Bodgan Raczynski & Sentimental Rave Fotos: Presse

Mit wüsten Breakbeats und verzerrten Rockelementen trieben Künstler wie Hanin Elias oder Alec Empire auf dem Label Digital Hardcore Recordings Techno, Drum ‘n’ Bass und Gabber auf die Spitze und brachen mit der Harmoniesucht der Clubkultur. Die monotonen Grooves ohne Brüche kotzten diese Crew ebenso an wie die hedonistische und politisch angepasste Haltung der Szene. Heute, zwanzig Jahre später, gibt es wieder ein verstärktes Interesse an diesem Sound, das sich zum Beispiel in der starken Resonanz auf die Christoph de Babalon-Compilation von vergangenen Winter zeigt.

Im GROOVE Roundtable versuchen wir ausgehend von den gerade erschienen Releases von Mark, Krampf und Bodgan Raczynski und einem Boiler Room mit Sentimental Rave herauszufinden, ob es sowas wie ein Digital Hardcore-Revival gibt. Und wie stehen der aktuelle Drum ‘n’ Bass von Labels wie A Colourful Storm und die Aktivitäten junger Gabber Crews wie Wixapol aus Polen, Casual Gabberz aus Paris oder Gabber Eleganza aus Italien dazu? Als Gesprächspartner haben wir Thaddeus Herrmann und Christian Blumberg eingeladen.

Thaddeus Herrmann war von 1997 an Redakteur der de:bug – Zeitschrift für elektronische Lebensaspekte und ist aktuell Macher von Das Filter. Herrmann war als Act, den Sonic Subjunkies auf Alec Empires Label Digital Hardcore Recordings von Anfang an Teil der Digital Hardcore-Szene und verfolgt die Musik bis heute musikjournalistisch.

Christian Blumberg bearbeitet als Journalist und Filmwissenschaftler diverse randständige musikalische und nicht-musikalische Phänomene und ist unter anderem Autor von Das Filter und GROOVE. Der Fencheltee dampft in der Tasse. Trommelfelle, zieht euch warm an!


Mark – Integriert euch nicht (Unterton)


Alexis Waltz: Warum wir hier sitzen? Ausgehend von den aktuellen Releases von Mark, Bodgan Raczynski und Krampf wollen wir herausfinden, ob es so wie ein Digital Hardcore Revival gibt.

Thaddeus Herrmann: Ne, gibt es nicht. Das Stichwort “Digital Hardcore” passt nicht meiner Meinung nach.

Christian Blumberg: Aber vielleicht können wir herausfinden, ob es ein Hardcore Revival gibt?

Alexis: Hardcore-Elemente tauchen schon seit einigen Jahren immer wieder in aktuellen Releases auf. Ich war erstaunt, was für eine breite Aufmerksamkeit die Christoph de Babalon-Compilation im Winter hatte. Er war auch damals ein wichtiger Künstler, aber nur in einer sehr, sehr kleinen Szene.

Cristina Plett: Also ich habe mich gerade bei diesem Release ganz prinzipiell gefragt – ist das Hardcore? Ist das nicht einfach brachialer Drum ‘n’ Bass, dessen aktuelle Coolness sich irgendwie aus dem Breakbeat-Trend der vergangenen Jahre speist? Hardcore ist für mich eher so Gabber, Speedcore, eine andere Schiene einfach.

“Ich habe kein Problem damit, mir Mark einfach als sehr guten Drum and Bass anzuhören.” Thaddeus

Alexis: Was ist Digital Hardcore mehr als brachialer Drum ‘n’ Bass? Erklär uns das bitte, Thaddi.

Thaddeus: Der Begriff Digital Hardcore war ja zunächst als Abgrenzung gedacht – mit Betonung auf dem Digitalen, was als Produktionstechnik mit unterschiedlichsten Strömungen mit einschloss. Für mich ging es immer um die radikale Auseinandersetzung mit Breakbeats und das Aufbrechen des tooligen Rahmens, der ja auch im Drum ‘n’ Bass herrschte – ganz klare und DJ-freundliche Strukturen. Im nächsten Schritt dann wurden diese Breaks neu verortet und mit anderen Stilen vermischt. Es mag sein, dass das die anderen Leute um DHR anders sahen – für mich bringt es das auf den Punkt. Die neue Platte von Mark finde ich super – aber nicht brachial, sondern einfach nur sehr, sehr gut arrangiert. Natürlich spielt er mit einer gewissen Schärfe in den Amen-Breaks und den dazugehörenden Cuts. Aber das war es dann auch. Ich habe mir vorbereitend diese ganzen Releases angehört und mich die ganze Zeit gefragt, ob es nicht genau nur um den Hardcore und Gabber geht. Was ja auch ok ist.

