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Motherboard: Mai 2021

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Das Debütalbum von Uwe Zahn alias Arovane erschien tatsächlich noch in den Neunzigern. Das neu gemasterte Reissue von Atol Scrap (Keplar, 21. Mai) überrascht beim Wiederhören nach über 20 Jahren durch einen erstaunlich scharfkantigen, noch an Glitch und IDM geschulten Sound, der mehr auf Beatsplitter setzt als auf Melodik. Ein Verständnis von Electronica, das damals noch im Bereich des Bekannten, ja sogar Üblichen lag, aber heute überraschend schroff erscheint. Diese Schärfe hat Arovane in den Nullerjahren zugunsten eines eher an Indie-Elektronik und Song-Tracks orientierten Sounds aufgegeben – mit großem Erfolg und zu Recht. Schon erstaunlich, welche Streiche einem die Erinnerung so spielt.

Mit den Irritationen von Gedächtnis und Imagination kennt sich der Avantgardist alter Hamburger Schule Uli Rehberg bestens aus. Seit den frühen Achtzigern betreibt er das in seiner Nische tatsächlich legendäre und genredefinierende (Post-)Industrial-Label Walter Ulbricht Schallfolien. Als anti-akademischer Elektroakustik-Experte Ditterich von Euler-Donnersperg verbreitet er seit ungefähr 20 Jahren eigenen sonischen Sinn und Übersinn. Gerne mit Gleichgesinnten wie Felix Kubin oder Asmus Tietchens zu hören, hat sich sein Ruf bis nach Melbourne fortgepflanzt, wo er auf dem Label von Moopie die Wahrheiten der Altvorderen – Weisheit aus des Kindes Mund tut uns stets die Wahrheit kund (A Colourful Storm) – befördern darf, feinexperimentell, aber ohne Aggro-Krach, dafür tiefenangespanntes Knusper-Listening. Oder als Tracktitel ausgedrückt:„Geldmopser Ohrenkitzler”.

Nach dem hibbeligen Pan de Sonic – Iso auf Room40 im Januar hat die Australierin Ai Yamamoto mit Love Me Tender (Past Inside the Present) nun ein sanft zitterndes Album an der Hörschwelle nachgelegt, da dieselben Ideen von Klangerzeugung und Komposition, dieselben Werkzeuge und Methoden doch völlig anders einsetzt, in Stücke von völlig verschiedenem Charakter führt. Es sind wiederum Feldaufnahmen aus ihrem Haushalt, während des Lockdowns, wiederum Kinderspielzeuge und Toy Instruments, die aber hier zu einem neoklassisch inspirierten Ambient entzerrt werden. In zartestmöglicher Irritation, wie es schöner kaum geht.

Das Meiden von Kategorien, die Sorge eingeordnet zu werden, auf eine bestimmte Art von Kreativität festgelegt zu erscheinen, das hat der Japaner Ueda Takayasu zu seiner Kunst und Lebensform gemacht. Immens produktiv, hat er seine Musik lange Zeit nicht veröffentlicht, nicht mal für sich selbst archiviert. So wurde Every Cloud Calls Our Name (Phantom Limb) ein spätes Debüt, dem man noch im kleinsten Soundpartikel anhört, wieviel Arbeit, Kraft, Inspiration und Spaß dazu gehört, aus einer unglaublichen Menge an Sound-Ideen und melodischen Einfällen zwei Langform-Stücke zu kreieren, die doch so geschlossen und zurückgelehnt wirken.

Daran lassen sich bestens die UNDA Reworks (Focused Silence) des britisch-kanadischen Duos BirdWorld anschließen. Deren Debüt von 2019, das moderne Fusion mit klassischem Ambient japanischer Machart und frei-instrumentalen Freakouts unter einem Fusion-Groove verband, verfolgte eine ähnliche Haltung, weswegen (und wegen Covid natürlich) das Nachfolgemodell aus Bearbeitungen und Neuinterpretation von Freunden und Gleichgesinnten destilliert wurde, was dann tatsächlich in allem möglichen Enden kann. Von darkem Knistertechno über Soul-Jazz bis Elektroakustik.

Wenn sich die jungen Wilden und ein Altvorderer des zeitgenössischen Free Jazz treffen, dann kann einiges passieren, aber kaum etwas schiefgehen. Was die Natural Information Society with Evan Parker auf Descension (Out of Our Constrictions) (Aguirre/Eremite Recordings) macht, ist dann doch noch dabei, die Erwartungen zu unterlaufen, falls es überhaupt welche geben kann bei dieser Konstellation. Das Album, eine vierteilige, knapp 80-minütige Live-Improvisation vor Publikum groovt und mäandert tiefenentspannt durch minimalistische Postrock- und Fusion-Soundscapes. Mehr Party als Freakout, ordnet sich sogar Parker in den Flow ein und agiert hier für seine Verhältnisse richtig handzahm.

Die toxische Saat von Industrial und Elektroakustik ist in den unwirtlicheren Gegenden der ehemaligen Sowjetunion auf besonders unfruchtbaren Boden gefallen und neue giftschillernde Verbindungen mit Modularsynthesizern, Drone und Noise eingegangen. Etwa bei Alex Yu, dessen bekanntestes Projekt unter vielen wohl das psychedelische Noise-Rocker-Duo Arabian Horses war, und der sich als Ooaayu virtuell in San Francisco niedergelassen hat. Seine osteopathische Praxis Russian Hill Chiropractic (School of the Arts) gibt Dark Drone mit Field Recordings jedenfalls eine knochensortierende Qualität, die ihresgleichen sucht.

