burger
burger
burger

Juli 2023: Die einschlägigen Compilations

VA – AWAY 10 Years (AWAY)

In zehn Jahren hat sich die Partyreihe AWAY durch ihr bestechendes Booking zwischen House und Techno fest im ://about blank am Berliner Ostkreuz verwurzelt. Zum Jubiläum gab es nicht nur eine dreitägige Party mit den üblichen Verdächtigen von Omar S bis hin zu neuen Freund:innen aus Südostasien, sondern auch die Veröffentlichung einer Compilation mit Tracks der Künstler:innen, die mehr oder weniger regelmäßig bei AWAY spielen.

Den Opener macht Moodymann aus Detroit mit headigen House-Grooves und seiner säuselnden Stimme, bevor es pumpender wird mit Vocal-lastigem Tech-House von Eluize. Beide Stücke würden wohl eher tagsüber im Garten des Blanks laufen, dem auch Move D seinen Beitrag „Garden” widmet. Eine Hommage an den vielleicht besten Draußen-Floor der Stadt, repräsentiert dieser hoffnungsvolle, von warmen Chords getragener House genau die ausgelassene Stimmung, mit der Move D die Jubiläumsparty als letzter DJ am Sonntagabend beschließen durfte.

Da auf der AWAY drinnen aber auch ordentlich Techno geballert wird, gibt es auf der Compilation auch deftige Maschinen-Jams von Lady Starlight oder Inland, scharf schneidenden Acid von AWAY-Mitbegründer Discrete Circuit und Big Room von Mark Broom.

Irgendwo dazwischen hört man überraschend den 1993er-Hit „Show Me Love” – von Axel Boman zu einer verträumten, dubbig-schwofenden Deep-House-Nummer gesampelt. Auch das ist AWAY. Leopold Hutter

Bill Brewster – After Dark Vespertine (Late Night Tales)

Acht Jahre sind vergangen seit der letzten After Dark-Compilation von Bill Brewster, seines Zeichens Mitverfasser des DJ-Culture-Standardwerks Last Night a DJ Saved My Life. Mit After Dark: Vespertine erscheint nach dem Debüt von 2013, Nightshift (2014) und Nocturne (2015) der vierte Teil der Reihe. Seit jeher interpretiert Brewster mit seiner Sub-Serie das Konzept der mit der AnotherLateNight-Serie etablierten, dann als Late Night Tales fortgesetzten Anthologie, Club-Acts wie Nightmares On Wax oder Fatboy Slim Mixtape-artige Erzählungen jenseits des Dancefloors zu entlocken.

Auf ganz eigene Art stellt Brewster in seinen Mixen sehr wohl den Groove in den Mittelpunkt, allerdings eben – der vorgerückten Stunde angemessen – eher in Andante als Allegro (oder gar Vivace oder Presto, wie sie aktuell mal wieder Konjunktur haben sollen). Gemessen am Titel, eröffnet Brewster Vespertine mit T.O.Es „Infinite Consciousness” und „Idle Hours”, einem 1984 nur in Japan erschienenen Hidden-Gem der Island Band, in überraschend heller, ja geradezu sonnendurchfluteter Klangfarbenpalette. „Nijána”, ein Track der tschechischen Bandleaderin Jana Koubková von 1985, der ein wenig an Codeks „Tim Toum” erinnert, verlängert die balearische Grundstimmung in die Dämmerung. Den lauernden Funk im Remix von „Don’t Drop Me” der Indie-Legende Jeb Loy Nichols hat Brewster mit Studioproduktionspartner Alex Tepper unter dem Moniker Hotel Motel selbst besorgt.