Alexis: Das kann sein, aber auf jeden Fall um mehr als Drum ‘n’ Bass.

Cristina: Also wenn wir nur über das Label sprechen, stimme ich Thaddis “Nein” vom Anfang zu. Das würde ich immer noch als sehr nischig einschätzen. Bei den Releases, die wir uns noch angucken werden, sind ja auch welche ohne großen Bezug zu Digital Hardcore dabei.

Christian: Bleiben wir doch erstmal spezifisch. Für Menschen, die nicht so involviert waren wie Thaddeus, war Digital Hardcore damals ja vor allem Alec Empire, Atari Teenage Riot und vielleicht noch Hanin Elias. Die haben in den 90ern mit politischen Parolen gearbeitet. Mark nennt eine seiner Platten Integrier dich du Yuppie – das ist schon was anderes als ATR’s Deutschland has gotta die, nämlich smarter und weniger auf die Fresse.

Alexis: Das stimmt, wobei die gesellschaftliche Antihaltung schon da ist. Und auch eine musikalische Antihaltung, es geht darum, Genres clashen zu lassen, darum, einen geschlossenen Clubsound auseinanderzureißen.

Cristina: Von Integrier dich du Yuppie ist er ja inzwischen auch zu Integriert euch nicht avanciert. Diese alte Haltung passt in ihrer Radikalität aber irgendwie nicht so ganz in den zeitgenössischen Zeitgeist, finde ich. Heute ist eher Resignation, Party Party, höchstens vielleicht mal irgendwas Krasses, um sich abzugrenzen – aber viel mehr doch nicht.

 “Für den einen waren es Speedmetal-Samples mit Amen auf 200 BPM, für den anderen dann wieder eher vollständig überreizte 909-Bassdrums und einem Manga-Sample. Im Idealfall beides.” Thaddeus  

Christian: Würdet ihr eine Platte wie die von Mark vor allem als Szene-immanente Abgrenzung hören zum eskapistischen Feierabend-Rave?

Alexis: Auf jeden Fall. Wobei das ja heute fast alle machen, die noch ernstgenommen werden.

Cristina: Interessante Frage, Christian. Mit den Tracktiteln, dem Artwork und natürlich der beißenden Musik schon. Zum Tanzen ist es zumindest nicht gedacht, etwas Frust über Office-Kultur schimmert auch beim ersten Titel durch.

Thaddeus: Die szene-immanente Abgrenzung war damals schon ein wichtiger Teil der Idee – natürlich je nach Künstler*in ganz unterschiedlich ausdefiniert. Ich kann den Begriff Digital Hardcore bis heute nicht gescheit definieren, würde ich auch gar nicht wollen. Für den einen waren es Speedmetal-Samples mit Amen auf 200 BPM, für den anderen dann wieder eher vollständig überreizte 909-Bassdrums und einem Manga-Sample. Im Idealfall beides. Eine Haltung aus dem Sample-Inhalt abzuleiten, fand ich immer schwierig. Natürlich schwang da schon ein bestimmter Vibe mit, der auch gegen die damals schon sehr strukturierte Club-Szene ging, das Saubere. Aber dabei entstanden ja ganz unterschiedliche musikalische Entwürfe, die sich vielleicht eher durch eine gewisse Überschneidung in den Produktionsmitteln definierte und einem Sound, der einfach nicht perfekt war. Jeden Tag einen Track – das war für eine Weile mal die Prämisse. Das ist wichtig, denn das übersetzt sich dann weder in den durchproduzierten Drum ‘n’ Bass noch den Gabber von heute.

