Giant Swan (Foto: Keith Leaf)

Zwei Männer stehen auf der Bühne. Der eine trägt ein weites, Kutten-artiges T-Shirt, ist über seine Geräte gebeugt. Der andere ist ebenso hochkonzentriert bei der Sache, sein nackter Oberkörper schnellt im Takt der gleichförmigen Techno-Grooves nach vorne und wieder zurück. Giant Swan gehören in der Conceptronica-Festivalszene zu den maßgeblichen Newcomern. Dafür klingen ihre Konzerte überraschend gleichförmig, sie machen Techno, der sich nicht als dezidiert modern oder reflexiv ausweisen will. Ihr Sound ist erfrischend, weil er simpel und eindimensional und ungestüm ist und sich von den überproduzierten Effektgebilden von Deconstructed Club absetzt, weil es keine Eskalation und keine Breaks gibt.

Noch ein Wort zum Mann mit dem nacktem Oberkörper. Der hat im Technozusammenhang zumindest auf der Bühne nichts verloren, er gehört zum Inventar der Rockmusik. Dort geht es darum, eine Freiheit zu demonstrieren, die Cis-Männern eher gewährt wird als anderen Geschlechtern. Der Ausweg aus dem Dilemma des Geschlechts liegt bei Giant Swan nicht wie bei Kraftwerk und anderen Techno-Acts im Verschmelzen mit der Maschine. Giant Swan geht es nicht um Transformation, sondern um Unterwerfung. Slave to the rhythm. Ein tiefer, etwas dumpfer Genuss, für den Monotonie viel wichtiger ist als Dynamik. Einige Stunden vor ihrem Aufsehen erregenden Auftritt auf dem CTM Festival 2020 besuchen Robin Stewart und Harry Wright unseren Ex-Redakteur Raoul Kranz in der GROOVE-Redaktion und sprechen mit ihm über ihre gemeinsame Jugend als Skater, über den Sinn von Selbstbeschränkung und über The Prodigy, SOPHIE und 50 Cent.


Mit euren wilden Performances bringt ihr Punk auf den Techno-Dancefloor. Wie seid ihr dazu gekommen? 

Robin: Wir haben als Gitarristen in einer Noise-Rock-Band namens The Naturals angefangen, gemeinsam Musik zu machen. Davon lassen wir uns immer noch inspirieren.

Harry: Eigentlich ist Giant Swan nur Robs und mein Nebenprojekt gewesen, bei dem wir mit Gitarren-Pedalen und Effekten unserer Band herumspielten. Also halten wir Performance, Neugier und Experimentierfreude in allen Ehren. In der Techno-Welt manifestiert sich das dann schnell als Punk, obwohl wir das gar nicht ausdrücklich versucht haben: Also, was würde ein Punk jetzt tun? (beide lachen)

Robin: Wir haben gelernt, dass es ziemlich schnell geht, irritierte Reaktionen bei Techno-Nerds hervorzurufen – ob durch schnelle Tempi, gewisse Klangqualitäten oder auch nur unsere physische Präsenz im Club. Zum Beispiel ist es uns wichtig, beim Live-Set auf einem Level mit den Zuhörer*innen zu stehen und nicht oben auf einer Bühne. 

Harry: Der Begriff Punk wird ziemlich leichtfertig verwendet. Wir sind keine Punks. Wahrscheinlich fühlen sich Punks ziemlich angegriffen, wenn wir ihre Repräsentanten sein sollen. Aber innerhalb des Kontexts bemühen wir uns darum, die klaren Grenzen von Techno zu durchbrechen.

Giant Swan (Foto: Keith Leaf)

Solche Bezeichnungen sind schnell zur Hand. Für euch muss sich das besonders komisch anfühlen, da ihr ja nie großes Interesse an der Technoszene gehabt habt.

Harry: So eindeutig ist es jetzt auch nicht, ob du auf Clubmusik stehst oder aus einer Rockband kommst. Vielleicht ist unsere Präsenz in der Techno-Szene oder die Art, wie wir wahrgenommen werden, irgendwie Punk oder Anti-Establishment. Das sagt aber mehr darüber aus, wie homogen diese Szene ist, als wie besonders wir sind. Manche Leute machen erheblich spannenderen Kram deutlich besser als wir, aber sie sind in einem musikalischen Feld unterwegs, das das weniger wertschätzt. 

