Dem Londoner Lee Gamble ist es immer gut gelungen, seine außermusikalischen Interessen in seine Produktionen einzubringen. Gambles Sound ist im strikten Gegnsatz zu Shackleton immer hochauflösend und kristallklar, sogar dann, wenn implizit schmutzig dröhnende Samples der Motoren von Performance Cars und Autorennen als Basis für die Tracks dienen. Diese gaben zusammen mit der Anatomie von Reptilien und einer Faszination für die Machine-Learning-Algorithmen der künstlichen Intelligenz den Rahmen für die EP-Reihe aus In A Paraventral Scale, Exhaust und nun abschließend A Million Pieces Of You (Hyperdub, 10. September), die im CD Format als Flush Real Pharnyx 2019 – 2021 (Hyperdub, 10. September) noch einmal verfügbar wird. Die kristallinen Digitalsounds und die kristallisierten, transparent gemachten Samples fügen sich zu einem sehr menschlichen, sehr körperlichen Klangpanorama. Ein wirklich großes Ding.

Dass Ambient und seine strenge Schwesterdisziplin Sound Art weit mehr sind als nur Klangtapeten und konkrete Wirkungen haben, im Zweifelsfall sogar ganz unmittelbar einen Ort, ein Leben, eine Situation verbessern können, das sollte eigentlich eine Binse sein. Als Annahme ist es jedenfalls stete Basis dieser Kolumne. Als spezifische Ausformung und bestmögliches Beispiel kann die Klangkunst von Norman W. Long aus Chicago dienen. Er samplet und thematisiert in seinen Soundarbeiten nicht nur die Lebensumstände seiner Hood, dem postindustriellen, von Verwahrlosung und Verfall geprägten South Deering im Südosten der Stadt, er versucht dem initiativ etwas entgegenzusetzen. Zum Beispiel mit einer Klanginstallation und der Neubegrünung eines kommunal-lokalen Parks. Die grandiose Soundcollage BLACK BROWN GREEN GREY (Hausu Mountain, 10. September) steht damit in direktem Zusammenhang. Field Recordings, Dub, Noise, flächig rhythmisch gefügt in ein langes Hörspiel von urbaner Zerstörung und post-urbaner Erneuerung, Renaturierung und Reurbanisierung.

Joshua Stefane alias Endurance, einer der Betreiber von Muzan Editions, arbeitet in diesem Jahr extrem produktiv und inspiriert. Nicht nur im kuratorischen Sinn, sondern auch als Produzent. In dieser Rolle fügt er Ideen von Sound Art, Ambient und Electronica zu Klangräumen, die Kankyō Ongaku, die japanische Environmental Music der achtziger und neunziger Jahre genauso weiterführen wie ein ganz aktuelles Verständnis von Umwelt, Ambient und Drone, wie es etwa in der Klang gewordenen Solastalgie zum Ausdruck kommt.

Auf dem Tape Long-Term Memory (Muzan Editions) geschieht das in Form extrem reduzierter FM-Synthesizer-Workouts, die dem Zauber der Originale etwa von Hiroshi Yoshimura teils sehr nahe kommen. Auf der Kassette Soft Biota (Mystery Circles) imitiert Stefane ähnlich Miki Yui die Synthetik die Natur und umgekehrt. Die CD Lathe (Shimmering Moods) wiederum gibt sich am wenigsten minimalistisch und setzt auf subtile Textur und unmittelbaren, kontextfreien Schönklang im Sinne etwa des Kompakt’schen Pop Ambient.

Echos des Kankyō Ongaku sind in nicht wenigen aktuellen Produktionen zu hören. Ein sehr erfreuliches Revival, das überhaupt nichts mit nostalgischer Retro-Stimmungsmache zu tun hat. Der Spanier Nueen findet den Synthesizer/Lo-Fi-Minimalismus der Environmental Music auf Circular Sequences (Quiet Time Tapes, 2. September) in einer Umgebung von heutigem Sounddesign und rhythmischen Patterns aus Techno und Dub. Was keineswegs einen Widerspruch ergibt, die Spannung zwischen Hommage und Neufindung sorgt höchstens für etwas milde Reibungswärme, die den Vortrieb der Kassette sichert.

Salamanda, das Duo-Projekt der koreanischen DJs und Produzentinnen Uman und Yetsuby gräbt noch ewas tiefer im Unterbewussten des Minimalismus. Zu gleichen Teilen beeinflusst von der pulsierenden US-amerikanischen Minimal Music des 20. Jahrhunderts wie vom perkussiv-tribalen Holzklöppeln des Mkwaju Ensemble und Midori Takada (beide ebenfalls mit Kankyō Ongaku assoziiert, wenn auch nicht im Kern), ist Sphere (small méasures/Métron Records, 29. September), vom archaischen  Tonträgerformat (CD oder Kassette) mal abgesehen, topmodern und produktionell wie emotional exakt auf der Höhe der Zeit. Dieser organische Klopf-Minimalismus ist durch Techno und Clubmusik-Erfahrung gegangen, um sich selbst als quasi-akustischen Sound neu zu erfinden, nicht umgekehrt. Und genau das macht das Tape so frisch und erstaunlich.

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