Cristina: Kurze Frage als Zuspätgeborene: Wie groß und bekannt waren Digital Hardcore und Alec Empire zu ihrer Hochzeit? Und: Jeden Tag ein Track? Produzieren, oder wie? Wessen Idee war das? Habe ich noch nie von gehört. Und dein letzter Gedanke ist ein guter Punkt, Thaddi: Aus der technischen, handwerklichen und ästhetischen Avanciertheit kommt Mark nicht raus.

Thaddeus: Das war eine gut gepflegte Blase, die aber schon immer größer wurde. Natürlich vor allem durch Alec [Empire] und A[tari ]T[eenage] R[iot]. Der Rest trottete eher so mit. Das war aber auch ganz gut.

Christian: Diese Blase machte aber doch recht unblasige Musik. Das konnten auch Kids hören, die sonst nur Deutschpunk gepumpt haben oder Nine Inch Nails oder The Prodigy.

Thaddeus: Stimmt auch wieder.

Alexis: Da gab es so einen Übersprung von einer kleinen, avancierten elektronischen Szene im Punk- und Metal-Mainstream. ATR haben in den USA in Stadien gespielt, da gab es eine Geschichte dazu von Jörg Heiser in der Spex.

Thadeus: Ich habe auch kein Problem damit, mir Mark einfach als sehr guten Drum and Bass anzuhören. Mehr ist es tatsächlich auch nicht. Nur weil heute jede 12″ eine Pressemeldung und eine Track-Premiere an die Seite bekommt, muss man das ja nicht alles für bare Münze nehmen. Gute Tracks – Ende. Ich mag die Tradition und die Haltung. Ich finde den Begriff Revival auch deshalb schwierig, weil ich behaupten würde, dass diese Stile nie wirklich weg waren. Das gilt für Drum ’n’ Bass wie für Gabber. Das ist also auch nichts anderes als Deep House, was das Durchhaltevermögen angeht.

Christina: Oha, steile These, Drum ‘n’ Bass war nie weg? Ich habe so ungefähr die ersten drei bis vier Jahre, die ich elektronische Musik gehört habe, nichts davon mitbekommen. In welchem Club in Deutschland läuft schon Drum ‘n’ Bass?

Alexis: In Nischen läuft das immer weiter, in Berlin im Gretchen zum Beispiel. Wo würdest Du Mark am ehesten einordnen, Thaddi? Bei welchen Künstlern und Labels? Mir persönlich war Digital Hardcore zu rockistisch, ich mochte da den harten, stumpfen, monotonen Drum ´n`Bass von Labels wie Hardleaders lieber.

Thaddeus: Ich sehe Mark auf dieser Platte ganz klar in der Tradition der Produzenten aus den 90ern, die es am liebsten rollen ließen, die nicht auf Bumm-Tschakk gegangen sind, sondern weiter Breaks geschnitten haben. Source Direct natürlich, Photek – aber eben dringlicher gebaut, vielleicht irgendwo zwischen Lemon D und Dillinja? Ich red mich hier um Kopf und Kragen.

Christian: Ich würde einfach mal behaupten, dass die Bewegungen einfach total konträr sind. Beim Digital Hardcore in den 90ern ging es schließlich auch um Anschlussfähigkeit an andere Genres, und darum, die Parolen möglichst breitbandig rauszuhauen und bei VIVA2 stattzufinden. Bei Mark geht es vielleicht doch eher um Abgrenzung.

Alexis: Das ist eine interessante Analyse. Die Frage ist, ob sich aus dem Mark-Ansatz auch ein soziales Konzept, eine Feierstrategie ergibt, oder ob das eher so ein kritisches Statement ist, wo es darum geht, den Status Quo der Clubszene zu dissen.

Thaddeus: Mag mir einer von euch erklären oder berichten, in welchem Kontext diese Musik – ich wechsle mal sachte in Richtung der nächsten Platte – aufgelegt wird?

Cristina: Abgrenzung – das Motto der Stunde. Könnte aber auch mit daran liegen, dass Rock und Punk heute selber kaum Anschlussfähigkeit besitzen. Der Weg über diese Genres ist also schonmal eine Sackgasse.

Christian: True.

Cristina: So Sachen wie Mark laufen bei Nischen-Events, wie eben in der Säule oder auf britischen Festivals.

