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Trance- und Gabber-Revival: Zehn junge und ruppige Techno-Tracks

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Foto: Press (Krampf (links) mit Casual Gabberz)

Bereits vor drei Jahren rief die GROOVE-Redaktion ein Trance-Revival aus: Alte Platten aus den Neunzigern waren wieder da, eine junge Generation an Produzent*innen entdeckte die melodieverliebten Flächen für sich. Schließlich hatten sie lange genug in der Schmuddel-Ecke gestanden. Das Revival wuchs sich zu einem Trend aus, der auf ein ganzes Genre übersprang: Mit dem Rückgriff auf Hardcore und Gabber ist Techno wieder sehr viel schneller und ruppiger geworden. Vorbei die Tage von staubtrockenem, hypnotisierendem Minimal-Techno. Hart, schnell, trancig und stark an den Neunzigern orientiert soll es heute bitte sein. Dahinter stehen nahezu ausschließlich Künstler*innen, die damals vielleicht gerade mal laufen lernten. Das Resultat ist eine Frische und Energie, die über die üblichen Recycling-Zyklen von Musik und Mode hinausgeht. Sie bringt augenzwinkernd den Cheese zurück auf die Tanzfläche.

Grund genug, sich die zentralen Protagonist*innen dieser Entwicklung anzusehen. Wir stellen zehn Tracks mitsamt ihres Kontextes vor, die diese zeitgenössische Ausprägung von Techno definiert haben – in einer Reihenfolge, die lose einige inhaltliche Querverbindungen aufzeigen soll. Springt hier direkt zu den jeweiligen Texten über Schacke, Ibon, VTSS, Tommy Holohan, Nene H, Kobosil, Krampf, Parallx, J-Zbel und Yves Deruyter.

Schacke – Kisloty People (Клуб)

Schacke
Foto: Press (Schacke)

Was zurzeit aus Kopenhagener Weltkriegsbunkern scheppert, hallt auf der ganzen Welt in den Clubs nach. Der dänische Hauptstadtsound ist en vogue – auf einmal wollen alle wieder Techno mit Melodien, bei denen sich Ben Klock vor zehn Jahren beide Ohren abgesäbelt hätte. Martin Schacke ist einer dieser Danish Boys, die zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle herumlungern und gleichzeitig den richtigen Riecher für den richtigen Sound mitbringen. Nachdem er mit Veröffentlichungen auf dem mittlerweile eingestellten Ectotherm-Label bis in die Setlist von Nina Kraviz gerutscht war, legte der 27-jährige Däne im letzten Jahr auf der Kulør-Compilation von Courtesy nach. Seine EP Met Her At The Herrensauna knipste noch zum Jahresende die Energiesparlampen im Darkroom an. Und nachdem sich Schacke im Sommer 2018 für zwei Wochen im St. Petersburger Club Клуб als Artist in Residence einnisten durfte, haut er in diesem Jahr auf dem clubeigenen Label den nächsten Hit raus. „Kisloty People” steht für alles, was sich zwischen Techno, Trance und russischem Pop aus den späten Neunzigern zu Versuchszwecken in ein Reagenzglas pressen lässt, ohne dass uns der Scheiß beim erstbesten Funken um die Ohren fliegt.

Für Schacke kommt der Erfolg überraschend – aber nicht unvorbereitet. In seiner Jugend spielt er in Black Metal-Bands, lässt sich irgendwann von der Dubstep-Welle mitreißen und kommt in der Kopenhagener Culture Box mit Techno in Kontakt. 2014 hat er auf „verdammt sumpfigen und minimalistischen Sound” keinen Bock mehr, sagt er in einem Interview. Schacke gründet mit Moral Defeat sein eigenes Kassettenlabel und veröffentlicht unter Künstlernamen wie Body Stress und Haraam Industrial Noise: „Ich habe versucht, meinen musikalischen Output zum Äußersten zu pushen, während ich mich mit politischen Themen befasste, die ich auf andere Weise nur schwer ausdrücken konnte”. Es sei ein Selbstfindungstrip mit Krach gewesen, eine Umleitung hin zu der Einsicht, dass er den Regeln der Musikproduktion nicht folgen muss, um sein eigenes Ding zu machen. Deshalb springen in seinen Tracks schon mal t.A.T.u. aus der Bravo Hits-CD aufs Laufband und schwitzen bei 145 Beats in der Minute auf dem Techno-Stepper herum. Crossfit à la Kopenhagen’s Finest! Christoph Benkeser