Ziemlich grandios dann, wie die knorpelige Electric-Boogie-Bassline von Khruangbins „So We Won’t Forget” im „Mang Dynasty Irreverent Dub”, Brewster hier im Duo mit Ray Mang, in Nick Mundas „Drum Lock” einmarschiert. Mit Debbe & The Code („Code Of Love”) folgt ein Abstecher in die Garage. Den tropisch-karibischen Vibe hält Brewster in seinem Connaisseur-Mix komplett durch. Mehrheitlich sind die zwölf (digital: 19) Tracks bislang unveröffentlicht (hervorgehoben seien Fernandos Italo-Trance-Nummer „1998” und Rheinzands „Kills And Kisses” im „Scorpio Twins Remix”). Einige, wie Chaz Jankels nur als Single veröffentlichter Reggae-Funk-Creeper „Manon Manon”, der hier die Coda markiert, machen die Anschaffung angesichts der exorbitanten Sammlerpreise für Originalpressungen auch in ökonomischer Hinsicht zu einer lohnenswerten Investition. Harry Schmidt

VA – Klar!80 – Ein Kassetten-Label aus Düsseldorf 1980 – 1982 (Bureau B)

Ein Original, eine Kopiermaschine: die Kassette war das erste Medium, mittels dessen Musik quasi vom Wohnzimmer aus unter die Leute gebracht werden konnte. So florierten im Ausklang des Punk mit seinem Do-It-Yourself-Ethos die Kassettenlabels. Eines davon stellt Stefan Schneider, früher Kreidler und To Rococo Rot, vor. Klar!80 veröffentlichte 18 Kassetten und eine Vinylbox in der kurzen Zeit zwischen 1980 und 1982. Es gab zudem einen Treffpunkt: ein Ladenlokal in Düsseldorf-Bilk.

Die Stücke in Schneiders Auswahl sind geprägt von Exaltiertheit – affektierte Schreie, schräge Saxofone –, mehr aber noch durch eine rhythmische Komplexität. Europas „Dein Zauber” etwa röchelt über einen dubbigen Herzschlag, „OT” von Eraserhead rührt alles in einer schnell rotierenden, kosmischen Suppe aus Bleeps und Funken.

Mit CHBB sind die späteren Liaisons Dangereuses vorzuhören; Chrislo Haas und Beate Bartel fertigen mit „Mau-Mau” eine Klangcollage aus Stimmfetzen, Tröten und einem perkussiven Beat mit Betonung auf Zwo und Vier. Ähnlich, nur lärmiger gehen Blässe mit ihrem sprachverliebten Titel „Taktlose Klapperschlangen” vor. Eine neue Vorgeschichte der Neuen Deutschen Welle wird hier geschrieben. Erfreulich, dass auch sie nicht erklären kann, was die Punks zu der Zeit vom Saxofon wollten. Christoph Braun

VA – RAW Summer Hits 4 (RAW)

Was 2020 als humoristischer Lichtblick im pandemischen Alltag begann, ist mittlerweile zur Tradition geworden. Denn sobald die Temperaturen die 30-Grad-Marke knacken und die Soundsysteme unter freiem Himmel aus dem Boden sprießen, ist es Zeit für eine neue Summer Hits Compilation von RAW. Wobei man sich entschieden hat, das Ganze im nunmehr vierten Jahr neu aufzuziehen und das altbewährte Konzept abzuändern. Mussten sich die vertretenen Produzent:innen in den letzten Jahren jeweils einen mal mehr, mal weniger poppigen Hit aussuchen, das Sample flippen und dann mit harten bis trancigen Basslines unterlegen, stehen 2023 alle Türen offen. Denn RAW scheint erkannt zu haben, dass Edits langsam öde werden, und hat sich entschieden, den Künstler:innen gar keine Vorgaben mehr zu machen, außer: tanzbar, schnell und Summer-Vibes.

Das Line-up liest sich wie das Who’s Who der Newschool-Trance-und-Techno-Soundcloud-Riege und liefert über 22 Tracks hinweg tatsächlich einen hervorragenden Soundtrack, um sich die schwitzigen Nächte um die Ohren zu schlagen. Weil sich die Compilation sowohl in puncto Veröffentlichungsdatum als auch thematisch in zwei Hälften teilt, fährt der erste Part funky Grooves im Sonnenschein und dunklen Techno für die Hitze der Nacht auf, während sich Teil zwei ganz und gar dem Sonnenaufgang verschrieben hat und die Tanzfläche in neblige Melancholie hüllt.