Lasst uns mit euren Produktionen ein bisschen mehr ins Detail gehen. Eure Tracks fühlen sich trotz der Härte sehr persönlich und emotional an – ekstatisch, aber auch melancholisch. Interessieren euch solche Mehrdeutigkeiten?

Harry: Wir wollten mit unserer Debüt-LP keine Platte für den Club komponieren. Aber definitiv bezieht sich einiges darauf, was du im Verlauf einer Partynacht fühlst. Wahrscheinlich vor allem rund um den Comedown. 

Das macht das Cover auch ziemlich deutlich.

Harry: Ja, das ist von meinem Kumpel [Stu Cranfield, Anm. d. Red]. Die Nacht neigt sich dem Ende zu, du hast immer noch Energie, aber auch diese melancholische Seite, und wirst ein bisschen sonderbar. Du willst mehr, aber brauchst den Comedown als Anker, um dich zu erden – eine Kickdrum oder ein Vocal, die etwas mit dir machen.

Robin: Überhaupt finde ich reinigende Emotionen in der Musik total wichtig.

Harry: Vor allem in elektronischer Musik ist das ein schwieriges Unterfangen.

Weil gerade Tanzmusik häufig Emotionen vermissen lässt?

Harry: Es ist schwer, darauf zu stoßen. Oder zu verstehen, wie Gefühle eigentlich in elektronische Musik übersetzt werden.

Robin: Das hat natürlich auch mit der Funktionalität von Techno zu tun. Aber es ist immer schön, darin Poesie zu entdecken. Mich persönlich faszinieren einfach Sounds. Wenn ich einen Techno-Track mit gutem Groove und lyrischem oder taktilem Sound höre, spielt es keine Rolle, wie der gemacht wurde. Bei unseren Liveshows richte ich mich als Vocalist häufig direkt an die Zuschauer*innen. Vielleicht kriegen sie das gar nicht mit, aber das ist die Wahrheit. Ein ziemlich kathartisches Erlebnis, das wir nicht hätten, wenn wir bloß b2b auflegen würden oder unsere Musik kontrollierter wäre.


„Obwohl sich unsere Geschmäcker auseinander entwickelt haben, sind sie ineinander verschlungen. Über manche Sachen habe ich durch Harrys Einfluss komplett meine Meinung geändert.”

Robin Stewart

Du lässt dir auf der Bühne also spontan Zeilen einfallen und brüllst sie dann einzelnen Zuschauer*innen entgegen?

Robin: Genau. Wir improvisieren alles und lassen uns von unserer Tagesform beeinflussen. Vor Weihnachten 2019 sind wir acht Monate auf Tour gewesen. Es gab einige krasse Höhen und Tiefen. Wir geben immer unser Bestes und sind froh darum, dass unsere Emotionen so einen Einfluss auf unsere Performance haben können. Wir müssen nicht immer dasselbe Zeug spielen. Und wenn sich einer von uns nicht so gut fühlt, kann ihn der andere auffangen.

Ist Musikmachen Alltag für euch oder müsst ihr wütend oder geladen sein, um eure Tracks zu schreiben?

Robin: Wir sind viel im Studio, aber Spontaneität ist uns definitiv wichtig. Wir wissen, dass eine Idee gut ist, wenn wir sie schnell umsetzen und dem anderen zeigen können: Ich habe das hier gerade rausgehauen. Fühlst du, was ich fühle?

Harry: Vor allem das Album haben wir fast komplett unterwegs auf Tour geschrieben. Also konnten wir uns nicht auf Recording-Sessions im Studio vorbereiten, sondern haben produziert, wann immer es ging.

Habt ihr feste Rollen beim Produzieren?

Harry: Wir machen viel getrennt voneinander. Meistens startet einer mit seiner Idee, erstellt zum Beispiel das Template für 70 Prozent eines Songs, und der andere dann die fehlenden 30 Prozent. Oder auch nur mal fünf Prozent. So können wir vom anderen und seinen Einflüssen lernen. Songs entstehen sehr unterschiedlich bei uns.

Giant Swan auf dem Unsound Festival 2019 (Foto: Helena Majewska)

Ihr scheint wirklich ein untrennbares Team zu sein. Streitet ihr euch auch manchmal?

Robin: Tja, wir sind miteinander durch Dick und Dünn gegangen. Allerdings stehen wir nicht mehr auf die gleichen Sachen wie mit zwölf Jahren.

Ihr habt euch als Teenager beim Skaten kennengelernt?