Krampf – What Is A DJ If He Can´t Care (Life From Earth Klub)

Christian: Hören wir doch mal Krampf. Da ist dann nämlich plötzlich nicht mehr viel mit Parolen. Stattdessen haben wir es mit Hardcore zu tun, der auf einem Sublabel von Live From Earth rauskommt. Die kommen ja aus einem Universum aus Trap und Fashion. Hier geht es weniger um konkretistisch vorgetragene Inhalte, sondern eher um so etwas wie Ästhetik. Hardcore Aesthetics sozusagen.

Cristina: Sowas wie Krampf läuft (noch) selten in Clubs meiner Einschätzung nach, sondern nur auf den jeweiligen Partyreihen. Krampf ist ja von den Casual Gabberz aus dem Umland von Paris. Die machen eigene Partys. Live From Earth, auf dem das erscheint, genauso. Die machen sogar außerhalb ihrer Stammstadt Berlin Partys. Wixapol in Polen das gleiche. Was eigentlich auch wieder ganz interessant ist, weil es das Ganze zu einer sehr geschlossenen Kultur macht in dem Sinne, dass man da nicht zufällig landet, wenn man in Club XY geht.

Thaddeus: Frankreich war ja damals schon ganz wichtig. Da gab es die Parties und auch gute Labels wie GTI. Das war so eine Hochgeschwindigkeitsautobahn in Richtung Berlin, die hatten eine ähnliche Ästhetik.

Alexis: Aber der Impuls von damals ist ähnlich wie bei Mark: Sich entschieden vom Techno/ House/Techhouse-Status Quo der Clubmusik absetzen. Mehr Punk sein als Helena Hauff.

Thaddeus: Ich finde das hier ganz ok, aber irgendwie zu modern einerseits und andererseits zu zitathaft. Das ist nicht radikal, sondern eher sehr traditionell.

Cristina: Ja, auch Fashion-mäßig: Sich mit sehr speziellen Styles absetzen. Aber warum ist das modern? Finde das klingt ziemlich “retro”.

Thaddeus: “Modern” wegen der Produktion. Hier läuft halt Ableton und kein Amiga. Ich habe das Gefühl, dass Krampf – anders als Mark – weniger mit aktueller Clubkultur sozialisiert sind. Es ist weniger durchdacht, mehr copy & paste.

Cristina: Aah okay. Das höre ich nicht so raus, haha.

Alexis: Dennoch nicht ungelungen.

Thaddeus: Klingt erstmal nicht wichtig, hat aber natürlich Auswirkungen auf den Sound. So viel Dreck kann man im Ableton gar nicht zusammenfegen, dass es ungefähr das emuliert, was damals täglich auf 12-Inches gepresst wurde. Das muss gar nicht schlimm sein, kann man ja auch als Weiterentwicklung verstehen. Aber so richtig rund wird es dadurch meinem Empfinden nach halt nicht.

Cristina: Ja, ist doch ein total anderer Ansatz als Mark. Hier ein Tech-Editor aus UK, da ein Mitte Zwanzigjähriger aus einem französischen Vorort. Nerd vs. Anti-Nerd.

Alexis: Für mich liegt da in Ableton schon ein Problem, da ist so eine eingebaute Glattheit drin. Ist wirklich schwer, damit eine oppositionelle Ästhetik zu erschaffen. Eine analoge Produktion ist nicht per se besser, die kann auf eine andere Art spießig sein.

Thaddeus: Absolut. Ich bin mir gar nicht sicher, ob der Ansatz tatsächlich so unterschiedlich ist – gerade bei diesen beiden Platten. Letztendlich ist es ja eine fast schon romantische Auseinandersetzung mit Stilen, die vor langer Zeit geprägt wurden und heute entweder wiederentdeckt oder immer noch hochgehalten werden.

“Ist die Stumpfness bei Gabber nicht eher eine Qualität als ein Mangel?” Christian

Cristina: Hier übrigens etwas Gossip am Rande: Der Remix ist von DJ Gigola und KevKoko, dem ausgeschiedenen Fjaak-Mitglied.

