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Motherboard: April 2023

Die Melancholie der Zerstörung folgt aus der Heilung, die aber niemals vollständig sein kann, niemals mehr so wie zuvor. In der Kulturszene Beiruts weiß man das vermutlich besser als anderswo. Jedenfalls entsteht hier seit einigen Jahren Musik, die vor dunkler Schönheit beinahe zerbirst, diese Dunkelheit aber niemals ausstellt oder übertreibt. In diesem Geiste ist Marjaa: The Battle of the Hotels (Ruptured Records, 3. März), das Debütalbum von Mayssa Jallad, eben ein wundervoll melancholisches, dunkles Pop-Album am Rande von Ambient, aber zugleich existenziell gezeichnet und wissend um Leben und Tod. Es geht um die Stadt aus der Fußgängerperspektive, um die Architektur und die Abwesenheit und Lyrics, die in, ein zwei Sätzen die Widersprüche einer Stadt und ihrer Leben umreißen.

Schmerzgrenzen psychologischer und somatischer Art sondiert ebenfalls der chilenische Film 1976 der seit Mitte März im Kino und auf Netflix zu sehen ist. Die im Ruhrgebiet lebende und lehrende brasilianische Komponistin und Perkussionistin Mariá Portugal hat für 1976 (Original Soundtrack) (Fun In The Church, 17. März) eine kongenial neutönende Klangbegleitung aus Vintage-Synthesizern und Blech- und Holzbläsern gearbeitet, die viel mehr als eine emotionale Bilderbegleitung darstellt; Die in allen nostalgischen Sounddetails nach dem Jahr klingt, in dem Jorge Alessandri Marionetten-Präsident wurde und den Neoliberalismus mit Gewalt einübte, aber eben auch die überzeitlichen psychologischen Wahrheiten eines brutalen Regimes zutage bringt, zu Klang macht.

Kosogor (2MR, 17. März) das umfang- wie ideenreiche Debüt von Kosaya Gora, liefert einen avanciert-verwaschenen Lo-Fi-Sound, der sich an allerlei Ambientes anlehnt und mit dunkleren, melancholischeren Stilen der Neunziger spielt, vor allem Trip-Hop, melodisch aber zwischen Bedroom-R’n’B, US-amerikanischer Westküsten-Soft-Psychedelia und sowjetischer Synthesizer-Folklore vermittelt, dabei aktuelle Vocal- und Club-Dekonstruktionen wissend mit einbezieht. Eine spannende und ungewöhnliche Mischung, was aber nicht verwundert, denn das Pop-Projekt der Moskauer DJ und Produzentin Kedr Livanskiy mit dem experimentellen St. Petersburger Beatmacher Flaty kombiniert zwei der versiertesten elektronischen Musiker:innen Russlands.

Schon klar, dass kein Vierteljahr ohne ein Großwerk von Meta-Exzentriker:in Angel Marcloid vergehen darf. Nach der beinahe konventionellen Post-Vapor-Allrounder-Kassette Magical Realism (Skyline Tapes, Dezember 2022) des Alias MindSpring Memories ist heuer wieder Fire-Toolz dran. Auf I am upset because I see something that is not there. (Hausu Mountain, 4. April) in der bekannt-unbekannten Überlagerung von übergriffigsten Jingle-Melodien, New-Age-endemischem Flächenkäse, Pop-Prog/Math-Rock mit stolperndem Stoppel-Schlagzeug und verzerrt-todesmetalloiden Kreisch- und Grunz-Vocals. Also das komplett (un)übliche, hellsichtige Geniegegniedel, wie es tatsächlich nur Angel Marcloid kann.

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