Sieht so aus als würde 2018 auch das Jahr der dänischen Produzentin und Singer-Songwriterin Soho Rezanejad werden. Im ersten Quartal hat Rezanejad, nebenbei auch noch Sängerin bei den Kopenhagener Synthpoppern Lust For Youth, nicht nur einen der besten Beiträge zur bisher sinnvollsten Freidenkerelektronik-Kompilation des Jahres I Could Go Anywhere, But Again I Go With You (Posh Isolation) abgeliefert, sondern auch das raumgreifende Album Six Archetypes (Silicone) und das großartig selbstbewusste Remix- und Kollaborationsalbum The Idealist Compilation (Silicone) auf dem ein einziger Track des Albums, “The Idealist”, in 26 (!) Variationen mit befreundeten Produzent*innen die ganze Welt der avancierten Post-Club Elektronik durchmisst – und das praktisch ohne qualitative Ausfälle. Auf der jüngsten Tape-EP World Breathes People (Silicone, VÖ 4. Mai) führt sie das Lebensgefühl der technoiden Düstermoderne von den posthumanen Cyborg- und Identitätsverwirrungs-Dystopien die Six Archetypes auslotete, zu einem noch mal anderen aber ebenso durchschlagskräftigen Hybrid aus der Spätgotik von This Mortal Coil, Dead Can Dance (oder jünger: Zola Jesus) und einem jenseitigen Trap-R’n’B-Sound, der sich hier ohne Verlust der Fruchtbarkeit mit einem Lo-Fi Tape-Ambient Sounddesign kreuzen ließ. Das queere, transhumane Experimentalprojekt Born In Flamez aus Los Angeles und jüngst auch Berlin, arbeitet für und gegen alles und alle die es sich zu einfach machen, in Sachen Identität, musikalischem Genre und Gruppenzugehörigkeit jeder Art. Die von Modeselektor protegierte Produzent*in vermeidet alle Arten einfacher und eindeutiger binärer Zuschreibungen, nicht zuletzt auch in den Sounds die sie verwendet. Der komplexe und post-aggressive Clubsound der EP Impossible Love (Infinite Machine) zehrt gleichermaßen von Grime, Dancehall und Footwork, wie von Slow Jam, R’n’B, Dark Wave, Synth Pop und klassischem Ambient, ohne je wirklich in einem der Stile auf Dauer zu verweilen. Eine grandiose freigeistige und freiliebende (Post-)Clubmusik für einen Club, den es wohl noch nicht gibt, der aber unbedingt mal aufgemacht werden müsste. Es ist an der Zeit. Die musikalischen Freiheiten die sich die zwischen Berlin und Providence, Rhode Island pendelnde Debütantin Eve Essex auf Here Appear (Sky Walking/Soap Industries) herausnimmt stammen eher aus dem Free Jazz als aus den elektronischen Grenzüberschreitungen, sind also eher handgespielt, mundgeblasen und freigequietscht als digital gemorpht. Essex‘ Avantgarde Pop hat dennoch einen elektronisch dekonstruierten Charakter und passt so perfekt in das Musik/Kunst Konzept ihres Herausgebers David Lieske (Carsten Jost vom Dial-Label und der Matthew Galerie) und kann sich zwischen den richtig großen Alben dieser Saison, von Sonae bis Soho Rezanejad ganz gut behaupten.