Christian: Im Gegensatz zu Mark ist Krampf natürlich Fun. Das ist aber auch Musik, die gerade eine modisches Bedürfnis bespielt. Die Kollektionen vieler Fashion Labels sehen schon länger nach Hardcore-Partys aus, als es diese Party-Reihen an den hippen Plätzen überhaupt wieder gibt. Kurzer Abstecher: Neulich war ich im KOW beim Opening von Henrike Neumann. Da stand die Berliner Kunstblase, trank Weißwein und am Abend wurde dann Hardcore und Gabber aufgelegt. Und viele der Besucher*innen sahen auch so aus wie welche von Gabber-Partys. Aber natürlich eher aus Gründen der Fashion. Ich meine das gar nicht abfällig. Aber da läuft diese Musik eben nicht als Ausdruck von Anti-Haltung – wie wir das vorhin bei Mark öfter gesagt haben – sondern weil sie wieder hip ist.

Alexis: Wenn die auf ihrer Vernissage Gabber spielen statt House oder Pop setzen sie sich ja trotzdem von den normalen Partys der Kunstszene ab. Digital Hardcore, Gabber und zum Teil auch Drum ’n’ Bass stehen für eine Radikalität und einen Ausschluss, der mit anderen Formen von Musik nicht möglich ist. Das Interesse an Footwork von jemanden wie Deena Abdelwahed ist da vergleichbar. Es geht darum, sich vom Berghain-Techno als globalen Standard der Clubmusik und dem damit verbundenen Cool abzusetzen.

Christian: Das mit dem Ausschluss ist mir bisschen zu pauschal als Aussage. Wir sitzen doch schließlich hier, weil wir ein Revival erleben und gerade nicht, weil das mit dem Ausschluss so gut funktioniert.

Cristina: Können wir uns darauf einigen, dass Mark und Krampf beide mit einer gewissen Nostalgie und Verklärung produzieren, bei Mark aber mehr Ernst und politische Message dabei ist, während es bei Krampf eigentlich um Party und, ja, vielleicht ein wenig Distinktion geht?

Christian: Ja. Du hattest doch im Vorfeld den Link zu den Harddance Boiler Rooms rumgeschickt. Da zeigt sich doch die Janusköpfigkeit zwischen Distinktion, Szene und Hipness ganz schön.

Boiler Room: Sentimental Rave | LOW HEAT PARIS

Alexis: Für mich ist das Problem, dass es meistens mehr als Geste funktioniert denn als ästhetische und vor allem auch soziale Praxis. Wobei ich das jetzt nicht speziell Sentimental Rave und ihrem Pariser Umfeld unterstelle.

Cristina: Ich würde ein bisschen widersprechen, dass es bei sowas wie Wixapol schon als soziale Praxis funktioniert. Vielleicht braucht es dafür aber auch ein “blank canvas” wie zum Beispiel die Clubszene in Polen. In Berlin ist alles schon viel zu festgelegt, da gibt es gar keinen Platz, um einen Raum für eine “neue” soziale Praxis entstehen zu lassen.

Christian: Ja, aber Boiler Room ist eine ganz andere Praxis, oder?

Cristina: Boiler Room ist doch das Maximum an “nur Geste”.

Christian: Sicher, aber die Musik funktioniert ja offensichtlich in beiden Zusammenhängen ganz gut. Als Geste UND als Praxis.

Alexis: Das stimmt, wobei Boiler Room in irgendwelchen Kinderzimmern und Jugendzentren geguckt wird und da irgendwas auslöst. Was dann wieder relativ schnell dort ein Echo hat.

Thaddeus: Schlimme Vorstellung.

Cristina: True. Womit wir wieder beim Fun wären. Man muss keinen Geschmack haben, sondern einfach nur mitfeiern. Der Unterschied zu früher ist vielleicht, dass die Praxis lokal bleibt und nicht zur globalen Subkultur wird. Vielleicht weil kein neuer Sound entsteht, sondern die Orientierung an den Vorbildern groß ist. Aber eigentlich heißt es doch immer, durch das Internet werden alle Sub- und Jugendkulturen global? Kilbourne zum Beispiel wohnt ja in New York. Da gibt es auch Gabber-Partys.

