Nobel geht die Welt zugrunde. Dabei wäre es vermutlich auch gar nicht anders zu erwarten gewesen. Der passende Soundtrack zum finalen Spektakel wird jedenfalls auf Mixtapes vercheckt: Klampfendes Metall, abstrahierte Beats und Aufruhr aus dem Untergrund. Tapestry präsentiert unterschiedliche Veröffentlichungen aus noch unterschiedlicheren Ecken dieser Welt. Überblicksartig zusammengefasst von Christoph Benkeser.

7Lana Del Rabies – Shadow World (Deathbomb Arc)


Die Zukunft hatte einen Termin. Jetzt ist es fünf nach Zwölf und wir haben nicht auf die Uhr gesehen. Die Zeit verpasst, den Wendepunkt verschlafen. Von jetzt an geht es beständig bergab – oder schlimmer: einfach so weiter wie zuvor! Der Zorn, der angesichts dieser nicht vorhandenen Aussichten entstehen kann, mag unerträglich und zermürbend sein. Aber nur wenige vermögen es, die angestaute Wut so grausam herzlich aus dem Leib zu brüllen wie Lana Del Rabies, die eigentlich Sam An heißt und ihren Nom de Guerre einem Kunstprojekt verdankt, bei dem sie Songs von Lana Del Rey in abstrakte Drones verwandelte.

Die aus Phoenix, Arizona stammende Künstlerin veröffentlichte nun vor kurzem ihr zweites Album. Shadow World heißt das auf 50 Kassetten limitierte Überfallkommando symptomatisch, gilt es sich doch als stilsichere Bestandsaufnahme für den (welt-)eigenen Zustand, der, so scheint es zumindest, mit herkömmlichen Mitteln der Musik nicht mehr zu vermitteln ist. Die Schattenwelt, von Geistern und anderen höchst fragwürdigen Kreaturen bevölkert, wird besungen. Menschen gibt es natürlich keine mehr, sofern man moralische Maßstäbe als deren einzige Identifikation heranziehen möchte.

Was noch relativ bieder zwischen Industrial und Noise beginnt, sich in wahnwitzig überdrehten Synthesizer-Fahnen empor schwingt und einen mit schneidenden Bässen zurück auf den Boden der Tatsachen wirft, ist nichts anderes als beißende, hochkonzentrierte Säure in sublimierter Form akustisch-taumelnder Signale. Stellt euch den räudigsten, kratzigsten Shoegaze vor, multipliziert ihn durch eure schlimmsten Albträume, komprimiert auf einen einzigen, endlos langen Horrorsoundtrack und ihr seid nicht ansatzweise in der Nähe dessen, was sich euch hier in unkonventionellem Stampfen in den Weg stellt. “Reign” zum Beispiel: Ein Inferno aus glühenden Metallstäben, die in riesig anmutenden Lagerhallen mit wuchtigen Hammerschlägen bearbeitet werden. Die Maschine gibt den Takt vor. Die Sirenen heulen. Man gehorcht. Der Rhythmus als einzige Hoffnung auf der Suche nach der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitlichen. Dazu Del Rabies Stimme, ein zur Unkenntlichkeit verschwommenes Säuseln, dann ein übersteuertes Kreischen, das unweigerlich an Elvin Brandhi erinnert und in etwa so klingt, als wäre Carla del Forno im Riot Grrrl-Modus. Anmutig und düster!

6Blood Room – Breakers Yard (Proto Sites)

Der Brite Tim Matts gründet vor einigen Jahren zusammen mit Andy Billington das Kassettenlabel Seagrave – seit jeher eine der innovativsten Institutionen für die experimentellen Auswüchse der Tape-Szene und sicherlich ganz vorne dabei, wenn es darum geht, die Grenzen tradierter Clubmusik in ihre verrosteten Einzelteile zu zerlegen. Ganz nebenbei ist Matts aber auch ein hervorragender Produzent mit einem Gespür für hyper-abstrahierte Beatstrukturen. Das hat er auf mittlerweile elf Alben für verschiedenste Labels von Hylé Tapes über Fort Evil Fruit bis hin zu Søvn und Always Human Tapes unter dem Namen Blood Room eindrucksvoll unter Beweise gestellt.