Stream: Soho Rezanejad feat. SKY H1 – The Idealist
Obwohl hypermodern und bis in den Kern elektrifiziert ist der hybride Sound des Debüts von Mårble, Diego (Not Not Fun), atmosphärisch ein gänzlich anderes Kaliber. Digitale World Music mit lockeren Jazz-Einlagen, meta-authentischen artifiziell-natürlichen Field Recordings und irrlichternden, ziemlich verbogenen Easy Listening-Sounds. Hinter dem skandinavisch anmutenden Namen verbirgt sich der Russe Anton Glebov aus St. Petersburg. Er collagiert seine auseinanderstrebenden Sounds mit einer erstaunlichen Leichtigkeit und Lässigkeit, die immer eine gewisse balearische oder kapverdische Strandwärme andeutet. Glebov nennt seinen Sound „5th World“, als herzliche Distanzierung und freundlich ironischer Kommentar auf den „4th World“-Hype, der im vergangenen Jahr mit zahlreichen Reissues wie den genredefinierenden Alben von Jon Hassell und Compilations wie Miracle Steps und Tropical Drums Of Deutschland mächtig in Schwung kam. So schräg und bunt wie in Mårbles fünfter World ging es in der wohlgeordneten 4th World allerdings nie zu. Die belgische Newcomerin Zoë Mc Pherson (ehemals Empty Taxi), bastelt sich auf String Figures (SVS Records) eine tropische Soundwelt tribaler Elektronik aus dekonstruierter hyperfuturistischer Bassmusik und dystopischem Techno. Das ist gleichzeitig topmodern, urwald-archaisch, lichtschwer bis schwülwarm und latent düster-bedrohlich. Von Lianen und fleischfressenden Pflanzen umwucherte Dschungelruinen in denen rostfreie Schamanen-Androiden bewusstseinserweiternde Substanzen austüfteln.
Auch die wohlgestaltete housige Electronica von Mary Yalex aus Leipzig imaginiert sich in wärmere Gefilde. Die River-EP (KANN), ihre erste Platte, die nicht auf der hauseigenen Plattform Yalex Recordings erscheint, reformuliert Genres der 90er-Jahre wie IDM und Chillout, in einem klaren und organischen Sounddesign das bei Deep House der allerfeinsten Sorte, etwa DJ Sprinkles ebenso genau hingehört hat wie bei den Genreklassikern von Boards Of Canada bis Aphex Twin. Der Electronica Produzent Jérémy Labelle lebt dagegen tatsächlich auf einer tropischen Insel, Réunion bei Madagaskar im Indischen Ozean. Seine Souviens-Toi-EP (Infiné) gönnt dem poppigsten Track seines Albums Univers-Île zwei Remixe. Der palästinensische Beatschneider Muqata’a bleibt dabei nahe an der Verbindung von französischem Hip Hop und Réunioner Maloya-Pop unterfüttert den Track mit einem schleppenden Bass-Groove, während die Norwegerin Julia Gjertsen das Stück in klassische strahlende Electronica aufgehen lässt. In diese Reihe mediterraner elektronischer Klänge gehört auch die ozeanische, von Hawaii-Gitarren durchwärmte Ambient-Exotica Who Are You (Beats In Space) von E Ruscha V, ein Pseudonym hinter dem sich der kalifornische Cosmic-Disco Produzent Secret Circuit verbirgt.
Video: Zoë Mc Pherson – Inouï
Dass sich junge Menschen, die in ihrer musikalischen Lieblingsdekade noch nicht mal geboren waren, eine damalige Jugend virtuell und mit heutigen Mitteln nachbauen ist nur zu begrüßen. Denn mit etwas Glück passiert bei dieser Kunst der „Appropriation“ etwas, dass das Ergebnis weder ganz den heutigen Standards gehorchen lässt, noch eine brave Replica des Originalsounds im Retro-Look daraus wird. In den gefühlten 80er-Jahren des holländischen Grime-Produzenten Mokona muss genau so etwas passiert sein. Love In Restricted Areas (Templar Sound) lässt aus den populären Varianten der Elektronik der Achtziger zwischen Vangelis, Knight Rider und Carpenter-Soundtracks die Luft raus bis jeglicher Bombast verschwindet. Das klingt dann ähnlich wie Trash- und Fehlerästhetik von Vaporwave, aber ohne deren sarkastisch-analytische Kälte. Jesse Briata alias Lockbox aus dem Provinznest Boulder, Colorado in den Rocky Mountains, arbeitet sich an der IDM der frühen 90er-Jahre ab, in denen er noch nicht geboren war. Seine Tape-Glitches und Beathacks haben gleichermaßen bei japanischen Game-Soundtracks wie bei Vaporwave hingehört, deren Ästhetik er auf Free VDV Prayer (Hausu Mountain) auch gehörig abfeiert. Ein Ohr für feine Texturen hebt das Album von der Masse der Retro-Beatschinder ab. Der belgische DJ und Outsider-House-Produzent Lawrence Le Doux ist zwar nicht mehr wirklich jugendlich, hat aber eine geistesverwandte Leidenschaft für obskure Elektronik der letzten vier Dekaden. Wie das schicke Vinyl von Host (Vlek) auf augenzwinkernde Weise vorführt, kann Le Doux solche Obskuritäten aber auch selber herstellen. Das Album präsentiert eine Auswahl seiner fiktiven Entdeckungen, von einer flämische Schülerband die nur zwei Demotapes produzierte, zu TV-Doku Soundtracks, jeweils mit liebevoll geschilderter Wiederentdeckungsgeschichte und Original-Credits. Durchwegs tolle Freistil-Elektronik mit dem Charme des Hausgemachten.
