Jahre bevor Alejandro Ghersi den Künstlernamen Arca für seine hochauflösend biomorphe Digitalästhetik zwischen Avantgarde und EDM/Trap-Mainstream in Anspruch nahm gab es schon das französische Trio aus Sylvain Chauveau, Joan Cambon und Jean-Pierre Isnardi. Seit den späten Neunzigern spielen sie postrockige Electronica akustisch im klassischen Bandformat Gitarre, Bass und Schlagzeug. Die minimalistischen Instrumentalstücke gaben sich – mit aussagekräftigen Samples und Sprachpassagen – von Beginn an durch literarische Texte und Poesie der Moderne inspiriert (der Name etwa zitiert den portugiesischen Avantgardisten Fernando Pessoa). Aktuell zum Duo geschrumpft haben sich Arca auf ihrem fünften Album Forces (Ici d’ailleurs/Mind Travels) einen leicht elektronischeren Look zugelegt, aber ansonsten wenig am Sound und Konstruktionsprinzip ihrer Stücke geändert. Im Ensemble 0 ist Sylvain Chauveau noch minimalistischer unterwegs. Aktuell mit Akustikgitarre, Harmonium und einem oder sogar zwei Glockenspielen besetzt, schreibt Ensemble 0 Plays Eight Compositions And It Lasts 38:36 (Flau) eine zwischen Pop und Avantgarde angesiedelte Ästhetik der frühen achtziger Jahre weiter, die sich zwischen der Minimal Music von Steve Reich und Philip Glass und dem von World Music und Ambient inspirierten Jazz der gerade massiv wiederentdeckten und neuaufgelegten Penguin Cafe Orchestra und Midori Takada bewegt.


Stream: ensemble 0 – Florent plays glockenspiel, JF plays ebows & guitar, Sylvain plays glockenspiel…

Das erste Wiener Gemüseorchester The Vegetable Orchestra nimmt das „organische“, das handgemachte, selbstgeschnitzte und mundgeblasene der akustischen Electronica beim Wort. Ihre Instrumente sind vergänglich und essbar, Möhrenflöten, Kürbispercussion und Rettichmarimba mit Kontaktmikrofonen zu vorübergehendem neuen Leben zur Virtuosität gebracht. Das Green Album (Transacoustic Research, VÖ: 19. November) – ihr erst viertes Album in zwanzig Jahren – mischt die Gemüseorchester-typische von Minimal Music inspirierte Klöppel- und Blas-Electronica noch einmal neu auf. Rhythmisch und instrumentell aufgelockert erinnert das Green Album manches mal an die tolle halbimprovisierte Aufnahme des ultimativen Gassenhauers der Minimal Music, Terry Rileys In C, die Africa Express vor drei Jahren in Bamako, Mali aufgenommen haben. Und noch eine gute Nachricht: Will Wiesenfeld (ehemals Baths und [Post-Foetus]) geht es wieder gut. Nach Jahren gesundheitlicher und ökonomischer Krisen produziert er wieder Musik, vielleicht sogar die schönste seiner bisherigen Karriere. Schon als Baths hat er die denkbar freundlichste Instrumental-Electronica mit kleinen IDM-Breakbeats fabriziert, aber sein Alias Geotic unter dem er über viele Jahre eher unauffälligen Ambient produziert und selbst verlegt hat, ist dem ersten regulären Album Abysmal (Ghostly International) im vergangenen Jahr zu einem wundervollen Instrument der Erneuerung geworden. Auf dem Nachfolger Traversa (Ghostly International) wird diese Wiederbelebung konsequent weitergeführt. Akustikklampfe, Keyboard und Drumcomputer sind geblieben, stehen aber nun weniger im Dienst von Tracks den von ausgewachsenen frisch-leichten Popsongs mit Gesang. Und was für Songs. Hier ist jedes Stück ein Hit. Erlend Øye kann schon mal den Wintermantel holen.


Stream: Geotic – Traversa

Sogar der mittlerweile fast mit Langeweile-Versicherung ausgelieferte „Neoklassik“-Tag kann im Dazwischen noch an Licht und Schatten gewinnen. Zum Beispiel in ganz besonders schön wenn die Berliner Musikerin und Fotografin Daniela Orvin auf ihrem Debütalbum Homes (Seasides On Postcards) den Ballast abwirft, der mit dem spieltechnischen Können an ihrem bevorzugten Instrument dem Piano üblicherweise so mittransportiert wird und stattdessen die Klavierklänge in warmen Synthesizerflächen verhallen lässt. So wird aus der Bewegung weg von der Neoklassik einfach bewegender Ambient. Das belgische Duo Maze & Lindholm, bestehend aus P.Maze (Power Electronics/Noise) und Otto Lindholm (Kontrabass), führt die rostigen, mürbe gewordenen Restbestände von Neoklassik und Komposition in dunklere und frostigere Gefilde. Where The Wolf Has Been Seen (Aurora Borealis) beschreibt einen sehr stillen, sehr verlassenen (oder besser: nie besonders belebt gewesenen) Ort zwischen arktischem Ambient und elektroakustischer Improvisation auf dem Akustikbass. Es gibt sehr wenig Musik im klassischen oder neoklassischen Sinn auf diesem Album. Aber gerade diese Abwesenheit, das extrem karge Sounddesign macht die Klänge hochspannend. Der britische Gitarrist Mike Cooper, der seine ersten Erfolge Ende der sechziger (!) Jahre des vorigen Jahrhunderts mit countryfizierter Folk-Psychedelia feierte, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem überaus wagemutigen und von musikalischen Berührungsängsten völlig freien Universalexperimentatoren entwickelt. Auf seinem jüngsten Album Tropical Gothic (Discrepant), seinem grob geschätzt ungefähr fünfundsiebzigsten, spielt er wildgewordene Tiki-Exotica und psychedelischen Surfpop mit elektrischer Improv-Gitarre über (Pseudo-?)Field Recordings und digitalen Glitch. Das ist sehr abgefahren und ziemlich weit vorne. Das australische Jazz-Trio The Necks in klassischer Piano-Bass-Schlagzeug Besetzung ist schon knapp vierzig Jahre aktiv und keineswegs müde geworden, eher im Gegenteil. Das knapp einstündige Stück Body (ReR Megacorp) verknüpft den klassischen The Necks-Sound zwischen Free Jazz und Brian Eno/Harold Budd-Ambient mit energetischen, so von ihnen bislang noch gehörten Ausflügen in Postrock-Gefilde. Von ihren bisher ungefähr dreißig Alben geht Body am heftigsten durch die Decke.

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