Die unmittelbar zur Weltdominanz zu krönende Sino-Pop-Avantgardistin Yikii setzt dem nochmal ein toxisches Sahnehäubchen auf das kluge Köpfchen. Unglaublich cute und abgründig ist Crimson Poem 深紅之詩  (Danse Noir, 1. Oktober), ihr erstes Album auf dem Label von Aïsha Devi. Ein Statement, wie krass Introversion, wie explizit und outgoing Melancholie werden können, wenn man sie nur lassen will. Somnambul und In-Your-Face sind keine Gegensätze mehr. Noch etwas experimenteller als Caro❤ und von multiplen Einflüssen und Kraftfeldern durchzogen, die von Gabber über Beat-Dekonstruktionen bruch- und nahtlos in Shoegaze und Ambient übergehen können, von Post-Post-Club auf eine Bühne, auf der Yikii neben BTS stehen könnte. Hyperkawaii natürlich nicht minder.

Extrovertiert und isolationistisch, inwendig intensiv und outright weird, ist das die Hit-Formel für avantgardistische Popmusik? Etwa in der Form, in der sie die Schweizer Produzentin Daniela Weinmann alias Odd Beholder perfektioniert hat? Die Stücke ihres lange verzögerten und noch und nochmal überdachten zweiten Albums Sunny Bay (Sinnbus, 10. September) sind eben nicht nur in einer „besseren” oder „gerechteren” Welt große Synthpop und Bedroom-R’n’B Hits. Sie sind es hier und jetzt und für alle. Wie bei Billie Eilish machen die Widerhaken, die Einsamkeit und Trauer, die Zurückhaltung und die Abwehr gegen Vereinnahmung und generell gegen die Unbilden der Welt, die mehr oder minder deutlich aus so gut wie allen Odd Beholder Stücken sprechen, diesen Appeal eher noch wertvoller, als Popmusik eben noch authentischer in der anti-authentischen Abwehr von Pop. Fragile Dialektik auf soliden Bässen.

Was die schottische Vokalistin, Produzentin und (klar, ne?) Dudelsack-Spielerin Genevieve Murphy aus ihren Kindheitserinnerungen eines offenbar epischen wie einigermaßen aus dem Ruder gelaufenen achten Geburtstags herauszieht, ist so hoffnungsvoll tolle Popmusik wie abgefahren seltsame Collagenklangkunst. Aber eben jederzeit auf der sonnigeren Seite des Lebens gelegen. I don’t Want to be an Individual all on My Own (Unsounds, 1. September) forscht dem eigenen Gedächtnisversagen, dem dazu Erfundenen und tröstlich Vergessenen nach und rekonstruiert dieses offenbar einschneidend prägende Kindheitserlebnis als ultimativ anschlussfähige Sound Art aus Pop-Techno.

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Die elektromechanischen Loops des Nick Storring klingen auf Newfoundout (Mappa Editions) ebenfalls gerne mal nach Eskalation im Spielzimmer. Der kanadische Komponist und Produzent ist eine der Integrationsfiguren der Musikszene Torontos, baut gerne Brücken zwischen Neoklassik, Indie und Postrock, Elektrokaustik und freier Improvisation. Storrings Soloarbeit klappert und dengelt befreit durch maschinelle analoge Loops und gespieltes Instrumentarium mit großer Freude am freien, aber doch kontrollierten Krawall, aber einem bleibenden Sinn für sinnige Zusammenhänge.

Ebenfalls neu im Portfolio des kleinen wie spannenden slovakischen Labels Mappa Editions sind die Dalmarnock Tapes (Mappa Editions, 7. September) der finnisch-schottischen Vocal-Improv-Künstlerin Maria Rossi, die sich Cucina Povera nennt, nach der einfachen, aber kunstvollen Kulinarik Italiens. Im Geiste ihres Projektnamens baut Rossi ihre Stücke aus einfachen, kaum bearbeiteten Loops ihrer Stimme und ganz wenigen weiteren Zutaten wie raschelnden, knisternden Field Recordings oder sogar nur Tape-Rauschen.

Und gegen gut abgehangenen indietronischen Weirdo-Pop, wie von Jimmy Tamborello seit über 20 Jahren in konsistent hoher Qualität praktiziert, gibt es in dieser Kolumne selbstverständlich niemals die allergeringsten Vorbehalte. Away (Morr, 3. September), das zweite Dntel-Album diesen Jahres, ist passenderweise das extrovertiertere und Pop-affinere der beiden. Mit Stücken, die die Tachonadel zwischen Klangspielerei und „richtigen” Songs klar in Richtung letztere ausschlagen lassen. Mit  einem psychedelischen Vibe in milder Experimentierfreude und der Freude an milchig-dunstverhangenen pazifischen Sonnenuntergängen der perfekte Soundtrack des zumindest hier so kaum gewesenen Sommers.

Full On Psych-Freakout, das ist die Domäne der Chilenen von Föllakzoid. Deren Gründungsmitglied Domingæ befindet sich gerade im komplexen, oft schmerzhaften und nicht zuletzt teuren Prozess der geschlechtlichen Transformation, der mit diesem Fundraiser unterstützt werden kann. Ihr Solodebüt Æ (Sacred Bones, 10. September) dokumentiert zwar eine tendenzielle Abkehr vom Bandsound Föllakzoids, nicht unbedingt aber von deren psychedelischer Experimentierfreude, die die zwischen Japan und Mexiko entstandene, vielfältig vernetzte EP ins Elektronische wendet und in einen näher an modernem Düsterknister-Techno und pulsierender Minimal Music orientierten Flow übersetzt. Ebenfalls ein Übergang, eine Transition, die die besten Qualitäten von früher behält, aber doch unerschrocken in neue unbekannte Welten hineinfühlt.

Ziúr, beste Kategoriensprenger*in aller Techno-Folgeerscheinungen, hat es ebenfalls wieder getan. Die EP Blur (Now Now), zweite Laufnummer des Ziúr eigenen Labels, flattert und fleddert schon wieder so hoffnungsvoll inspiriert durch die Konventionen, dass es eine diesmal doch (verhältnismäßig) helle Freude ist, sich dabei erwischen zu lassen, nicht mehr wiederzuerkennen, ob man sich gerade in einem modrigen Postwende-Keller oder auf einem psychedelisch beleuchteten Outdoor-Festival befindet (am helllichten Tag).

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