Robin: Und durch Rock, Indie-Musik und so. Obwohl sich unsere Geschmäcker auseinanderentwickelt haben, sind sie ineinander verschlungen. Über manche Sachen habe ich durch Harrys Einfluss komplett meine Meinung geändert.

Harry: Wir sind ständig im Gedankenfluss des anderen. Aber das muss auch so sein, damit wir zusammen Musik machen können. Und machen das Freunde nicht so, sich dafür zu interessieren, auf was der andere steht?

Robin: Manchmal schockieren mich Harrys Sounds, und ich denke: Wow, das ist wirklich unorthodox! Dann fällt der Groschen, und ich merke: Shit, wie geil ist das denn! Nochmal: So lernst du dazu – du musst dich frustrieren lassen und nicht an Sachen glauben wie: Jupp, TR-909 und fertig!


„Das Abmischen ist bei Tanzmusik anders als bei einer Band: Wenn wir etwas schreiben, das funktioniert, dann passt das halt.”

Harry Wright

Harry: Solche Gewohnheiten sind gefährlich.

Robin: Oder wenn du aufgeben willst und der andere sagt: Nein, das ist geil, mach weiter!

Harry: Sowas ist total hilfreich. Meistens läuft es ja so, wenn du jemandem einen Track vorspielst: Ganz okay. – Nein, das ist grandios! Oder umgekehrt: Wow, fantastisch! – Sorry, aber hast du überhaupt auf Play gedrückt? (beide lachen)

Robin: Wenn wir nicht so offen mit unseren Meinungsverschiedenheiten umgehen könnten, wären wir bestimmt längst kein Duo mehr. Vertrauen ist essenziell. Vor allem, weil wir beide viel Scheiße bauen.

Harry: Worüber Rob hier spricht, ist eigentlich das Gleiche, das wir uns von unserem Publikum wünschen: Vertrauen, Neugier, Abenteuerlust, Respekt – den Club als Sicherheitsnetz.

Ohne Spielraum für Fehler gibt es keine Innovation.

Robin: Auf der anderen Seite drehst du eine Hi-Hat an der richtigen Stelle rein und merkst: Ja, genau das hat der Track gebraucht! Du bedienst dich einfach an den Tropen des Technos – langsam hier modulieren, die Kick rausnehmen, dort was reinbringen und denkst dir: Ah, genau so muss das sein!

Harry: Manchmal muss man sich beim Performen auch ganz rausnehmen. Du bist so beschäftigt mit Kleinkram, dass du das große Ganze gar nicht mehr hörst. Als Techno-DJ musst du auf nichts anderes achten als deinen Sound, aber bei einer Kollaboration musst du gleichzeitig zuhören und machen. Da hilft die Erfahrung aus unserer Bandzeit. Wir haben bloß die Gitarren durch Kickdrums und Knöpfe ersetzt.

Robin: Das merkst du auch dem Techno an, der uns beeinflusst hat. Als wir das Genre entdeckt haben, waren wir so drauf: Das sind drei Sounds auf einmal, wie zur Hölle kann das so gut funktionieren? Das Gleiche wie bei Dub: Reduktion und Emphase auf die Elemente, die den Track vorwärts treiben. Direktheit lieben wir generell in Musik. Mittlerweile finden wir kaum noch Platten, die uns so doll inspirieren, aber Techno ist Teil unseres Lebens geworden.

Giant Swan auf dem Unsound Festival 2019 (Foto: Helena Majewska)

Obwohl in euren Tracks viel passiert, klingen sie nicht überfüllt oder chaotisch. Sitzt ihr lange an einem sauberen Mixdown?

Robin: Kann passieren, aber wir versuchen eher zügig zu arbeiten. Harry kann echt gut mit EQs umgehen und ist da ziemlich präzise.

Harry: Ja, ich bin bei Mixdowns ziemlich puristisch. Wenn du Gitarrenmusik aufnimmst, ist Mixing essenziell. Aber bei der Tanzmusik ist das anders: Wenn wir etwas schreiben, das funktioniert, passt es halt.

Robin: Aber danke fürs Lob, wir hören oft unsere Tracks und denken: Autsch! Wenn wir merken, dass wir uns zu lange mit Kleinkram beschäftigen, machen wir einfach mit der nächsten Idee weiter.

