung. Seine Kritiker:innen beschimpft er mittels Adorno-Zitat trotzdem indirekt als Faschist:innen, von der Bedeutung des Symbols will er nichts gewusst haben. Immerhin: Das Wetter wurde tagsüber dann doch besser.

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