Ibon – No Sleep (Kulør)

Ibon
Foto: Rumi Baumann (Frans Ibon)

Mit „No Sleep“ drückte der norwegische Techno-Legionär Frans Ibon der Kulør-Compilation im letzten Jahr seinen Stempel auf – und veröffentlichte damit so etwas wie den Inbegriff des Kopenhagen-Sounds. „Imagine a closing-set, seeing the sunshine, about to cry for the ecstasy caused by this piece”, hat ein User auf YouTube unter den Track kommentiert und den ganzen Wahnsinn auf den Punkt gebracht. Ibon produziert schnellen Techno mit Melodien, bei der sich der Laberflash von ganz alleine einstellt. Dass es überhaupt dazu kam, hängt mit Distinktion und Distanz zusammen. „Ich fing in meiner Jugend an zu skaten und identifizierte mich mit der Hip Hop-Kultur. Da war Techno nicht drin. Es war uncoole Musik, weil das nur ‘normale‘ Leute hörten, die auf Mopeds standen”, sagt Ibon und meint: „Techno war für mich kommerzielle Popmusik, die mit einer sinnlosen Kultur verbunden war.” Der Underground ist in den norwegischen Neunzigern woanders. Der Teenager will sich abgrenzen, hört Ghetto Tech und Noise. 2006 sieht er eine Liveshow von The Knife und merkt, wie ernst und klug Techno sein kann. Als Ibon später nach Kopenhagen zieht, stößt er auf die Elektronik-Szene: „Ich war erstaunt, dass es dort eine Community gab, in der die Leute die ganze Nacht zu Techno tanzten.” Für den Norweger, der aus einem Tausend-Seelen-Kaff nordwestlich von Oslo stammt, kam das Ganze wie eine Erleuchtung. Er beginnt, härteren Techno zu hören, kauft Platten von Regis und Surgeon – und lässt sie in seinen DJ-Sets auf Scooter und andere Hard Trance-Tracks prallen. „Was mich am meisten beeinflusst hat, ist die Musik, von der ich mich abgrenzte, weil ich mich vom Mainstream unterscheiden wollte”, sagt Ibon rückblickend. 

Heute ist der 29-jährige Produzent fixer Bestandteil der Bunkerbauer-Crew – eine gut vernetzte Community in der dänischen Hauptstadt und für ihn ein Safe Space, in dem er sich musikalisch ausprobieren könne. Außerdem spielt Ibon häufig auf den Partys von Fast Forward, dem Knotenpunkt der Kopenhagener Technoszene. „Harter, melancholischer Techno gibt mir die Möglichkeit, mit der Realität des Lebens in einer von wirtschaftlicher Logik geprägten Gesellschaft umzugehen”, sagt der norwegische Produzent. Geht es nach ihm, wird psychedelischer Trance und Hardstyle in Zukunft noch einflussreicher. „Dieser Sound fasst die absurde Wirklichkeit der Dystopie, in der wir leben, einfach perfekt ein”, meint Ibon – und fragt sich schon, wann der „Evanescence-Vibe” in den Clubs ankommt. Christoph Benkeser

VTSS – Code Red (Repitch)

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Foto: Marta Michalak

Rave, Raver, VTSS! Wer seine Buffalo Boots seit der letzten Mayday anno 95 im Schrank vermodern lässt, kann die Dinger wieder rausholen und mit Spucke auf Hochglanz polieren. Die polnische Produzentin Martyna Maja klampft nach einem Abrissbirnen-Set im Boiler Room und Haudrauf-Veröffentlichungen für Intrepid Skin und Haven neuerdings auf Repitch rum, zerlegt Gabber in seine Einzelteile und schnippelt im Tempo einer drohenden Herzmuskelattacke ein paar ausgehöhlte Kickdrums auf den marinierten Technoteller. Rumms, hier gibt’s nichts zu gaffen! Sondern nur Fun, Fun, Fun! „Ich bin kein ernster Mensch”, sagt Maja. „In meiner Musik kommen alberne Vocal-Samples vor, alles ist ein bisschen schneller und brachialer als sonst im Techno. Und natürlich muss meine Musik Spaß machen.”

