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November 2021: Die essenziellen Alben (Teil 1)

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Adam Strömstedt – Escalator Music (KANN)

Adam Strömstedt – Escalator Music (Kann)

Was kommt nach elevator music? Der schwedische Produzent Adam Strömstedt mit Wohnsitz in Australien gibt auf seinem Debütalbum eine Antwort: Escalator Music wechselt das Personenbeförderungsmittel vom Fahrstuhl zur Rolltreppe und ist damit nicht unbedingt stromsparender, dafür allerdings weniger nichtssagend als die einst auch „Kaufhausmusik” genannte Variante von Muzak.

Strömstedt hingegen steuert Clubmusik an, aus verschiedenen Richtungen, von sachte pulsierendem House geht es über entspannt federnden Downbeat, weichkonturierten Electro und Acid durch die zurückgelehnteren Spielarten von intelligenter Tanzmusik. Bei den Beats schreckt er nicht vor scharf gesetzten Synkopen und überraschenden Effekten wie einer gedämpften Triangel zurück. An anderer Stelle wird selbst dem Dub Reggae kurz Respekt gezollt. Ist ein bisschen ein Kessel Buntes, der jedoch mühelos durch Strömstedts höchst ausgeschlafenes Rhythmusverständnis zusammengehalten wird. Eine auf kluge Weise gutgelaunte Platte, die einiges an Ansteckungspotenzial hat. Tim Caspar Boehme

Alva Noto – HYbr:ID Vol. 1 (Noton)

Alva Noto Hybrid

Das alle Stücke verbindende Element auf HYbr:ID Vol. 1 ist Bass in verschiedenen Erscheinungsformen: Als Subfrequenz, als knalliger Rhythmusgeber, als Bass-Drum, als die übergreifende Klangästhetik prägender Faktor. Neben dieser Konstante lebt das Album aber von einer für Carsten Nicolais Projekt Alva Noto eher untypischen Abwechslung, das Spektrum geht von klanginstallationsartigen Stücken über Ambient- bis hin zu ungenormt-groovigen Tracks wie „Oval Random”, das in einer Wunschwelt zur Primetime in den besten Technoclubs laufen würde. Und „Oval Asimoo“ überrascht mit einem im Alva-Noto-Kontext fast schon als irritierend wahrgenommenen, „normalen” Trip-Hop-Beat, der sich aber nach wenigen Takten auch als vollkommen stimmig erweist.

Liest man dann nach zwei kompletten Hördurchgängen die Informationen zu diesem Album, erschließt sich sein Aufbau – HYbr:ID Vol. 1 ist Teil eins einer Reihe, die „heterogene Kompositionsmethoden zusammenbringt”, in diesem Fall als Auftragskomposition für das choreografische Stück Oval, aufgeführt 2019 an der Berliner Staatsoper. Dass dafür eine eher heterogene Abfolge von Stücken Sinn macht, könnte der nicht gerade einfachen Aufgabenstellung geschuldet sein, in den Kompositionen „astrophysikalische Phänomene, Fiktion und Performance-Bewegungen miteinander zu verbinden”. Aber, wie so oft, sind diese Informationen nicht wirklich notwendig, um einen Zugang zu der Musik zu finden. Bass, Klang und Ideenreichtum erreichen – wie eingangs geschildert – auch im Blindtest ohne Umwege, und natürlich gab es auch schon vor HYbr:ID Vol. 1 hin und wieder Alben von Nicolai, die nicht durchgehend lediglich einer Stimmung oder Stilblaupause gewidmet waren. Mathias Schaffhäuser

Arovane – Reihen (12K)

Arovane – Reihen (12k)

Uwe Zahn alias Arovane hat auf A Strangely Isolated Place, Echochord, Puremagnetik, DIN und etlichen anderen Labels veröffentlicht – diese Liste zeigt schon ein wenig, wohin die stilistische Reise geht. Sein Album Tides, vor mittlerweile unglaublichen zwei Dekaden auf Thaddeus Herrmanns Label City Centre Offices erschienen, gehörte zur Speerspitze der damals immer mehr erstarkenden IDM- und Listening-Electronica-Szene.

Auf Reihen bestätigt sich diese Klasse einmal mehr, Zahn geht auch auf seinem laut Discogs mittlerweile 23. Longplayer keine Kompromisse in Richtung Vermarktbarkeit oder Zeitgeist ein. Das Album beginnt mit einem von geloopten und klanglich bearbeiteten Klaviersounds getragenen Stück, das ein wenig an die Werke Ryuichi Sakamotos erinnert. Danach folgen drei Tracks, die flächiger arrangiert sind, dichter im Sound, wobei sich nie gänzlich analysieren lässt, welche Instrumente im Einzelnen zum Einsatz gekommen sind, zu viele Loops überlagern sich und ergeben einen komplexen Sound zwischen Synthesizer und unidentifizierbaren Drones.

