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Motherboard: Mai 2021

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Dunkel aus traurigem Anlass, aber zugleich warm umarmend und einladend ruhig fließen die Soundströme des Duos Bengalfuel auf Auriemma (Infraction, 14. Mai), die neben feinstem Drone-Meditation-Soundtracks, Glitch-Pop und Electro-Funk auch Adult-Content machen, was eine seltsam ansprechende Kombination ergibt, aber in der Körperlichkeit und Nähe ihrer wundervollen Sounds total Sinn macht. Love Meditation Music im Wortsinn – und vielleicht das schönste Ambient-Album der Saison.

Etwas, das Celer, als sie vor dem viel zu frühen Tod Danielle Baquette-Longs noch ein Duo waren, ganz ähnlich gemacht haben (Adult bei Celer allerdings auf den Charakter bezogen, nicht unbedingt auf explizite Inhalte). Will Long führte dies solo mit immer noch vorhandenem Sinn für Schönheit im Schmerz fort. Malaria (Two Acorns, 1. Juni) ist nur eines mehrerer neuer Beispiele in Moll.

Ein guter Teil der jüngeren Generation britischer Elektronik-Produzent*innen bezieht sich nicht mehr unbedingt auf die Stile der Altvorderen – von Chill-Out und Rave zu IDM und Glitch –, sondern eher auf das, was aus Dubstep oder Shoegaze geworden ist. Gerne auch in genau dieser Kombination. LTO aus Bristol bringt beide Erfahrungen zusammen zu einer tonnenschweren und schwer melodischen Variante von Electronica, die den Bass der großen Bristoler Soundsystems geerbt hat, die schleppenden Beats seines Broken-Beat-Techno-Projekts Old Apparatus und die Erinnerung an zig traurige Indie-Bands, die auf ihre Fußspitzen starrend verzerrte, in endlosem Hall verwischte Gitarrenschlieren in hohem Volumen zu Songs verarbeiteten, die eigentlich Tracks waren. So sind die Tracks auf LTOs viertem Album DAEAR (Denovali) Tracks, die eigentlich Songs sind, egal ob sie sich aus verzerrten Samples oder gespielten Instrumenten zusammensetzen. Was sie in jedem Fall immer sind, ist schwermütig und raumfüllend: modernstmöglicher Shoegaze.

Worriedaboutsatan ist in den vergangenen Jahren von einer Band zum Soloprojekt des Briten Gavin Miller geworden. An der Qualität und direkten Erkennbarkeit des Sounds hat sich dabei wenig geändert. Und doch hat der auf eine sehr britische Weise introvertierte, von Shoegaze und Post-Wave abstammende Sound des Projekts auf Providence (Box Records, 7. Mai) neue Kanäle des Ausdrucks gefunden. Was mal Post-Rock mit richtigen, heraushörbaren Instrumenten (Gitarre, Bass, Drums) war, ist jetzt zu Ambient diffundiert, elektronischer geworden, auch eindeutiger in der Diffusion, hin und wieder darf sich sogar ein behutsam technoid gerader Beat unter die Stücke mischen. Das wubberweiche Bassfundament gab es schon immer.

Der intensive elektronische Shoegaze der Berliner Norwegerin Tuva Hellum Marschhäuser mit ihrer Tuvaband ist nach dem Langdebüt vor zwei Jahren personell zum Soloprojekt geschrumpft, musikalisch ist es in der Isolation des vergangenen Jahres aber nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Growing Pains & Pleasures (Passion Flames, 21. Mai) ruft die großen Pop-Emotionen auf und bringt sie mit den lakonisch melancholischen Texten wieder auf den grauen Boden des Berliner Jetztrealen zurück. Und dann ist da noch diese Stimme.

Constance Keane alias Fears lebt und arbeitet in London, auf ihrem Debüt Oíche (Tulle Collective, 7. Mai) geht sie allerdings ihren irischen Wurzeln nach, in Form von feinstem trippigen wie traurigen und immersiven Electro-Shoegaze. Track-Songs, die sich so elegisch und zart zwischen The XX und The Knife schmiegen, dass man beinahe überhört, wie viel emotionale Tiefe sich hier verbirgt. Einfacher ist mehr, wenig ist viel, Melancholie ist alles. Und wenn der Bass kommt, gibt es kein Halten mehr.

Der Londoner Israeli Guy Baron alias Semi Precious kultiviert die Statur eines Tänzers, nicht nur körperlich. Post-Euphoria (Squareglass, 14. Mai), sein erst zweites Album auf eigenem Label in fast zehn Jahren Aktivität und seine Doktorabeit am renommierten Goldsmiths College, wendet die sehnige Zähigkeit des professionellen Tänzers, die immer auch eine immense Fragilität darstellt, in eine Haltung zur Musikproduktion, die die zupackende Körperlichkeit von R’n’B auf eine melancholische Introversion und Verletzlichkeit projiziert, die eher von Ambient und Shoegaze herkommt, dabei elektronisch nahbar und Pop bleibt – das Gegenteil von Übergriffigkeit. Ein Angebot von Nähe ohne Reue. Müßig zu erwähnen, dass eine solche Sensibilität nicht aus dem Mainstream kommen kann, sondern ihn reflektiert, queer und von einer Außenseiterperspektive her für sich hernimmt und in etwas unglaublich Zartes hin weiterführt.

