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Motherboard: Oktober 2022

Wenn ich es nicht schon mehrfach und immer wieder betont hätte, nicht zuletzt in dieser Kolumne, dann wäre jetzt der Zeitpunkt, es endlich zu tun: Lucrecia Dalt ist eine der interessantesten und vielseitigsten experimentellen Musikerinnen und Künstlerinnen, die zur Zeit aktiv sind. Keine ihrer Arbeiten klingt wie die vorige, kein Ausdruck ist ihr fremd. Waren ihre Stücke in jüngerer Zeit allerdings zunehmend unnahbar und hermetisch geworden – vom anfänglichen offen songhaften Folk-Pop über Postrock zu abstrahiertem Dub, schwerstem Dark Ambient zu experimenteller Elektroakustik und kürzlich dem Horrorfilmsoundtrack The Baby (Invada, 27. Mai) –, nimmt ¡Ay! (RVNG Intl., 14. Oktober) wieder eine ungeahnte Abzweigung zur Seite. Die Folklore und Popmusik ihres Herkunftslandes Kolumbien gehen hier ebenso ein wie die elektronischen Zusammenhänge und Experimentierorte ihrer derzeitigen Basis Berlin. Es geht daher logischerweise nicht um Nostalgie und Volksmusik, sondern um die Zukunft. Eine Science-Fiction-Version der Vergangenheit, ohne Verklärung an den herberen der Realitäten der hiesigen Gegenwart geschult.

Ebenfalls aus Kolumbien und noch immer von dort aus operierend ist Sergio Cortés alias Aeondelit. Sein zweites Album Vestigios (Unguarded, 14. Oktober) verschiebt seinen bislang eher an Clubmusik orientierten Sound hin zu Ambient der tieferen, von Drone und Elektroakustik informierten Art. Vestigios sind Spuren, melancholische Überbleibsel von Erinnerung, die sich manchmal bedrohlich verdichten, aber nie erdrückend, verletzend werden. Es sind Spuren, die in die Zukunft weisen sollen.

Was man von hier aus sehen kann: Die Cellistin Mabe Fratti aus Guatemala, noch etwas weniger prominent als Lucrecia Dalt, aber ebenfalls eine der aktuell vielseitigsten experimentellen Musikerinnen und Künstlerinnen. Für Fratti spielen Kollaborationen eine große Rolle, zuletzt etwa mit Gudrun Gut auf Let’s Talk About The Weather. So beherbergt Se Ve Desde Aquí (Unheard of Hope, 14. Oktober) wieder einige Gäste, setzt sich allerdings charakterlich von den Kollaborationen aber durchaus ab. Einmal in der zunehmenden Nutzung ihrer Stimme und zudem im semiakustischen Klangbild, das ein knarzendes Cello und Frattis glockenklare Stimme dominieren, in dessen Falten und Echokammern sich hochspannende Dinge abspielen. Wie sich hier Ambient und Art Pop gegenseitig umkreisen und umsichtig zart miteinander agieren, ist wegweisend.

Clarice Jensen, deren gelerntes und wichtigstes Instrument ebenfalls das Cello ist, geht ebenso gerne in der Rolle der facettenreichen Vermittlerin zwischen ganz verschiedenen Traditionen auf. Sie hat ihr Instrument klassisch gelernt an der vielleicht renommiertesten Musikschule der Welt, der New Yorker Juilliard School, leitet ein Ensemble für Neue Musik, veröffentlicht Tape-Drones, hat in unzähligen Neoklassik-Orchesterwerken mitgespielt sowie in Pop-Produktionen, live und als Session-Musikerin. Eigene Veröffentlichungen sind bei dieser Arbeitsauslastung logischerweise nicht so hochfrequent, aber verlässlich unvorhersehbar und zuverlässig toll. Esthesis (130701/FatCat, 21. Oktober) dreht sich um basale Emotionen wie Angst, Zorn, Freude oder Trauer, die jeweils durch einen soziokulturellen Filter aus Literatur, Kunst und Internet-Zeug gesiebt sind. Sogar für Jensens Innovationsverhältnisse neu und ungewohnt ist die tendenzielle Abwesenheit akustischer Instrumente, vor allem des Cellos, zugunsten synthetischer Klänge und Samples und die komplexe Verwendung von Stimmen und Vokalfragmenten in fast jedem Stück.

Der Name der norwegischen Musikerin Anja Lauvdal mag nicht unbedingt sehr bekannt sein, aber ein kurzer Blick auf die Besetzungsliste so ungefähr jeder Veröffentlichung aus Trondheim der vergangenen paar Jahre zeigt, wie allgegenwärtig und wichtig sie im Hintergrund zahlloser Ensembles und Studioprojekte arbeitet. nicht nur im Jazz, nicht nur im berühmten Trondheim Jazz Orchestra, sondern allein in dieser Ausgabe des Motherboard etwa bei Kim Myhr (siehe weiter hinten). Und nun endlich das Soloalbum From a Story Now Lost (Smalltown Supersound, 28. Oktober), eines, das nicht dazu dient, ihre instrumentale Virtuosität zu demonstrieren, sondern im Gegenteil das Ego hintanstellt, wie es sich bei gutem Ambient gehört. Produziert von keiner Geringeren als Laurel Halo, nimmt sie improvisierte Skizzen an Piano und Synthesizer und  samplet, schichtet, schleift und verschleift diese zu sanften, aber immens gehaltvollen Ambient-Tracks, die in Sorgfalt, Ideen- und Farbenreichtum ihresgleichen suchen. Es muss nicht immer nach verblichenen Polaroids klingen.

Die Rolle des musizierenden, schlagwerkenden und produzierenden Tausendsassa hat in Köln und Umgebung definitiv Jan Philipp Janzen inne. Als beinahe übermenschlich präziser Drummer bei den Neo-Yachtrockern Von Spar, beim Noise-Outfit Urlaub in Polen oder als Tour- und Sessionmusiker für alle zwischen Indie-Folk und Techno zum Beispiel. Bei so viel Wechselwirkung und Mischung ist sein Debüt Dumbo Tracks (Italic, 28. Oktober) als Dumbo Tracks natürlich kein Solo-, sondern eher im Gegenteil ein mächtig von Dub ganz alter Schule unterfüttertes Freundschaftsalbum, das die Synergien von Techno (ein DJ-Koze-Remix und eine Portable-Kollaboration) und Indie-Pop (mit Markus Notwist Acher) zu mondänem Lovers Rock und uraltem Dub-Reggae bis hin zu Jazz (mit der japanischen Neo-Avantgardistin Eiko Ishibashi) souverän und lässig aus dem Ärmel schüttelt.

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