Christian: Also gewissermaßen werden die Schmuddelkinder von einst gerade wieder im globalen Maßstab salonfähig. Das ist doch schön!

Thaddeus: Dürfen jetzt in den Boiler Room.

Cristina: Mich würde mal interessieren, wie das Publikum bei so einem Set gerade aussieht. Geht’s so ab wie in dem Berliner Harddance-Boiler-Room – auch wenn die Musik hier schon wesentlich technoider und dadurch irgendwie auch geschmackvoller ist?

Alexis: Es sieht durchschnittlich aus, es könnte auch zu Deephouse tanzen. Aber vielleicht ist der Boiler Room nicht repräsentativ.

Bogdan Raczynski – Rave ‘Till You Cry (Disciples)


Thaddeus: Bogdan – noch ein Paralleluniversum.

Alexis: Bogdan Raczynski hat zwischen 1999 und 2007 eine Reihe äußerst eigensinniger Alben veröffentlicht. Rave ´Till You Cry fasst unveröffentlichte Tracks und Versionen aus dieser Zeit zusammen.

Cristina: Wie bei Sentimental Rave, auch Emotionen im Namen.

Christian: Wenn ich ehrlich sein darf: In meinen Ohren hat das mit Hardcore eigentlich nicht viel zu tun, sondern mehr mit dem, was man mal IDM nannte. Wobei das I für intelligent stand. Und das war ja fast schon der Gegententwurf zur vermeintlich stumpfen Hardcore-Veranstaltung.

Thaddeus: Bogan war und ist für mich die ganz klassische Rephlex-Schule.

Cristina: Schließe ich mich an.

Thaddeus: Zwischen Plinker-Pop à la Bochum Welt, der Distortion von Mike Paradinas, den hellen Momenten des Aphex Twins und den Kiesgruben-Raves und ihren Ansagen zwischen 303 und Breaks.

Alexis: Dennoch gibt es da eine Nähe zu Hardcore von den Breaks, den Grooves her.

Christian: Ja unbedingt, aber in so einer Brainfuck-Wendung.

Thaddeus: Jajaja, aber das war schon ein ziemlich spezieller Ansatz. Vielleicht haben die das damals sogar erfunden: Dieses vereinnahmende Over-the-top, die ersten Mash-ups der Techno-Geschichte, stilistisch gesehen. Das geht dann mal gut, mal eher in die Hose. Genauso höre ich auch diese LP bzw. Retrospektive. BrainDANCE – an der Kante zum – Achtung – Drill’n’Bass!

Cristina: Die Rhythmen sind doch viel komplizierter und das, was sie auslösen, auch: Statt Abstampfen und dröge Feiern, ist Bogdan etwas zum Zuhören, vielleicht komisch mitwippen, hier, und da auch bedient er auch noch Emotionalität. DANCE ist nur so medium drin, meiner Meinung nach.

Alexis: Brainfuck ist ein gutes Stichwort. Ist es nicht das, was Hard Dance heute fehlt? Es gibt eine formale Opposition zu Techno und House, aber die Musik fordert dich kognitiv nicht.

Thaddeus: Braindance, das war damals so ein Slogan von Rephlex – und passt ja auch irgendwie. Ich stimme dir da aber total zu: Das ist letztendlich so schlaglichthaft und nervös unentschieden, dass daraus keine Party on its own entstehen kann.

Cristina: Für die kognitive Herausforderung sind dann die Drogen da.

Alexis: Das ist eine gute Beobachtung. Das findet dann nur noch in einem selbst statt.

Christian: Ist die Stumpfness bei Gabber nicht eher eine Qualität als ein Mangel?

Cristina: Stumpfness als Qualität – mal eine andere Perspektive. Normalerweise aber ist stumpf gleich dumm und dumm ist – jetzt fällt mir kein Reim ein – aber negativ gewertet.

Euromasters – Alles Naar De Klote (Rotterdam Mix)

Alexis: Jetzt springen wir von 2019 nach 1992 zu diesem Gabber-Klassiker. “Deutschland Has Gotta Die” war eine Parole von Atari Teenage Riot. Davon fühlte sich wahrscheinlich kaum jemand unmittelbar angesprochen, denn Nationalisten hören wohl kaum ATR. Euromasters waren da direkter: Ihr Track nimmt einen damals beliebten House-DJ Amsterdams, DJ Dimitri, und seinen kontrollierten Sound auf das Korn.