Die Stimmung dieser Stücke ist harmonisch und versöhnlich, hier wird keine Lockdown-Depression vertont. Im Gegenteil, selbst die klanglich dunkleren Stücke wie „Sunter” oder „Sicht” sind überwiegend in Dur gehalten und strahlen etwas Freundliches, schwer verbalisierbar Einnehmendes aus, das jenseits von funktionaler Relax- und Heile-heile-Gänschen-Musik angesiedelt ist. Ähnliches gelingt nur Ausnahmekünstler*innen wie Stars Of The Lid oder Markus Guentner, der gerade auf A Strangely Isolated Place ein neues großartiges Album veröffentlicht hat. Arovanes Reihen gehört in genau diese Liga, die es vermag, Ambient ohne Kitsch und New-Age-Klamauk zu kreieren. Mathias Schaffhäuser

Emmanuel – Force Of Nature (ARTS)

Emmanuel – Force Of Nature (Arts)

Bevor Emmanuel Beddewela 2013 ARTS aus dem Boden stampfte, wurde sein Output mehrheitlich über kleinere Labels vertrieben, mit Streuung von London über Berlin bis Tel Aviv. Dennoch: Für die meisten Clubheads blieben seine Produktionen damals weit unterm Radar, fanden höchstens in vereinzelten Sets hier und da mal statt. Vielleicht auch dadurch bedingt, dass er, als Tech-House Ende der 2000er ein abermaliges Revival feierte, unter seinem Realnamen Emmanuel in diesem Bereich erste Schritte auf der Suche nach einem eigenen Sound unternahm.

Den sollte er später woanders finden. Zunächst mit einem guten Dutzend amtlich pumpender EPs, dann mit dem Debüt Rave Culture und einer offenkundigen Hommage an jene, deren Zukunft er ganz richtig in der Schnittmenge von Industrial-, Dub- und Ambient-Techno ausmachte. Heute ist ARTS eine todsichere Bank für frische wie erfahrene Produzierende, die den Tanzflur gerne mal als sakralen Ort der Entrückung begreifen und damit zum Kern der Dinge vorstoßen – von I Hate Models über Parallx und Introversion bis Keith Carnal und Thomas Schumacher releasen hier einige der Besten unserer Zeit.

Dass Emmanuel mit Force Of Nature nun vieles aufgreift und ausreift, was ihm und seinem Label im letzten Jahrzehnt zu einer unverwechselbaren Signatur verhalf, könnten manche als Bequemlichkeit abtun – doch der Schritt gelingt hier auf ganzer Linie verflucht elegant. Alle zwölf Tracks dieser Platte sind atmosphärisch ausufernd, zugleich aber völlig fokussiert, wenn es um den Einsatz von Shots und Pads, das wirkungsvolle Widerspiel aus Beats und ozeanischen Atmosphären geht. Vom lauwarm pulsierenden „Forecast” über das gen Morgen weisende „Beauty Of A Moment” bis zum sehnsuchtsvollen „Nightburn” ist ein träumerischer Tenor in allen Tracks dominierend, getrieben von industriell schimmerndem Rhythmusdesign und diesigen Sommervibes bar jeglicher Verkitschung.

Hier sitzt jede Modulation, jede melodische Anbahnung, jeder Break. Das Cover lässt es fast erahnen: Hätten Boards Of Canada irgendwann einmal versucht Techno zu produzieren, wäre sicher etwas Ähnliches wie Force Of Nature dabei entstanden. Nils Schlechtriemen

Farron – Shinrin Yoku (Shaw Cuts)

Farron Shirin Yoku Shaw Cuts

Zu einem Zeitpunkt, an dem sich das Schmähwort Business Techno zu formieren begann, schwamm das von Farron 2015 gegründete Label Shaw Cuts gegen den Strom. Es fiel von Anfang an durch eine spielerisch-elaborierte Variante von oft auf Breaks und Breakbeats basierendem Techno auf. Nach einigen spannenden Maxis auf dem eigenen Imprint und auf befreundeten Labels wie Forbidden Planet oder zuletzt auf Voitax legt uns der Labelgründer nun sein Debütalbum vor die verschnupfte Corona-Nase. Und was für eins.

Auf Doppel-Vinyl und digitalen Formaten finden sich mit viel Leidenschaft modellierte Track-Skulpturen, zwölf an der Zahl, jeweils zwischen relativ kurzen drei und circa fünf Minuten. Somit brechen die Tracks mit der in jüngerer Zeit oft zu funktional orientierten Dramaturgie verschwitzter Großraum- und Technofestival-Nächte und machen dieses feine Dutzend schwebender Schönheiten zu einem intimen Klangerlebnis für zu Hause. Das Album vereint schwer gesättigte Perkussivität und gebrochene rhythmische Strukturen mit meditativem Ambient, hier und da betont durch dunkle, aber dennoch weiche, modulierte Tupfer aus erhabenen Akkorden Detroiter Natur.