Die Nimm-doch-nicht-alles-so-ernst-Tugend habe sich Maja bei ihren Freunden von Wixapol abgeschaut. Für die Gabber-Crew aus Polen stand sie in den vergangenen Jahren bei Veranstaltungen häufig hinter den Decks – mit Pseudonymen wie Princess of Hardcore und ATOPA DJ. Namen, mit denen sie Undercover um den allerhärtesten Scheiß rotiert. Bei Residencies für die Warschauer Brutaż-Partys und in ihrem Stamm-Club Jasna 1 geht es zwar auch nicht gerade zu wie beim Fünf-Uhr-Tee mit Oma Beimer, als VTSS pendelt sich die Sache aber auf ein offensiv dahingrindendes Marschiertempo ein. Dass die Polin zum Produzieren kam, ist dem Zufall geschuldet. Mit 13 hört Maja bei einem Tanzwettbewerb Aphex Twins „To Cure A Weakling Child” – sie ist angefixt, will aber immer noch Rumkrächzen wie ihr damaliges Idol Amy Winehouse. Erst nachdem Maja 2012 zum Unsound Festival nach Krakau fährt, checkt sie, dass sie „Teil dieser Clubkultur-Sache” sein möchte. Sie schreibt sich an der Uni für Tontechnik ein, klemmt sich hinter die Plattenteller und produziert am Laptop. Mittlerweile lebt Martyna Maja in Berlin, tourt durch die Welt und ist Teil des New Yorker Discwoman-Kollektivs, das ausschließlich weibliche DJs und Produzentinnen wie Umfang, 700 Bliss und DJ Haram in den Roster aufnimmt. The future is fucking female! Christoph Benkeser

Tommy Holohan – Inter Dimensional Hardcore Business (Monnom Black)

Tommy Holohan
Foto: Press (Tommy Holohan)

Lieferte die Rave-Hymne „Subaru Impreza” den Sound, bei dem man die Gran Turismo-Daddelsession aus dem Wohnzimmer in einen irischen Techno-Bunker aus den Neunzigern verlegte, dann ist „Inter Dimensional Hardcore Business” der Turbolader, der pfeift und keift und noch ein paar PS mehr aus dem Rave-Mobil kitzelt, um mit 230 Sachen durch irische Dörfer zu brettern. Tommy Holohan ist zwar kein Rennfahrer – baut aber als heißester Dublin-Export tiefergelegte Beats zum Durchdrehen. Techno ist sein Fundament, auf dem er seine Liebe zu 90er-Rave und Hardcore zusammenzimmert. „Als ich zwölf war, ging ich zu DJ Cammy, Mauro Picotto und Gigi D’Agostini ab. Irgendwann hörte ich The Prodigy und dachte mir: Wie zum Teufel machen sie diesen Sound?”, sagt Tommy. Er fängt an zu produzieren – auch wegen der Langeweile, die sich in seiner Heimat Rush, einem 9.000-Seelen-Dorf ein paar Kilometer nördlich von Dublin, ausbreitet wie der Geruch von Malz in einer Guinness-Brauererei.

Zum Studium zieht Tommy nach Dublin und etabliert sich als Resident-DJ beim Techno & Cans-Kollektiv, das immer wieder Partys im mittlerweile geschlossenen Hangar veranstaltet. „Ich lernte dort Dax Heddon alias Dax J kennen, spielte mehrmals Warm-ups für ihn. Nach einem seiner Sets fragte er mich, ob ich ihm ein paar meiner Tracks schicken möchte – irgendwie klappte das und ich landete auf dem ersten Monnom Black-Sampler.” Ein Jahr nachdem Tommy mit seinem „Subaru Impreza” über die Tanzflächen cruiste, gelingt ihm mit „Inter Dimensional Hardcore Business” der nächste Streich. Mittlerweile spielt Holohan in Clubs auf der ganzen Welt. Der Dubliner Szene bleibt er trotzdem treu: „Ich kann mir keine bessere Stadt vorstellen. Du kannst hier einiges ausprobieren. Wir feiern die Abwechslung, die stilistischen Experimente. Und weil die Clubs schon um drei Uhr nachts zusperren müssen, gehen die Leute in der kurzen Zeit einfach krasser ab als in anderen Städten.” Christoph Benkeser

Nene H – Intoxicated With Love (Intrepid Skin)

Nene H
Foto: Press (Nene H)

