Immediate Proximity stehen schon mit ihrem Namen gegen soziale Isolation und die oberste Direktive des Abstandhaltens. Das Berliner Duo von Niels Luinenburg und Diana Napirelly ist tief im hiesigen Techno verwurzelt, Luinenburg als Producer Delta Funktionen und Napirelly als DJ. Ihr noch rein digitales Debütalbum 2334 (Radio Matrix) auf Luinenburgs Label ignoriert die reine Lehre des Berlin-Techno allerdings weitgehend. Stattdessen beleuchten sie die dunklen Ecken, die Kühlkammern der genrefreien Elektronik mit grellem blaustichigem Laserlicht. Von Post-Industrial mit Dark-Wave-Lyrics über trendige Gabber-Terrorbeats bis zu dysfunktionalem Dark Ambient mit schmorenden Modularkabeln wird das Album allein von einer metallisch schmeckenden Coolness zusammengehalten. Eine Vision von IDM jedenfalls, die deutlich mehr nach Zukunft klingt als das, was die Matrix momentan sonst so hergibt. Und für ganz und gar gestrig-altmodische Hörer ist eine Vinyl-Ausgabe des Albums für die Zeit nach Cov-19 geplant.

Eines der einschlägigsten Labels für semi-funktionale Düsterelektronik ist das in Stockholm von (unter anderem) Varg betriebene Northern Electronics. Highlights in der recht enigmatischen bis erratischen Veröffentlichungshistorie waren die Labelkompilationen Scandinavian Swords, die bislang immer von sehr verschiedenem Umfang und Format in unregelmäßigem Abstand erschienen. Die jüngste Ausgabe Scandinavian Swords IIII – Atlas of Visions (Northern Electronics, 15. Mai) ist nun die mit Abstand üppigste geworden. Die insgesamt 42 Tracks kommen in zwei Etappen als Triple-LP und Triple-Kassette heraus. Geboten wird breitestmöglich gedachte Dunkel-Elektrik. Der Trap-R’n’B von Vallmo (AnnaMelina) steht hier direkt neben einer strengen Orgelkomposition der schwedischen Elektroakustikerin Maria W Horn, was als experimenteller Gesamt-Flow und freigeistiges Mixtape bestens funktioniert. Die vorwiegend skandinavischen Künstler*innen, nicht wenige davon von den räumlich und inhaltlich nahen Posh Isolation, Janushoved oder Silicone Records ausgeliehen, decken genretechnisch alles von introvertiertem Cloud Rap über Post-Industrial oder Avantgarde-Pop bis zu neu-hippem Neo-Gabber und Post-Digi-Hardcore ab. Dabei ergibt sich auf den Vinyls eine Art Schwerpunkt in relativ geradlinigem Knister-Raschel-Techno und auf den Tapes in verzerrtem, aber schwer melodischem Analogsynthesizer-Ambient. Es gibt herausragende Stücke, zum Beispiel von Thoom, BHMF oder Soho Rezanejad, aber der Charme liegt doch im disparaten, hochspannenden wie disruptiven Flow der Kompilation.

Bei den freundlichen Freaks von Hausu Mountain in Brooklyn, New York wertschätzt man traditionell schöngeistige Dysfunktionalität und enthemmtes Rumgekreische. Die 22-teilige zweite Hauskompilation HausMo Mixtape II (Hausu Mountain) bringt die herangehensweise genau nicht auf den Punkt, sondern auf ein verpixeltes Wimmelbild mit sinister im dunkeln leuchtenden Clowns und blumigen Monstern.

Der aleatorische Schredder-IDM von RXM Reality ist für den HausMo-Wahnwitz selbstverständlich kein bisschen repräsentativ, auf blood blood blood blood (Hausu Mountain) aber in ausführlichster Langform zu bewundern. Stellt euch Autechre in ihren abstraktesten Zeiten vor, allerdings komplett unsortiert, vom eigenen Soundanspruch überfordert und mit einer schmutzigen Fantasie ausgestattet.

Die algorithmisch entfalteten Synthesizer-Miniaturen des Mick Sussmann zeitigen auf The Kressel Studies (Carrier) einen ähnlichen Effekt. Weil dem Zufall viel Raum und Zeit gelassen wird, haben Überforderung und Irrsinn eine reale Chance in all der sauber getakteten mathematischen Präzision.

Eigenwilliges gibt es genauso gut näher an Zuhause. In Köln haben wir dafür das Musik/Kunst/Galerie/Literatur-Kollektiv Baumusik, von denen es nun KEDI 2 (Baumusik), die zweite Ausgabe des exklusiven USB-Stick-Samplers in Form einer Stretch-Katze, gibt. Wie nicht besser gewohnt, mixen sich in den exklusiven Stücken liebenswerter Plumpaquatsch, japanophile Porn-Kraut-Synthesizer und feinster Electro-Techno völlig ungefiltert. Was hier neben- und ineinander geht, macht halt einfach total viel Sinn und Laune.

Für die jüngste Baumusik-Entdeckung Trope Ashes gilt das unbedingt genau so. Das Kölner Boy/Girl-Duo klingt auf der Grace Accidentally EP (Baumusik) meist so, als würden die beiden jeweils separat einen jeweils ziemlich tollen eingängigen Popsong (de)konstruieren, dazu mit Stimme und Saxofon frei drüber improvisieren und die drei bis fünf so entstandenen Stücke dann noch zu einem einzigen Track überlagern. Also ziemlich toll und komisch.

Um das Berliner Elektronik-Kollektiv Farmers Manual hat sich mittlerweile eine ähnlich widerborstige Kultur des eingängig Abwegigen etabliert. Seit ungefähr 25 Jahren aktiv, sind sie gerade so produktiv wie kaum je zuvor. Zum Beispiel hat inaud1bl3 mit der Doppelsterne E.P. (Farmersmanual GT) schon die vierte Veröffentlichung in weniger als einem Jahr fabriziert, diesmal mit ernsthaft bizarrem Gaming-Schlager-Cloud-Rap-Techno. Sein Zeitplan folgt den 13. Freitagen des Jahres. Es gibt also keine Ausnahmen und keine Entschuldigungen. Das gehört so.

Oswald Berthold gehört ebenfalls zu den Gründern von Farmers Manual und als TSX ist er der Verbindung von verstolperten IDM-Beats mit absurd üppigem Pop keinesfalls abhold. Seine EP recur2  (Generate and Test) mit Vokalistin Sue Tompkins lässt in dieser Hinsicht keine Wünsche offen.

tsx / shallow miswant no rid from sans culotte on Vimeo.

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