Harry: Wir haben da einen ähnlichen Instinkt wie bei unseren Live-Sets. Denn so wird das nichts: Meine Damen und Herren, wir habe hier diesen fetten Beat. Rob wird jetzt sein Pattern programmieren, wartet einfach 20 Minuten. (lachen) Wenn wir Tanzmusik schreiben, sind Elemente, die sofort funktionieren, essenziell.

 


„Jeder kann machen, was wir machen – du musst dich nur ordentlich anstrengen.”

Robin Stewart

Lasst uns noch konkreter werden. Was sind eure Lieblingsmaschinen zur Zeit? Ihr benutzt auch erschwingliche Geräte wie den Korg Volca Beats.

Harry: Das ist das einzige Gerät, das ich benutze. Der Volca Beats durch ein paar Gitarrenpedale, das war’s.

Robin: Maximale Wirtschaftlichkeit. (lachen)

Harry: So bleibt mein Kopf beim Performen frei. Weil die Möglichkeiten beschränkt sind, mache ich mir keine Gedanken, was ich noch alles machen könnte, sondern vertraue meinen Instinkten. Bei einem Gig oder Soundcheck verstehst du schnell, wann deine Grenzen erreicht sind. Dein Mindset ist viel wichtiger als die Maschinen. Sollte meinem Equipment etwas passieren, ist das kein Beinbruch, das ist nämlich ziemlich preiswert und überall zu haben. Wenn ich jetzt ein super rares Gerät dabei hätte, würde ich mir die ganze Zeit Gedanken machen.

Robin: Ich prophezeie, dass du bald richtig auf teure Vintage-Mixer abfährst.

Harry: Einen Rotary Mixer mit einem [Clavia Nord, Anm. d. Red.] Lead, der gar nicht eingesteckt ist. 

Da wollte ich gerade drauf zu sprechen kommen: In eurem Hyponik-Interview sagt ihr, dass „eine gecrackte Logic-Pro-Version und etwas schlechtes Gras” essenziell beim Produzieren seien.

Robin: Wir haben das Album mit einer gecrackten Logic-Version gemacht und dabei etwa ein halbes Kilo Gras geraucht. 

Harry: Also ich habe höchstens ein Gramm geraucht – pro Tag. (lachen)

Robin: Das ist, wo die Magie passiert. 

Harry: Schau dir Grime an. Oder King Gizzard & the Lizard Wizard. Tame Impala.

Robin: Er redet über Australier.

Harry: Ich rede über Psych-Bands.

Giant Swan auf dem Unsound Festival 2019 (Foto: Helena Majewska)

Ihr scheint auf jeden Fall ordentlich Spaß im Studio zu haben.

Robin: Standard.

Harry: Meistens hören wir Musik, nerden rum und dichten uns ziemlich ab – dann geht es gar nicht um die Band. Eher darum, sich mit Freunden zu treffen und gemeinsam deinen Lieblingstrack von Eazy-E anhören.

Robin: Warum der?

Harry: Oder wen auch immer. Robs Referenz wäre hier wahrscheinlich 50 Cent.

Du bist 50-Cent-Fan, Rob?

Robin: Ach, wir haben kein Problem mit 50 Cent. Aber zurück zum Thema: Eine Lieblingsmaschine habe ich nicht.

Harry: Was ist mit dem neuen Zeug, das du gerade gekauft hast?

Robin: Das mag ich gar nicht besonders. Ich habe aber ein Modularsystem, für mich ist das das Beste zum Improvisieren. Ich brauche ein großes Gerät mit vielen Knöpfen, das ich bedienen kann, ohne hinzusehen, das flexibel im Sound ist. Ich habe meine eigene Arbeitsweise damit, und es ist witzig, weil es die totale Antithese zu Rob ist. Allerdings hatten wir dieselbe Ausgangssituation: Ich hatte einen Volca Sampler, Harry die Beats plus Gitarrenpedale.

Harry: Am Anfang haben wir noch beide Gitarre gespielt, die ganzen Samples kommen von diesen Aufnahmen und von Robs Vocals.

Robin: Auch, weil wir total auf die Kunst- und Musikszene in New York und Los Angeles rund um die Jahrtausendwende gestanden sind. Bands wie Animal Collective, Black Dice,

Harry: Healt

Robin: oder Gang Gang Dance. All diese Gruppen haben mit dem Band-Format im elektronischen Gewand rumgespielt – und wie! Jahrelang waren sie ausgesprochen originell und haben sich alle gegenseitig beeinflusst. Dabei haben sie nur Scheiß-Equipment benutzt.