Das musikalische Wunderkind Beste Aydin widmete sich lange Zeit ausschließlich der klassischen Musik, studierte in Izmir, Tel Aviv und Stuttgart Klavier und Komposition. Unter dem Namen Nene H hat sie sich mit ihren experimentellen, von Maschinen getriebenen Technoperformances einen Namen gemacht. Für sie sind elitäre Klassik und grenzgängerischer Techno aber keineswegs radikale Gegensätze. Auditive Verbindungen zwischen diesen musikalischen Welten herzustellen, ist Nene Hs Kredo. So hat sie ihren ganz eigenen Sound entwickelt, der Techno, Industrial, Noise und organische Field Recordings in sich vereint.

Ihre aktuellste Veröffentlichung ist auf SPFDJs Label Intrepid Skin zu hören. Die Tracks der Feast-EP sind in sich sehr progressiv aufgebaut und entfalten ihre volle Wirkung erst gänzlich, wenn man sie am Stück genießt. Die rohe Energie, die von „Intoxicated With Love” ausgeht, wird durch ein minimalistisches Arsenal an Maschinen und Synthie-Sounds erzeugt. Nene H fusioniert schnelle Kicks, spitze Claps und Synth-Bleeps zu einer Techno-Gabber-Melange mit maschineller Sound-Ästhetik. Luzie Seidel

Kobosil – Born In 1968 (R – Label Group)

Kobosil by Sven Marquardt
Foto: Sven Marquardt (Kobosil)

Wer wissen möchte, wie Techno in Berlin 2019 dröhnt, kommt an Max Kobosil nicht vorbei. Innerhalb kurzer Zeit steigt der Berliner von Marcel Dettmanns Protegé zu einem eigenständigen Künstler auf, definiert als jüngster Berghain-Resident den Sound von Ostgut und entwickelt ihn mit seinem eigenen Label R – Label Group weiter. Das ist heute ein Seismograph für Veränderungen in einer Musik, bei der am besten alles gleich bleibt. Die Härte, bei denen Kobosil ganze Panzerschränke zu Granulat zerschreddert, hat sich aber schon früher abgezeichnet. „Als ich mit 18 das erste Mal ins Berghain ging, änderte das alles für mich. Damals waren viel mehr schwule Leute da. Die Musik war härter. Das war großartig”, sagt Kobosil in einem Interview mit Resident Advisor.

Mit ein paar durch den Reißwolf gedrehten Kickdrums, die fünf Minuten lang in abgewrackten Fabrikhallen pulsieren, gab sich der Produzent aus Neukölln aber nie zufrieden. Auf seiner im März 2019 erschienen EP RK4 sind neue Einflüsse zu hören – auch aus der schmuddeligen Trance-Ecke. „Born In 1968” schmiert sich zwar nicht gerade Neonfarben ins Gesicht, rieselt aber Glitzer in die Haare und stampft mit einem Affenzahn auf Melodien zu, bei denen sich grimmige Nachtwächter*innen in glückselige Grinsekätzchen verwandeln, um an der Bar das nächste Wasser zu ordern. Ein einmaliger Husarenritt? Come on! Mit dem Remix zu Rosa Anschütz’ Underground-Hymne „Rigid” wirft sich Kobosil bereits ins nächste Abenteuer. Mehr Vocals, mehr Melodie. Und alles wird gut! Christoph Benkeser

Krampf – LSD XTC (Do We Really Need) (Live From Earth Klub)

Ebenso Techno aus Berlin anno 2019 macht das Label Live From Earth Klub, das sich für seinen vierten Release den Pariser Krampf ins Boot geholt hat. Er ist Teil des französischen Casual Gabberz-Kollektivs, die – der Name sagt es – für eine zeitgenössische Interpretation von Gabber stehen. Auch Live From Earth Klub ist mit seinen DJs an einer Geschwindigkeit und Energie interessiert, die die 150 BPM gerne übersteigt. Beide Gruppierungen verbindet der Ursprung im Rap: „Wir kommen aus der gleichen Szene an verschiedenen Orten, sind von Rap zu Techno gewachsen”, erklärt Lucien, wie Krampf mit Vornamen heißt. In den Sets von Casual Gabberz spürt man das: Die versammelte Mannschaft steht hinter den Decks, Krampf selbst rappt spontan ins Mikro oder steigt auf das DJ-Pult (gesehen beim Gig der Crew beim CTM im Berghain dieses Jahr). Spaß statt Prätentiösität. Zu Produzieren begann er durch seinen Vater. Auf dem Computer der Familie schlummerte wenig genutzt dessen Musiksoftware: „Ich kam auf Hardcore durch das Sampeln für Rap-Beats”. Weil er einer der wenigen in Paris war, die diese Dipset Trance-inspirierte Mischung produzierten, luden ihn die Casual Gabberz ein, bei sich zu spielen. Ein Raver war Krampf vorher nicht gewesen: „Alles fing an, als ich für eine Hardcore-Nacht nach Amsterdam fuhr, als ich 22 oder so war, um Inutile de Fuir zu filmen. Das war meine erste Nacht als Raver, ziemlich spät!”, erzählt er.