Thaddeus: Auf jeden Fall laut.

Cristina: Hahaha, den Track haben wir einmal bei einer Gabber-Party in der Uni gespielt. Den mit der Kettensäge. Die Leute haben es geliebt. Obwohl sie sich sonst mit elektronischer Musik eher schwer getan haben.

Thaddeus: Immerhin sitzt die Hi-Hat auch auf der Bassdrum.

Alexis: Es ist unberechenbar und hat auch noch Humor.

Thaddeus: Abfahrt – ok. Das ist alles ganz witzig und taugt für die Rentner-Raver-Kreuzfahrt.

Alexis: Dazu ist es zu irre, zu dadaistisch, zu geschmacklos.

Christian: Kapier ich. Klingt aber wie die Thunderdome-Compilation, die meine Mutter eingesackt hatte, weil sie da einfach keinen Bock drauf hatte.

Cristina: “It came in the Dutch Top 40 and Mega Top 50”, sagt ein Discogs-User. Wow.

Thaddeus: Aber ich muss hier doch nochmal intervenieren. Wenn wir schon bei den alten Tracks angekommen sind: Zu Digital Hardcore-Zeiten gab es einfach unheimlich viele Entwürfe und Ideen, die sowohl diese Tracks wegblasen und den ganzen Hardcore von heute noch dazu. Total schade, dass die alle untergegangen sind und heute eher nicht mehr gespielt werden. Weil sie nicht digital sind, zu komplex und nicht in die Dancefloor-Gewohnheiten passen, die trotz aller Anti-Haltung immer noch gelten. So bleibt heute eigentlich nur das übrig, was damals schon immer sehr schnell sehr langweilig wurde.

Cristina: Dass das, was heute wieder aufkommt, schnell wieder langweilig werden wird, ist ziemlich klar, denke ich. Dass es weniger komplex ist, auch. Dennoch glaube ich, dass heutige Dancefloor-Gewohnheiten damit zumindest ein Stück weit aufgebrochen werden.

DJ Scud – Discipline of DE/ Slow-Corer

Thaddeus: DJ Scud ist ein gutes Beispiel von damals. Würde heute immer noch alles zerlegen. Ich bin aber eben auch eher Breakbeat als 4/4 im Distortion-Mode.

Alexis: Das ist toll. Komplex, aber dennoch extrem ungestüm und unkontrolliert.

Cristina: Das ist ja total langsam! Aber vom Sound her könnte man es heute, ob für eine Berlin-Mitte-Kunst-Party oder einen Boiler-Room, durchaus wieder hervorkramen.

Thaddeus: Das zeigt, wie komplex damals schon die Szene war und heute immer noch ist. Es ist nicht ganz einfach, diese ganzen Entwürfe unter einen Hut zu bekommen, obwohl sie irgendwie alle miteinander zu tun haben und sich historisch gesehen auch bedingen. Und doch ist die tatsächliche Schnittmenge klein. Perlen findet man hingegen überall. Bitte: Ihr DJs da draußen, sucht die doch mal alle zusammen und macht einen Mix.

Cristina: Naja, tanzen würde man dazu wahrscheinlich halftime und dann ist es schon eher langsam, ja. No jumping.

Thaddeus: Damals war es halt Pogo. Das fand ich aber auch immer doof. Halftime ist viel besser.

Alexis: Mit dem Noise, der mitläuft, ist es schon wirklich brutal. Sowas in Ableton zu machen ist schwer bis unmöglich.

Cristina: Haha, Thaddeus: Finde doch mal den Mix, den es vielleicht sogar schon im Internet gibt. Dann können wir ihn als Schlusswort ans Ende des Artikels setzen.

Diesen Mix hat Thaddeus nicht gefunden. Deshalb an dieser Stelle “Central Industrial II” von seiner eigenen Band Sonic Subjunkies von 1998.

Unser Zeitgeschichten-Interview mit Digital Hardcore Recordings-Gründer Alec Empire aus der GROOVE #131 findet ihr hier

 

 

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