Auf ein feinherb-melancholisch innerliches Neoklassik-Album am Klavier mag die Welt jetzt nicht so händeringend gewartet haben. Wenn es allerdings die Balance aus schwermütiger Introspektion und freundlich-elektronisch aufgewertetem Piano-Balladentum so souverän und inspiriert hält wie The Rest is a Gift (Cloud Hills/Project C, 8. Oktober), das Debüt von Kristian Nord, ist es schon sehr erfreulich. Kein Wunder, der in Los Angeles lebende Münsteraner ist Surfer, bringt also bereits in seinem Lebensstil und Charakter eine gewisse Lässigkeit ins Genre, die das Pathos, das sich manchmal gefährlich nahe an die Ästhetik von Firmenpräsentationen aus dem Healthcare-Sektor heranwagt, also hart an der Welle brutalsten Klavierkitsches surft, dann doch nie abstürzen lässt.
Der ebenfalls weit rumgekommene Italiener Ed Carlsen produziert, Kristian Nord nicht unähnlich, üppige Electronica im Sound der populären Neoklassik, also mehr analog-warme Synthesizer als erkennbares Klavier, aber eben jederzeit in ausgefeilten, aufwendig arrangierten und produzierten Stücken, die eher instrumentale Songs denn Tracks sind. Carlsens Major-Debüt Grains of Gold (XXIM/Sony Masterpieces) fühlt sich denn auch mehr wie ein gut abgehangenes Alterswerk an als ein himmelstürmendes Anfängerwerk. Sein exzellentes Gespür für Timing und das genau richtige Maß an Schmelz und Pathos machen sein Album zu einem erfreulichen Vermittler zwischen neuem Mainstream und altbewährter Elektronik.
Noch einer, der gerne am Limit des musikalisch-emotionalen Overloads arbeitet, ist Peter Zirbs. Der Wiener mit Techno-Mainstream-Background verbindet ebenfalls einen insgesamt elektronischen Sound mit dem Piano als Melodieträger über fiependen Synthesizern und blubbernden Bässen, rhythmisch und Track-inspiriert auf der EP Splinters (Fabrique, 1. Oktober), allerdings nur sparsam mit stolpernden Beats unterfüttert. Das macht mehr als einmal wirklich Sinn und Spaß, und das klavierische Pathos ist bei aller Fülle immer im richtigen Maß eingesetzt.
Ein wenig Restsonne nach einem atmosphärisch wie klimatisch verkorksten Sommer kann nicht schaden. Die herbstliche kalifornische Kassettenkollektion von Not Not Fun konserviert jedenfalls genügend Restwärme in feinen Lo-Fi-Loops, um noch ein paar Tage weiter durchzuhalten. Glo Phase ist der in Los Angeles lebende Joseph Rusnak, der auf Early Moments (100% Silk, 8. Oktober) House im mittleren BPM-Bereich produziert, der jederzeit nach zartschmelzender Chill-Out-Sundowner-Electronica schmeckt.
Der Japaner Soshi Takeda geht die Sache auf Floating Mountains (100% Silk, 8. Oktober) sogar noch etwas entspannter an. Die Beats im ebenfalls mittleren bis unteren Geschwindigkeitsbereich schleichen sich erst nach geraumer Zeit in die locker vor sich her klöppelnden Tracks, wenn sie es denn überhaupt tun müssen.
Kirill Vasin betreibt seit knapp zehn Jahren von St. Petersburg aus das Label Shells Rattles und ist zudem als DJ und lokaler russischer Exponent des Dublab Radio aktiv. Eigene Releases unter dem Alias Hoavi sind allerdings selten und wie die SR-Tapes gesuchte Raritäten. Die Produktionen sind in ihrer wilden Mischung aus Electronica, Ambient, Breakbeat-Techno und House immer unprätentiös stimmig und überzeugend gewesen, was erst recht für Invariant (Peak Oil, 8. Oktober) gilt. Die Tracks haben, obwohl sie im modernen hochaufgelösten Sounddesign daherkommen, ein Neunziger-Feeling, das gleichzeitig hibbelig und überdreht, doch stets chillig und relaxt daherkommt, dabei nie aber ins Käsesauce-Trance-Klischee abrutscht. Also etwas, das damals nur die allerbesten IDM-Acts hinbekommen haben und bis heute nicht einfach so als Retro-Gefühl abrufbar ist. Daraus resultiert eine eigenartige Zeitlosigkeit.
Wie Ambient aus der Theorie und Praxis von Jazz heraus gedacht und gemacht werden kann, das wissen die drei Norweger von Mr Mibbler besser als die meisten (siehe Motherboard vom Januar). Leave Your Thought Here (NXN Recordings, 15. Oktober) führt dieses Prinzip von Jazz (sehr verkürzt gesagt: Improvisation und Kollaboration) jetzt noch weiter mit diversen meist nordischen Mitmusiker*innen, die das Repertoire der Band in alle Richtungen erweitern. Von smoothen, barjazzigen Vocals und singender Säge zu freundlichen House-Beats geht vieles sehr angenehm und organisch zusammen und bleibt doch immer im Register und Volumen von sanfter Ambient-Electronica.
Wie die Neoklassik, die restaurative aber so viele Möglichkeiten eröffnende Besetzung des musikalischen Raums durch ein Streichquartett, noch einmal ganz neu gedacht werden kann, demonstriert der grandiose Éclat (Infiné, 29. Oktober) des Réunioner Produzenten Jérémy Labelle. Dieser vermittelte bereits in seinen elektronischen Produktionen zwischen lokaler Réunioner Tradition und globaler Clubmusik, treibt auf Éclat die Kreolisierung von Stilen noch eine Stufe weiter in tatsächlich weitgehend unbekanntes Territorium, das sich aber doch erstaunlich nahe und ultimativ verständlich anfühlt. Von Fremdheit keine Spur, wird der so „alteuropäisch” konnotierte Sound eines Streichquartetts keineswegs ein Hindernis für den musikalischen Ausdruck des Réunioner Maloyas, dessen Modernisierung und Erneuerung Labelle in all seinen Arbeiten vorantreibt – für die elektronische Musik ist es das ja sowieso nie gewesen.