Inutile de Fuir ist ein experimenteller Dokumentarfilm über die Casual Gabberz. Die Compilation dazu markierte ihr erstes Release als Label. Krampf produzierte den Soundtrack: Hardcore-Melodien, die – ihrer Kick beraubt – zu schweben scheinen. Als „Post-Internet-Distanciation, mit Rave-Ästhetik und Rave-Sounds spielend, aber auf eine schlauere Art und Weise”, bezeichnet er selbst diese Art von Klang. „LSD XTC (Do We Really Need)” ist eine Abkehr davon. Stattdessen geht der Track in Richtung der Musik, die er als DJ auflegt. Funktionalität, auch das sei eine Herausforderung, sagt Krampf: „Ist das gut genug gemacht, um alle zum Tanzen zu bringen?” Ohrwurmtaugliche Vocal-Schnipsel, messerscharfe Kicks und kreischende Synthies, mehr braucht es nicht. „Ich denke, diese Tracks sind weniger artsy und vielleicht auch weniger sensibel als meine vorherigen Arbeiten. Aber ich kann sie im Club spielen, sehen, wie alle tanzen und lachen.” Lachen – das ist auf der sonst ernsthaften Technotanzfläche einiges wert. Cristina Plett

Parallx – Red Clouds (R – Label Group)

Parallx
Foto: Press (Parallx)

Wenn Bergbau unter Tage auf Techno mit Vocals trifft, ist Parallx nicht weit entfernt. Mit „Red Clouds” produzierte Jonas Wedelstädt, wie Parallx eigentlich heißt, eine verqualmte Techno-Maschinerie, die Fritz Langs Metropolis in eine utopische Cyberpunk-meets-Darkwave-Moderne beamt. Keine Überraschung. Schließlich landete der deutsche Produzent bereits 2017 auf Platz drei der Groove-Liste für Newcomer*innen des Jahres. Mit Veröffentlichungen auf Arts und Kobosils R – Label Group taucht er zu diesem Zeitpunkt nicht nur immer häufiger in Techno-Clubs auf, sondern hämmert sich im Industrial-Modus auch in die Köpfe der Leute. In seinen Tracks kreischen Maschinen, Dampf zischt aus Turbinen, Metall klampft auf Metall. Sounds like Perc und seine Epigonen – hat aber nur am Rande mit dem britischen Umpa-Lumpa-Hickhack zu tun, und vielmehr mit der eigenen Herkunft.

Wedelstädt wächst im Ruhrpott auf, macht sich als Fotograf einen Namen in der Skaterszene – und hätte dabei das ein oder andere Mal in einer Kohlegrube landen können. Auf die Idee könnte man zumindest kommen, wenn man sich rußverschmierte Gesichter vorstellt, die in dunklen Stollen auf Felsen einhacken, um das Material für Parallx’ Techno abzubauen. Wedelstädt spendiert den Kumpels zwar ein paar Stirnlampen, die in der Dunkelheit rumflackern wie Stroboskope am Mainfloor. Finster bleibt’s trotzdem – trotz Vocals, die der Darkwave-Ikone Siouxsie Sioux das Make-Up aus dem Gesicht wischen würden. Christoph Benkeser

J-Zbel – Tunnel Vision (Brothers From Different Mothers)

J-Zbel
Foto: Press (J-Zbel)

„Tunnel Vision” rumst auf rund 140 BPM durch den Psychedelica-Tunnel. Damit befindet sich dieser Track des französischen, anonym bleibenden Trios J-Zbel auf dem unteren Ende der Geschwindigkeitsskala dieser Liste. Auch was Dunkelheit und Peitschenhieb-Faktor angeht, kann „Tunnel Vision” eher mäßig punkten. Dafür vereint es Goa-Elemente und mit der perlenden Synthesizer-Melodie besten Neunziger-Cheese. Ein Banger, der seinesgleichen sucht und die wiedergekehrte Melodieverliebtheit zum Ausdruck bringt. Ein spannender Ausläufer, der ohne Ängste alle möglichen Retro-Referenzen von Trance bis UK-Jungle durcheinander schmeißt.