Jeder Track scheint zu schweben und schafft es alleine, ohne Probleme für sich stehen. Die kurze, überschaubare Dauer der einzelnen Stücke verstärken den figurativen Charakter und hält die lose schwebenden Kompositionen sehr gut zusammen. Farron hat mit dem Album einen soliden, eigenen Weg gefunden, liebgewonnene klassische Techno-Elemente in gebrochener Form in die nachpandemische Zukunft zu katapultieren. Großräumige Techno-Klänge werden wieder zu einem privaten, hypnotischen Hörerlebnis und befreien sich von allen verknoteten Dogmen zu einer der frischesten Klang-Kombination der letzteren Zeit. Richard Zepezauer

Glaskin – Klaftertief (YAEL Trip)

Glaskin – Klaftertief (Yael Trip)

Ist es Versailles oder ist es ein Breakbeat-Album? Angesichts der Wohlangeordnetheit, der geometrischen Anmut, der sorgsamen Faltung dieser Tracks bleibt der Mund offen stehen. Schon mit dem Intro fällt die Präzision aller Effektlängen auf. Je komplexer der Track, desto stärker entfaltet sich der Schallraum als weite Welt: „22 Grams” ebnet die Spuren durch vertikale und horizontale Linien und erzeugt so Hirnkitzeln und motorischen Antrieb. „Hydrogroove I” taucht als U-Boot mit Propellerantrieb durch die Meere und klingt überzeugend aquatisch, weswegen es wieder auftaucht als „Hydrogroove II”, als hätte der Beat zwischendrin einen kurzen Narkoseschlaf gehalten. Schon doof, dass Immersion gerade so ein hohles Modewort ist, denn die Architektur dieser beiden Stücke zieht komplett in eine menschenlose Unterwasserwelt, und das mit großer Macht.

Gut was los demnach auf diesem Debütalbum der beiden Münchner Brüder Jonathan und Ferdinand Bockelmann. Als Glaskin haben die Residents des Blitz schon einige aufregende EPs veröffentlicht, hier bringen sie ihren Klangentwurf ins Zentrum: eine wirklich atemberaubende Sammlung an feinsinnigen, eleganten Breakbeat-Tracks, die ebenso Techno und seine Mythen kennen (Drexciya!). Dass die Beats weniger klobig stampfen als die einiger anderer Producer im Feld, tut ihrem Zuck dabei nicht weh, denn alles ist auf Linie gebracht. Und zwar, siehe oben, zum Besten: Himmlische Ordnung wird hier aufgesucht, ein hübscher Aspekt einer guten Nacht unter Tanzenden. Christoph Braun

JASSS – A World Of Service (Ostgut Ton)

JASSS – A World Of Service (Ostgut Ton)

Als sie 2017 mit dem via iDEAL veröffentlichten Mörderdebüt Weightless quasi aus dem Nichts einen komplett singulären Style in Vollendung präsentierte, galt Silvia Jiménez Alvarez vielen als eine der großen kommenden Produzentinnen unserer Zeit – eine, die umzudefinieren vermag, was Clubmusik sein will, sein darf, sein kann. Irrsinnig sequenzierter Electro-Industrial bohrte sich da durch dunkelsten Ambient, Drone-Gerüste, tribale Endzeitvisionen und Infarkt-Techno am Anschlag. Keine Selbstverständlichkeit in einer Dekade, die nicht nur gefühlt, sondern faktisch tausende Facetten elektronischer Musik neu aufgefächert und etabliert hat – wahrscheinlich mehr als je zuvor.

Zur Recht waren die Erwartungen also hoch, als sie mit der EP Whities 027 letztes Jahr auch noch einen maximalen Brecher von Tech-Trance aus dem Ärmel schüttelte und erste Infos zu einem Nachfolger durchsickerten. Nun ist A World Of Service auf Ostgut Ton erschienen und zeigt einerseits, wie wandlungsfähig Alvarez unter ihrem Alias JASSS hochmoderne Eklektizismen verzwirbelt – andererseits aber auch, wie unspektakulär ein Unterfangen dieser Natur enden kann.

Das Tempo wurde rausgenommen, die stilistische Bandbreite mehr ins Spektrum von Trip-Hop, UK Bass und Pop verschoben, generische Autotune-Vocals addiert und das Ganze hinterher mit einem Narrativ über soziokulturelle, sprachliche, identitätsbezogene Dekonstruktion angereichert. Gähn. Spannung kommt bei Nummern wie dem träge stampfenden „Camelo” oder „Busto” mit seinem dröhnigen Nachzahlenmalen jedenfalls kaum auf. Ja, selbst in der schnell vergessenen Trip-Hop-Romantik des Titeltracks oder dem eindrucksarmen Rausschmeißer „Wish” ist wenig von der ungestümen Energie zu spüren, die vorige Veröffentlichungen von JASSS zu verdammten Ausnahmewerken gerieten ließen. Auch auf die Gefahr hin, die begnadete Künstlerin oder ihre Promo-Agentur zu verärgern: Manchmal ist es vielleicht besser, nicht ständig etwas Neues auszuprobieren, sondern zu verfolgen, was funktioniert und jede Menge Potenzial birgt. So viel Ehrlichkeit muss sein. Nils Schlechtriemen

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