Zuerst erschienen in Groove 172 (April/Mai 2017).

„She Brings The Rain“ oder „Sing Swan Song“ von Can gehören zu den schönsten Songs der Popgeschichte. Die 1968 gegründete Band hat aber nicht allein schöne Songs geschrieben, sondern die Musik der Zeit komplett auf den Kopf gestellt. Can wurden Vorbilder für das radikale Experimentieren des Postpunk in den Achtzigern, für den Crossover der Neunziger, für das Sampling ethnischer Musik im TripHop, im Ambient und im aktuellen Ethno-House.

Darüber hinaus entwickelten Can die Arbeitsweise, die heute in der elektronischen Musik verbreitet ist: Sie improvisierten lange und montierten später die Aufnahmen zu fertigen Stücken. Keyboarder Irmin Schmidt und Bassist Holger Czukay (RIP) hatten beim Komponisten Karlheinz Stockhausen studiert. Schmidt hatte schon vor Can eine aussichtsreiche Karriere als Dirigent und Komponist vor sich, Jaki Liebezeit war ein erfolg- reicher Jazz-Drummer. Ihre Faszination für Rock und Soul brachte sie dazu, eine Band zu gründen. Ihr Ehrgeiz hinderte sie nicht daran, mit Leuten ohne vergleichbare Ambitionen zu kollaborieren. Can-Sänger Damo Suzuki bereiste Europa als Straßenmusiker, Schmidt und Czukay verpflichteten ihn von der Straße weg.

Zeitgeschichten: CAN

Dieser Clash von Intellekt und Spontaneität ist typisch für Can. In Tracks wie „Halleluwah“ öffneten sie sich wie sonst nur Neu! dem Rhythmus und dessen hypnotischer Wirkung. Es gibt auch kakophone Passagen in ihrer Musik, die desorientierend sind, die das Publikum schockierten. In dem aufwändig recherchierten und unterhaltsam erzählten Buch All Gates Open – The Story Of Can erlaubt uns Rob Young nachzuvollziehen, aus was für einem Umfeld die Band entstanden ist.

Die zahllosen Anekdoten spiegeln nicht nur die einzelnen Charaktere und die Musikszene der Zeit wieder, sondern auch das gesamte geistige, kulturelle und politische Klima. Schmidt erlebte als Kind, wie seine jüdischen Nachbarn nach Auschwitz deportiert wurden. Er konnte seinen Eltern nicht verzeihen, nichts dagegen unternommen zu haben. Dieses und andere Traumata werden auch in der Musik spürbar. Ebenso wie die Kraft, mit der die Band sich mit ihrer Musik ein besseres, schöneres und gerechteres Leben zu erkämpfen versuchte.

All Gates Open – The Story of Can von Rob Young und Irmin Schmidt (581 Seiten) erscheint bei Faber & Faber. Hier kann man die auf 200 Kopien limitierte Sonder-Edition vorbestellen. 

Vorheriger ArtikelDeath In Vegas: Große Verlosungsaktion
Nächster ArtikelMotherboard: Mai 2018