Im Auftreten geben sich J-Zbel martialisch: Stets das Gesicht mit Sturmmasken oder Tüchern verhüllt, sind die drei bei ihren Live-Sets ein energetisch wippendes Bündel hinter einem Gerätepark. Assoziationen an bekannte Fotos von Underground Resistances Live-Performance werden geweckt. Wer genau hinter J-Zbel steckt, wissen sie seit Jahren klug zu verbergen. Judaah, der Gründer ihres Stammlabels Brothers From Different Mothers aus Lyon, verriet uns jedoch: „Ich schuf J-Zbel, ich habe den Namen und das Konzept gefunden. Ich hatte einfach die Idee, diese drei Männer zu connecten, weil ich jeden von ihnen und ihre musikalische Welt kenne. Es konnte nur ein großer Erfolg werden, haha.” So sehr wie ihr Debütalbum Dog’s Fart Is So Bad The Cat Throws Up von der Kritik gelobt wurde, hatte er offensichtlich Recht. Cristina Plett

Yves Deruyter – Back To Earth (Rave Mix) (Bonzai Records)

Yves Deruyter
Foto: Press (Yves Deruyter)

Mit 2000 als Erscheinungsjahr lässt sich „Back To Earth” kaum als Neunziger-Techno bezeichnen, neu ist er aber auch nicht. Dennoch sei dieser Track gleichsam als Fußnote angefügt: Er steht für das Rückwärtsbezogene und Revival-hafte des aktuellen Trends. Bereits bei seinem Erscheinen war der Track mit dem rund 30 Sekunden langen Mörder-Break ein Hit, landete sogar in Deutschland auf Platz 54 der Singlecharts. Es war nicht der einzige Hit von Yves Deruyter – der 49-jährige Belgier hatte diverse Chartplatzierungen. Er zehrt bis heute davon, spielt vor allem in Belgien, auf Retro-Partys und Festivals und lässt – wie sein Boiler Room-Set zeigt – alte Bonzai-Hits einfließen. Bonzai Records nämlich, auf dem „Back To Earth” erschien, steht wie kein anderes für einen ravigen Trance-Sound, auch wenn es im Jahr 2000 bereits seine Hochzeit hinter sich hatte. Bonzai war eine Hit-Maschine, die auch dank ihres Merchandises mit dem Bonsaibäumchen omnipräsent war. Zeitweise verkaufte das Label mehr T-Shirts als Platten. Heute sind es vor allem DJs, die die alten Platten wieder ausgraben und Bonzai zurück auf die Tanzfläche bringen. Sowohl „Back To Earth (Rave Mix)” als auch andere Tracks des Labelkatalogs werden von erfolgreichen DJs wie Charlotte de Witte oder Nina Kraviz rauf und runter gespielt.

Das wiederum legt den immer wiederkehrenden Graben zwischen Jung und Alt offen: „No idea who this Nina is, but this what I heard on the floor when I was 18”, kommentiert auf YouTube jemand zu „Back To Earth” in Anspielung darauf, dass Nina Kraviz diesen Track oft gespielt hat. Oder es heißt da beispielsweise: „Everybody be like wooaahhh and they are all shitfaced when they realize that they are listening to 16 year old song!” Der Vorwurf, junge Generationen an Produzent*innen oder DJs würden nichts Neues mehr hervorbringen, liegt in der Luft. Generationenkämpfe aber sollten nebensächlich bleiben. Denn wenn dieser Track sich mühelos in ein Set mit neuen Produktionen einfügt und dabei Raver*innen jeden Alters zum Ausrasten bringt, demonstriert er vor allem seine eigene Zeitlosigkeit. Eine rollende Melodie, böse Hoover-Synthies und eine Dynamik, die Progressive Trance vorausahnen lässt – das funktioniert einfach. Cristina Plett

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