Soweit klar: Beste Electronica, was Struktur, Sound und Charakter angeht, ist unabhängig von der eingesetzten Technik. Sodass versierte und brillante Instrumentalist*innen wie Marisa Anderson/William Tyler aus Portland, Oregon bzw. Los Angeles, Kalifornien, etwas, das sich zwar ganz klar identifizierbar nach Nylonsaiten-Akustikgitarre (Anderson) und röhrenverstärkter Vintage-E-Gitarre (Tyler) anhört, strukturell und emotional in minimale, aber extrem clever variierte, pulsierende Song-Tracks umsetzen können, die kein bisschen nach Räucherstäbchen-Wollpullover-Pub-Folk riechen. Dass das nie passieren wird, deutet schon der von Mark Fisher geborgte Titel an: Lost Futures (Thrill Jockey) ist ein weiteres verdammt gutes Beispiel dafür, wie neu und zukunftsweisend sich das vermeintlich Altbekannte anhören kann, wenn doch nur genug Inspiration dahintersteckt.
Der französische Cellist Gaspar Claus ist ein beliebter Sessionmusiker und Kollaborateur, gefragt speziell, wenn es um Neoklassik und Elektronik, Film, Fernsehen oder Tanztheater geht. Am bekanntesten dürfte allerdings das Duo mit seinem Vater, dem spanischen Flamenco-Gitarristen Pedro Soler, sein. Allein hat Claus bisher kaum gearbeitet, so ist Tancade (Infiné, 10. September) eine mehrfache Premiere.
Als freies, nicht für eine spezifische Funktion geschriebenes Solodebüt und als Solo-Cello-Album (fast) ohne Elektronik. Dafür gibt Claus dem allein gestellt sowieso schon schwer melancholischen Sound des Cello noch eine gewisse elektroakustische Subtilität mit, die den moribunden Sehnsucht- und Drone-Faktor der zwischen Soundtrack und Postrock angelegten Songtracks weiter verstärkt. So ist Tancade ein genuines Kopfhörer-Album, trotz der kargen Besetzung.
Nette Idee. Sound als Zeitgeber – und das wortwörtlich verstanden. Für die jüngste Compilation seine Labels Other People hat Nicolás Jaar neben sich selbst sieben Künstlerinnen und Künstler eingeladen, einen musikalischen Rahmen um ein Stück Stille definierter Länge herum zu gestalten. Die Stille also wie eine Höhle, daher der Name Caves (Other People), wie ein Tal, einen Canyon im Wavetable zu umspielen. Zwischen drei und 25 Minuten haben die Beteiligten so umrahmt, mal wie Lucrecia Dalt mit deutlich mehr Sound-Rahmen als Stille-Inhalt, mal wirklich presque rien. Die Funktion der Stücke ist völlig offen gehalten, in einigen Fällen besonders der längeren Fermaten bietet sich eine Kurzmeditation an, wie bei Laraaji.
Die New Yorkerin Nicky Mao wurde in vergangenen vier, fünf Jahren zu einer der bemerkenswertesten Figuren der experimentellen Elektronik weltweit. In ihren Produktionen bringt sie den ungebunden bohemischen Geist der New Yorker Post-Punk- und Kunstszene der Achtziger mit der In-Your-Face-Attitüde des frühen Industrial-Dub und den schmutzig romantischen Collagetechniken des originalen Dark Ambient zusammen, ohne jeweils deren Sound eins zu eins nachbauen zu wollen.
Die ästhetische und politische Ambivalenz dieser Originale sind ihr allerdings durchaus lieb und teuer. Ihre künstlerische Identität als Hiro Kone sorgt daher immer für Reibungspunkte, wenn nicht gar offene Wunden (politisch-ästhetisch), aber klingt dabei immer deutlich nach genau Hier und Jetzt und Heute, nach dem, was eine deutlich jüngere, globalisierte, vernetzte Generation von Musiker*innen gerade abseits der altbekannten (westlichen) Musikmetropolen angestoßen hat. Auf dem vierten Hiro-Kone-Album Silvercoat the Throng (DAIS, 24. September) ist das nicht anders, die Kollaborationen mit ganz alter (travis von ONO) und ganz junger (Speaker Music) Avantgarde klingen zu 100 Prozent nach Hiro Kone an den Grenzen dessen, was ein freier, multiformer Geist und Körper in 2021 mit sich und den anderen anfangen kann.
Zu ungefähr gleichen Teilen Musikwissenschaftlerin, Komponistin, Musikerin und bildende Künstlerin, bringt die Australierin Megan Alice Clune verschiedene, aber nicht unbedingt voneinander ferne künstlerische Welten zusammen, die ihrer projektbasierten Arbeit eine immense Bandbreite geben. Wobei ein Kerninteresse immer in Ambient, verstanden als Ambiente, als Umweltmusik, lag und liegt. Das ist auf If You Do (Room40, 10. September) nicht anders, wobei hier noch die Idee der Stimme als Instrument eine tragende Rolle spielt. Was keineswegs bedeutet, dass die Stimme hier das dominante Instrument ist. Sie fügt sich im Sinne von Ambient in die Umgebung, wechselwirkt, schafft Raum und Zeit, immer im Zusammenspiel mit den anderen synthetischen und gespielten Klängen.
Mari Maurice alias More Eaze garantiert ebenfalls diese gewisse Abwesenheit von Vorhersehbarkeit, fast noch krasser als der hiesige Sommer dieses Jahr. Einzige Konstante bleiben der experimentell offene Zugang zu Klängen und die stete Beschäftigung mit Fragen von Identität, Gender und Gemeinschaft, zuletzt etwa im Duo Asemix, siehe Motherboard August.
Die jüngste Seitwärtsbewegung hat sie zusammen mit Orange-Milk-Labelboss Seth Graham unter dem wunderbar ausdrucksfreien und digital praktisch unsuchbaren Projektnamen —__–___ auf The Heart Pumps Kool-Aid (Orange Milk, 10. September) zu einer eigenwilligen Version von Trap-R’n’B-Improv-Neoklassik mit unvermittelten Noise-Ausbrüchen gebracht. Ein Album, auf dem schon von Track zu Track nicht abzusehen ist, was als nächstes kommen könnte. Selbstverständlich schwerstens beeindruckend, da Maurice und Graham eben auch superschön und entspannt können, wenn sie wollen.