Sein Zwölftes erschien vor kurzem auf dem slowakisch-britischen Proto Sites-Label und birgt ein wahres Sammelsurium aus zerstückelten Micro-Samples, experimentellem Sounddesign und wunderbar verschleiertem, abstrahiertem UK Garage. Massive Kicks (“This Got Boom”) sorgen für ein solides Fundament, auf dem sich von staubtrockenen Snares bis hin zu markiger Percussion alles tummelt, was sich in ein klanglich aufgeräumtes, übersichtliches, dabei immer kantiges aber gleichzeitig auch unglaublich durchdachtes Arrangement einordnen lässt. Der Rapper Sensational steuert außerdem seine Stimme auf der A-Seite bei, was dem Ganzen unwillkürlich einen humanoiden Touch verleiht. Irgendwie weiß man nie, ob man zu der vertrackten Rhythmen jetzt schon tanzen oder doch nur lässig den Kopf nicken soll. Breakers Yard klingt jedenfalls, als hätte man Squarepusher probeweise mit nichts als einem verrosteten Sampler auf Rohkostdiät gesetzt.

5Zim Zum – Zim Zum (Zam Zam Records)

“Granite dance with astrological synthesizers from Manchester” steht in der einzeiligen Beschreibung. Das war’s dann aber auch schon wieder mit den großen Worten zum selbstbetitelten Album von Zim Zum. Neben der semantischen Analogie zum Mutterlabel Zam Zam Records – seit 2011 ein Schmelztiegel für exkavierend-experimentelle Klangerforschung aus Frankreich – stellt jedenfalls auch die Geisteshaltung des eigenen Sounds von Zim Zum eine gewisse Affinität zu allerlei sonischen Erforschungen dar. Metall klampft auf Metall, zu Beginn mehr klopfend, später dann unbarmherzig gellend als stünde man im Maschinenraum einstürzender Neubauten. “Knightmare Space Cake”, mit fast neun Minuten das längste Stück des Albums, entpuppt sich als extraterrestrisches Aufeinandertreffen hochfrequenter Ströme und grollender Erdumwälzungen. Wow!

Im Vergleich dazu klingt “Deathwish N.M” mit seinem repetitiven Beatgerüst und den trocken in die Ferne gesprochenen Sätzen wie ein hyperabstraktes, zwei Millionen Lichtjahre entferntes Substrat der Sleaford Mods. Doch für derlei kieferverrenkende Schimpftiraden ist wahrlich keine Zeit. Man entfernt sich in Überschallgeschwindigkeit zunehmend weiter von einer nur scheinbar vertrauten Umgebung und endet in völliger Entfremdung. Klänge, zu Beginn noch stilbildend ihrem eigenen Ursprung zuzuordnen, entwickeln sich zu einem schwurbelnden Amalgam aus außerweltlichen Spielereien, die schlussendlich in eigenartig-akusmatische Stille führen – und nur kurz einen Blick in eine andere Welt erlauben. Space is the place, Zim Zum laden ein!

4Acre – Hollow Body (Opal Tapes)

Es sind Stimmen aus dem Nichts, so eigenartig fremd und körperlos, die auf dem neuen Album von Acre herausstechen, den Unterschied machen – selbst wenn sie nur kurz aufblitzen und bald fern verhallen. Der Produzent aus Manchester probiert sich erstmals im Albumformat – mit Mikrosamples, zwischen Sounddesign und auseinandergerrissenen, beinahe arrythmischen Arrangements, unruhig umherschwirrend, dann wieder in sanfteren Wogen dahintreibend. Hollow Body ist anspruchsvoll zu hören, kein reiner Hörgenuss im herkömmlichen Sinne, aber tatsächlich anders, wirklich neu – und gerade deswegen abstrahierter, eckiger, systematisch offener als seine bisherigen Veröffentlichungen, die lose um technoiden Footwork und instrumentalen Grime kreiselten.