Sowieso hat das Tape-Label School of the Arts aus Barcelona ein gutes Händchen für unakademisch-experimentelle Sound Art aus dem näheren Osten. Das mag vorwiegend an Betreiber Ivan Zoloto liegen, der aus Petrozavodsk (wie der Name seiner Noise-Rock Band) stammt und seine speziellen Erfahrungen in die Wärme Barcelonas übersetzt hat. Das lässt sich auf Pleasure Prison (School of the Arts) bestens nachhören. Der 35 lange Minuten breite, epische Drone des Titelstücks etwa bleibt lange Zeit im Register des Schönen, allenfalls irritiert vom untergründigen Poltern der Field Recordings, um irgendwann ganz subtil im zerrenden Feedback aufzugehen und wieder zurück zu gelangen. Ein gewaltiger Trip, der auch im Genre selten in dieser Qualität zu hören ist.

Außer vielleicht von Karina Kazaryan alias KP Transmission, die zur Zeit in Moskau lebt und auf dem Moskauer Label Klammklang und ihrem eigenen Tape-Label regelmäßig rituell-finsteren Schönklang abliefert, der sich gegen jede noch so feindliche Umgebung durchsetzen kann. Ihre neueste Kassette Inferno di Dante (KP Transmissions) jedenfalls gibt Dantes Höllentrip und der darauf basierenden theatralischen Performance einen guten Klang, nämlich den einer rostigen, lange verlassenen Fischfabrik auf Olkhon im Baikalsee – wo die prägenden Field Recordings der Stücke herstammen.

Drone-Monat Mai? Die Menge an frühjährlichen Neuerscheinungen spricht wohl dafür. Der nicht enden wollende Winter dieses Jahresbeginns vielleicht noch mehr. Der New Yorker Alan Licht ist dann wohl sowas wie der Lo-Fi-Klassiker mit der präparierten Table-Top-Gitarre und keiner Scheu vor harschem, aber immer gut ausbalanciertem Feedback-Noise. Das Tape A Symphony Strikes the Moment You Arrive (Room40) überlagert die E-Gitarre mit Kurzwellenfetzen.

Die kryptischen Botschaften aus dem Unterbewussten der Radiowellen spielen traditionell eine große Rolle im ganz und gar klassischen, von Industrial und Noise informierten Dark Ambient, den das schweizerisch-finnische Duo Ural Umbo seit gefühlten Dekaden produziert. Das ist niemals schlecht, höchstens mal böse und auf Roomer (Consouling Sounds, 21. Mai) kompromissloser durchgezogen als je zuvor.

Das Tape Raum (Karlrecords, 15. Mai) von An Moku & Stefan Schmidt erfindet sich seine Klangwelten ebenfalls aus dem Einsatz von dosiertem Noise in klassischer Besetzung aus Gitarre und Bass im Geiste der freien Improvisation. Erstaunlich bleibt daran, wie das Schweizer Duo ihr doch sehr bekanntes Idiom aus Anziehung und Abstoßung, Punk und Industrial, Dark Ambient und Drone auf die lange Strecke interessant hält.

Ebenfalls ziemlich klassisch, allerdings vorwiegend synthetisch gemacht gibt sich die Ballad For Heavy Lids (Midira) des Schweizers Künstlers und Grafikdesigners Silvio Brügger alias Ringhof. Drone wird hier zum Donnergrollen am Massiv des Berner Alpenvorlands.     

Further Reduction (False Industries), das bereits zweite Album des jungen Jahres von Yair Etziony, spielt zwischen Israel und Berlin. Es deutet die von ihm gewohnten eher an Dark Ambient und Noise orientierten und gerne aus orchestraler Klassik gesampleten Sounds um in elegischen Drone-Ambient. Die Stücke gedenken freundlich wie melancholisch den Orten und Menschen, den sozialen Zusammenhängen, die Etziony (und wir alle) im Jahr eins der Seuche verloren haben, manche vielleicht für immer.

Unter dem Alias Stratosphere veröffentlicht der belgische Produzent und Toningenieur Ronald Mariën ruhig fließende, eher an Ambient orientierte Klänge aus Gitarre und Elektronik. Wie der Titel Collaborations II (Midira) mehr als nur andeutet, macht er dies sehr gerne mit anderen Musikern, speziell den gleichgesinnten Hauskünstlern des Berliner Midira Labels, wie Aidan Baker, Dirk Serries, Tom Malmendier oder N sowie dem Antwerpener Drone-Kollektiv Ashtoreth, die seinen grundsätzlich Ambient-freundlichen Sound ein wenig in dunklere und dröhnendere Gefilde transportieren.   

Vollends im lichtlosen Keller agiert das neue Duo von Jean D.L. & Otto Lindholm. Die Kombination aus dem elektrifizierten Feedback-Noise des belgischen Gitarristen und dem donnernden akustischen Kontrabass des Schweden bleibt auf Apophenia (Midira) jederzeit im untersten Register, gewinnt aber in der aparten Kombination ihrer Klangerzeuger. 

Warum dann nicht gleich die Tuba nehmen? Die Akteure von Microtub spielen die Möglichkeiten des Instruments auf Sonic Drift (SOFA Records, 7. Mai) im untersten Klangregister in mikrotonaler, will sagen eher immer leicht irritierender und ungemütlicher Gerade-nicht-mehr-Tonalität aus.

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