Stream: Lockbox – Milk Breathe
Örvar Smárason ist als Instrumentalist und Produzent von Múm, FM Belfast, Seabear, Benni Hemm Hemm und einigen anderen, ein mehr als solider Knotenpunkt der isländischen Bandszene. Seit zwei, drei Jahren hat er einen kreativen Lauf, der so dann doch noch nicht dagewesen ist. Light Is Liquid (Morr Music), sein erstes Soloalbum in mehr als zwanzig aktiven Jahren als Musiker, gibt seiner Erfahrung einen angemessen Rahmen. Hier wirkt einer der nichts beweisen muss, der einfach nur spielen will. Klassische Electronica im Stil der 90er-Jahre, milde experimentell, milde elektronisch und milde pathetisch mit einem tiefengeschulten Gespür für Songwriting. Der Brooklyner JD Walsh alias Shy Layers ist dagegen ein relativer Newcomer, aber nicht weniger lässig und souverän in dem was er tut. Midnight Markers (Beats In Space) ist entspannte Folktronica in der auch bei Liebeskummer noch die Sonne in die WG-Küche scheint, und die dann gerne mal ein bisschen funky wird.
Stream: Örvar Smárason – Photoelectric feat. Sillus
Jan Jelinek bewegt sich inzwischen in einer ganz eigenen Sphäre in der er sämtliche Freiheiten auskostet, die sich beim Experimentieren so bieten. Dass er dabei meist einem wohldurchdachten konzeptuellen Überbau folgt ist kein Widerspruch. Auf Zwischen (Faitiche) gibt Jelinek den Verlegenheitspausen und Füllseln aus Radiointerviews diverser Musiker, Künstler und Literaten, welche jeweils sowas wie die Avantgarde ihrer Zeit und ihres Genres darstellten, einen adäquaten klanglichen Hintergrund. Das schwere Luftholen, das Räuspern, die Hms, Ähs und Öhs, die funktionslosen Wortbrücken und die feuchte Aussprache von Max Ernst bis Yoko Ono, von Slavoj Žižek bis Friederike Mayröcker setzt Jelinek in eine neutönende elektroakustishe Umgebung. Das ist schon strengste Konzeptkunst, macht aber erstaunlich viel Spaß. Das zeitgleich erscheinende Reissue der Improvisations And Edits, Tokyo 26.09.2001 (Faitiche) von Jan Jelinek & Computer Soup, das es bisher nur auf CD und als Japan-Import gab, dokumentieren Jelinek auf dem Kulminations- und Endpunkt seiner „warmen“ Glitchphase. Die Improvisationskunst des japanischen Laptop-Trios und das Live-Engineering Jelineks ergänzen sich hier überaus synergetisch. Der Hamburger Marc Richter, sonst eher als Black To Comm bekannt fabriziert unter dem Alias Jemh Circs hochexperimentellen Lo-Fi-Glitch. Die zweite Arbeit unter diesem Namen, (untitled) Kingdom (Cellule75) steht was die verschrobene Freigeistigkeit bei gleichzeitigem Restbewusstsein um Pop und Hörbarkeit Jelinek in nichts nach.
Video: Improvisations And Edits, Tokyo 26.09.2001