Zugegeben, die angesprochenen Stücke entsprangen allesamt EPs (zu empfehlen ist vor allem Burning Memories) und waren für verschwitzte Dancefloors konzipiert. Mit dem jetzt auf Opal Tapes erschienenem Album lässt sich aber nicht nur im Umfang der Veröffentlichung weiter ausholen. Entstanden ist ein ganzheitliches, dem Titel kohärent entsprechendes Album mit überdrehten Höhen und entschleunigten Tiefen. Es wäre allerdings vermessen zu sagen, dass hier jemand einem roten Faden folgt. Zumindest nicht im eigentlichen, übertragenen Sinne. Denn dafür hätte sich Acre zu weit von abgetrampelten Pfaden entfernt.

Im Gegenteil: über zehn Stücke werden neue, nicht ausgeschriebene, weil überhaupt noch nicht vorhandene Wege beschritten. »Hollow Body« ist so etwas wie die notwendige Weiterführung von Grime und somit auch Musik, die in eine nicht vorhandene, substanzlose Zukunft blickt. Die Alternativen vorschlägt, wo scheinbar keine mehr zu finden sind. Die das Zomibiehafte der Vergangenheit ein Stück weit hinter sich zu lassen vermag. Gerade das macht dieses Album aus: es ist keine Wiederherstellung bestehender Formen, keine Ausarbeitung an ohnehin schon abgearbeiteten Ausführungen digitaler Musikbearbeitung, sondern eine veritable Deformation – vielleicht die Dekonstruktion ihrer Deformation. Auffallend spanned zu hören!

3Territoire – Alix (humo)

Natürliches Sonnenlicht sehen heute die wenigsten. Dabei muss man die Sonne nicht zwingend scheuen oder gar beruflich unter Tage weilen, der ganz normale Büroalltag reicht locker aus, um für einen veritablen Mangel an Vitamin D zu sorgen. Im gemeinsamen Zusammenwirken mit der ohnehin schon kargen und immer ausgedehnteren Winterzeit entwickelt sich so eine lauffeuerartig ausbrechende Epidemie, die heutzutage fast allen unter der euphemistisch betitelten Winterdepression bekannt ist. Gut, wir wollen hier nicht weiter agitieren: Vielmehr ist es Zeit, um Fenster und Türen weit aufzureißen und die lebenswichtigen Strahlenbüschel hereinzuwinken. Vielleicht wagt man es gar und schreitet nach draußen, macht eine Reise gen Süden oder öffnet die Augen. Für militante UV-VerweigerInnen stellen derlei Gedanken und der Ausblick auf die herannahenden Sommermonate hingegen keine Glückvorstellung dar. Fuck the sun, mein Metier sind meine vier Wände!

Inwiefern sich Olivier Arson in dieser Hinsicht in freiwilliger Enthaltung übt, ist nicht genauer überliefert. Angesichts seiner als Territoire vertriebenen Musik ließe sich aber leicht der Schluss ziehen, dass der französische Produzent eher seltener zu lebensaffirmativen Ausflügen unter der Sonne neigt. Alix heißt das nun kürzlich auf Humo erschienene Album und gräbt sich inhaltlich, wenn nicht unter die Erde, so aber weiter in anderweitige Gefilde, in denen die Sonne nicht nur nichts zu sagen hat, sondern allein die Vorstellung eines leuchtenden Himmelskörper eigenartig fremd anmuten muss. In dieser leeren, grenzenlos unfruchtbaren Welt existiert so etwas wie Licht nicht, es ist nicht vorgesehen. Würde man den körperlosen Gestalten, die hier murrend ihr Dasein fristen, davon erzählen, man wäre schnell für aberwitzig und verrückt erklärt.

Dementsprechend düster grollen und grunzen die plastizierten Sounds auch dahin. Kein Raum für Schönes! Rhythmisch perkussiv beruft sich Arson derweil auf spanische Ein-Mann-Miliz. Oscar Mulero, seit drei Jahrzehnten das Aushängeschild der iberischen Techno-Kratie, treibt das totgeglaubte Etwas weiter an und vermag ihm in manchen Momenten sogar neues Leben einzuhauchen. Besonders attraktiv klingt das nicht. Dazu kommt, dass die Kommunikation angesichts dem zischend unterlaufenen Gesäusel auch eher im Einbahnmodus verläuft. Als Konzept und in der Ausstellung (im hoffentlich lichtdichten Bunker) super, für den Frühling dafür eher nichts!