Anna Jordan, Ungarin, die seit zehn Jahren in Berlin lebt, hat den cyber-internationalen mensch-maschinell dunklen Club/Not-Club/Post-Club-Sound der Stadt verinnerlicht wie kaum jemand anders. Hybrid Dimension II (Awaken Chronicles, 7. Mai), ihr zweites Album als The Allegorist, trägt diese Überlagerung, die keine Verschmelzung ist, bereits im Namen. Nach dem Debüt auf Detroit Underground nun auf dem neu gegründeten Berliner Label Awaken Chronicles erschienen, kommt das massive und umfassende Elektronik-Großwerk technoider daher als das Debüt, vergisst aber die avantgardistischen Pop-Experimente keineswegs. Es ist vor allem die ungewöhnlich dynamische Produktion jenseits der üblichen verrauschten Industrial-Techno-Keta-Schleifen, die die Tracks über den global-Berliner Durchschnitt hebt. So spielen akustische Instrumente gleichberechtigt neben Samples und Synthesizern, Pads und Boller-Bässen, kann ihre selten wie effektiv eingesetzte Stimme mal extrem in-your-face ohrfeigen oder beinahe beinahe im Hintergrund verschwinden – und alles macht Sinn.

Wenn es denn eine Band, ein Projekt gibt, das nicht nur die pastellig hellen bis quietschbunten Klangfarben, sondern auch den avantgarde-optimistischen, retrofuturistischen Spirit des Yellow Magic Orchestra, die experimentelle, aber jederzeit Pop-affine Arbeits- und Denkweise, den gelenkigen Maschinenfunk in einem crispen, klaren und ewig dauermodernen Pop von Haruomi Hosono, Ryuichi Sakamoto und Yukihiro Takahashi in die Jetztzeit überführen kann, dann das Tokioter Duo Crystal. Sie haben (wie in der Kolumne bereits mehrfach angesprochen) eben nicht nur den Stil, sondern auch den nach oben und allen Seiten offenen Möglichkeitsraum von altem, neuem Synthesizer-Funkpop mit einem japanisch singrappenden Matias Aguayo ausgestattet, den Sega-Delphin Ecco zum Tanzen gebracht und nebenbei noch die Laserdisc, das ungefähr unhandlichste und obskurste aller digitalen Tonträgerformate rehabilitiert. Ryota Miyake (alias Sparrows) und Sunao Maruyama klingen auf Reflection Overdrive (Flau, 7. Mai) daher permanent wie ein Best Of einer Band, die man eigentlich hätte schon immer kennen und lieben müssen, die man aber gerade erst frisch wiederentdeckt hat. Sympathisch wie nix.

Ebenfalls mit anderthalb bis zwei Ohren in die Achtziger hineinhorchend klingen die Neubearbeitungen auf Dorothea’s Rainbow (Remixes) (Elninodiablomusic, 21. Mai), dem Track von der Dreamweaving EP des Berliners Elninodiablo. Die Bearbeitungen von Perel, Prins Thomas, Ray Mang und Elninodiablo selbst sind sich alle überraschend einig darin, den balearischen 90er-Vibe des Originals noch eine Dekade weiter in die Vergangenheit zu transportieren, nach Rimini in die Italo-Disco, an den kosmisch-relaxten Gardasee oder eben auf die Tokioter Ginza in den Funkclub der Stunde.

Kategorien transzendieren, den Kapitalismus kritisieren und Spaß haben dabei? Das kann nur Anat Ben David sein. Die von London aus operierende Künstlerin, Aktivistin und Musikerin verhöhnt auf The Promise of Meat (Plinki) das Patriarchat ebenso wie die Gatekeeper der Kunstwelt und die der elektronischen Musik sowieso. Ihr ultimativ hybrid-körniger wie flüssiger Avant-Pop (flüssig im Sinne einer Lawine aus körnigem Geröll) wirkt paradox alt, klingt gleichzeitig nach New York circa 1981 und Berlin circa 2021. Ausgeklügelt in einer hippen Off-Site-Galerie im beinahe gentrifizierten Londoner Nordosten. Nur eben nicht im Geringsten ausgedacht, sondern sowas von real und präsent und körperlich.

So real und körperlich wie die Stimme der New Yorker Sound-Art-Poetin Kristin Oppenheim, die ihre frühen Performance/Installations-Arbeiten in einer Brooklyner Galerie in den Neunzigern zum Doppelvinyl Night Run: Collected Sound Works 1992 – 1995 (INFO, 21. Mai) gesammelt und neu aufgelegt hat. Zarter Gesang, Hall und Echo. Mehr nicht. Aber jedes Stück ein „Song to the Siren”.

Im realen New York von 2021 sind Body Meπa so etwas wie eine idealtypische, ebenfalls gar nicht ausgedachte Supergroup des experimentellen Hardcore, aber eine, die es irgendwie hinkriegt, beinahe Popmusik zu machen. Auf The Work Is Slow (Hausu Mountain, 28. Mai) beißt sich die klassische Rocktrio-Besetzung aus Extremdrummer Greg Fox, Funk-Bassist Melvin Gibbs und Jazz-Gitarrist Grey McMurray in einem elektronischen Improv-Postrock fest, der die aggressive Energie des besten Postpunk mit einem deftigen Groove erdet, dabei aber eben nicht wie ein kommerzielles Funk-Punk-Derivat klingt, sondern nach beinahe zeitloser Fusion.

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