Zugegebenermaßen lassen einige Anspielstationen das titelgebende Hitpotenzial vermissen und wirken eher wie funktionale Rave-Tools, aber dennoch wird die Compilation auch in diesem Jahr wieder auf Hot-Rotation laufen und ist ein Fest für alle, die im ersten Sonnenlicht gerne mal ein Tränchen verdrücken. Till Kanis

Richard Sen presents Dream The Dream: UK Techno, House and Breakbeat 1990-1994 (Dance Music From Planet Earth)

Ambient, House, Electronica, Techno, Großbritannien, Früh-Neunziger – hatten wir all dies nicht neulich schon einmal? Und tatsächlich, ja – gerade mal zwei Monate ist es her, dass die Compilation Happyland einen fast identischen Acker bestellte. Und das war sicherlich nicht die Einzige. Richard Sen, renommierter DJ seit 1989 und Kurator dieses Samplers, hat sogar selbst schon eine ähnlich gelagerte Compilation zusammengestellt. Nicht gestern zwar, sondern vor elf Jahren: This Ain’t Chicago war der Name, sie befasste sich mit britischen Underground-Acid-House-Tracks der späten Achtziger und frühen Neunziger und sei jedem Dance-Music-Liebhaber wärmstens ans Herz gelegt. Und dass dieser Acker immer noch mehr als fruchtbar ist, beweisen die Stücke hier ein ums andere Mal.

Konzentrierte sich die Nicht-Chicago-Compilation auf relativ gerade vorantanzenden House, Happyland (es sei angemerkt, dass dieser Sampler nicht von Sen kuratiert wurde) stark auf die Ambient- und Electronica-Produktionen junger britischer Produzenten der damaligen Zeit, so stehen auf Dream The Dream nun mehr Breakbeat-lastige Produktionen im Mittelpunkt.

Das heißt aber nicht, dass es sich hier um eine Drum’n’Bass- oder Jungle-Compilation handelt. Vielmehr dockt der Breakbeat an die vielseitigen, immer wieder überraschenden Produktionen aus Techno, House, Electronica und Ambient an, schreckt aber auch nicht vor den Ethno-Vibes geheimnisvoller bulgarischer Stimmen zurück. Dabei wechseln sich obskure, unbekannte Produktionen mit legendären Szenegrößen wie Bandulu, Dream Frequency oder Kirk Degiorgios Projekt As On ab.

Musikalisch beschreibt der Sampler dabei einen klaren Bogen: Los geht es mit dem epischen, zehnminütigen Ambient House von Centuras, gefolgt von Tribal- und Bleep-House-Exkursionen. Von Bleep zu technoiden und Trance miteinbeziehenden Gefilden ist es dann nur ein kleiner Sprung, bevor wir über Electronica wieder bei Ambient House landen. Angelegt wie eine gute DJ-Nacht, die Trackauswahl dabei brillant. Da gibt es wirklich nichts zu meckern. Tim Lorenz

In diesem Text

Weiterlesen

Reviews

Motherboard: November 2024

In der aktuellen Nischen-Rundschau hören wir schwermetallgewichtigen Rock, reife Popsongs und Werner Herzogs Vermächtnis.

Lunchmeat 2024: Der Mehrwert liegt im Imperfekten

Auch in diesem Jahr zelebrierte das Lunchmeat die Symbiose aus Musik und Visuals bis zum Exzess. Wir waren in Prag mit dabei.

Motherboard: Oktober 2024

Unser Autor würde sich gern in Kammerpop legen – in der aktuellen Avantgarde-Rundschau hat er das sogar getan.

Waking Life 2024: Der Schlüssel zum erholsamen Durchdrehen

Das Waking Life ist eine Anomalie in der Festival-Landschaft, was programmatischen Anspruch und Kommerzialität anbetrifft. Wir waren dabei.