2Haram Tapes – Haram (s/r)

Das Album Haram entstammt einer international ausgerichteten Ko-Produktion zwischen Robin Jessup (See Safari) und Sumatran Black. Das Duo vereint sich dabei schlicht unter dem Namen Haram Tapes und steht für die sonische Triade zwischen Marrokko, Istanbul und Wien. Über neun Stücke drängen sich verzerrte Field-Recordings aus ebenen jenen und verschiedenen anderen Orten dieser Welt, die in verworrenen Beat-Strukturen ihr Gegenüber finden. Das Album gibt sich offen politisch. Es sei der Soundtrack für all jene Menschen, die in dieser düsteren, von einer immer stärker werdenden autoritären und weiter nach rechts driftenden Welt, leben müssen. Gemeint sind damit also zur Zeit fast alle.

“Remember What Is Gone and What Will Pass Again and Again” stellt dahingehend gleich als zweiter Titel die semantische Weiche für die folgenden Stücke. Das Gefühl unrechtmäßiger Entwurzelung, der forcierten Vertreibung und einer sich auf klerikale Allmacht beziehende Unterdrückung, ist die treibende Kraft hinter den Haram Tapes. Dabei entsteht ein immersives Zusammenspiel aus weit in der Ferne verhallenden und kratzig übersteuerten Feldaufnahmen, die in gewisser Weise als Grundgerüst für das komplette Arrangement dienen. Das wirkt teils verstörend, oft genug aber, wie in den Stücken “Houses of Images, Marrakech” und “Istanbul is a Broken Dream” überaus betörend. Fast schon verträumt geben sich die die unterschiedlichen Sprachaufnahmen dann, werden fest ummantelt von Synthesizer-Fäden, die eine solipsistische Leere suggerieren. Die türkisch-österreichische Produktion Haram Tapes bietet eine vielschichtige Darbietung zeitgenössischer elektronischer Musik und in Zeiten emotionaler Deprivation für manche sicherlich einen willkommenen Ausblick.

1Herbal Detonators – Herbal Detonators (ACR)

Irgendwas zum Runterkommen, bitte. Nach all dem Aufruhr, den schlaflosen Nächten und den ungeträumten Träumen, soll hier zum Abschluss dieser Kolumne noch auf Musik hingewiesen sein, die ähnlich sedativ wie Downer wirkt, ohne aber jemals in einfallslose Redundanz zu verfallen. Es ist eine Art Schwebezustand der Dinge, vielleicht sogar der eigenen Person, sofern man sich die Zeit nimmt und über die Dauer von 50 Minuten lang träge dahinzutreiben vermag, sich tatenlos hingibt, bereitwillig in Kontemplation verfällt – in ungedachten Gedanken der Vergangenheit schwelgend, völlig abgekoppelt von der Umgebung, von allen äußeren Einflüssen. Im besten Fall entsteht so zunehmend eine eng umschlungene Synthese aus Körper und Musik, um sich selbst ein Stück weit näher zu kommen.

Herbal Detonators heißt also jenes Album, das kürzlich auf ACR erschienen ist und darüberhinaus eine Art namentliche Zäsur für den Künstler Jan Palatý darstellt. Als Izanasz hat der tschechische Künstler bisher beispielsweise auf Genot Center (Spectral Cascades), aber auch schon letztes Jahr unter ACR (Fāl-gūsh) veröffentlicht. Meistens sind es sphärische, treibende, sprießende Klänge, die den Sound- und Grafikdesigner antreiben. Ein rauschendes Nichts aus nebulösen Silhouetten und flüchtigen Schwaden körperloser Derivate, die sich fortlaufend entwickeln, sich in ihrer geisterhaften Akusmatik beständig selbst verändern und immer dann Gestalt annehmen, wenn die einzelnen, losen Fragmente sich wieder aufzulösen drohen. Die Musik entwickelt sich in einem Kreislauf uneingenommener Zeitlichkeit, nimmt keine Rücksicht auf maschinelle Taktangaben und regimetreue Algorithmen. Zeitdruck ist weit entfernt, Stress ebenso. Herbal Detonators ist ein Moment der Nähe, eine eigensinnige, ungemein einnehmende Präsenz.

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