Harry: Versuche das Meiste aus dem rauszuholen, was du hast. Das gilt nicht nur für Equipment oder Techno, das ist eine ziemlich universelle Weisheit.

Robin: Wir haben kürzlich eine Show mit unseren Kumpels von [der Bristoler Post-Punk-Band, Anm. d. Red.] Idles gespielt. Eine mächtige, mächtige Nacht. 

Harry: Interessant ist ja auch, dass man die Tanzmusik dafür zelebriert, Musik von Morgen zu sein. Entweder feierst du gewisse Retro-Tropen bestimmter Szenen und Zusammenhänge wie Jeff Mills oder Disco. Oder du feierst Leute, die ganz instinktiv neues Zeug machen, wie SOPHIE oder Arca. Solche Künstler*innen referenzieren alles mögliche, aber nutzen jetzt keinen besonderen Kompressor aus den 70er Jahren, um einen spezifischen Sound nachzubauen. Die Frage ist: Wie machst du überhaupt futuristischen Kram und neue Sounds mit gängigem Equipment? Brauchst du viel Geld, um neue Musik machen zu können? Neues Zeug gleich Kohle – eine allgemeingültige Regel, die aber in der Clubszene und unserem Zeitalter der Übersättigung mit Information, Technologie und Freiheit langsam aufweicht.

Giant Swan auf dem Unsound Festival 2019 (Foto: Helena Majewska)

Wer kommt da in der elektronischen Musik deiner Vorstellung am nächsten? 

Harry: Es ist egal, ob du eine gecrackte Logic-Kopie, Garage Band oder eine 130-Euro-Volca-Drum-Machine benutzt. Das sind keine Symbole der Vergangenheit, sondern bloß Tools, die möglichst effizient eingesetzt werden können, um neue Klänge zu erschaffen. Leute wie SOPHIE oder Arca geben nicht unbedingt tausende Euros für neues Equipment aus – es ist ihr Mindset, ihre Vision. Die Sounds an sich wurden schon früher gemacht, aber es geht um den Zusammenhang und wie der es schafft, diese Sounds futuristisch klingen zu lassen. Sorry, das sind zwei ziemlich unpassende Beispiele.

Robin: Finde ich gar nicht, vor allem SOPHIE passt super. Erinnerst du dich, als du sie gesehen hast und zurückkamst: Yeah, sie hat einfach heftige Beats gespielt.

Harry: Das war unerwartet, weil sie diese krasse Bürde auf ihrem Rücken trägt: Sie ist so futuristisch, was sie wohl als nächstes ausheckt? Die Erwartungen werden größer und größer. Wenn sie einfach nur ein Album veröffentlichen will oder etwas für ihre Verhältnisse ziemlich Normales, denkst du dir: Was ist das? Warum hast du nicht einen A.I.-Bot programmiert, der neue Sounds macht?

Robin: Auf der anderen Seite schätze ich solche Künstler*innen wirklich. Das hat sich verändert, früher war ich da eher puristisch. Artists wie Dean Blunt etwa provozieren, indem sie Soul-Musik nutzen für einen Kommentar in einem bestimmten kulturellen Zusammenhang – das ist auch ein Weg, von dieser Strenge – es muss eine TR-909 sein, Ableton Live, das Berghain – wegzukommen. Versteh’ mich nicht falsch, daran ist nichts verwerflich. In ein paar Stunden werden wir das Berghain mit einem Volca Beats abreißen.

Harry: Wahrscheinlich zum ersten Mal in seiner Geschichte!

Robin: Dabei kann jeder machen, was wir machen – du musst dich nur ordentlich anstrengen.


„Wenn wir nach Function spielen, wirken wir in diesem Zusammenhang natürlich, als ob die Hölle auf Erden ausgebrochen wäre. Aber eigentlich sind wir echt nette Typen.” 

Robin Stewart

Denkt ihr darüber nach, euer Live-Set noch intensiver zu machen?

Robin: Bei ein paar Shows habe ich das Mikro ans Publikum weitergereicht. 

Harry: Ach, wir wollen wir das ja gar nicht forcieren, dass mehr Power per se besser ist.

Robin: Für uns wäre es zum Beispiel extrem, mal überhaupt keine Drums zu spielen.

Harry: Unser Endziel ist ja nicht, dass ihr um Gnade winselt.

Robin: Wenn wir nach Function spielen, wirken wir in diesem Zusammenhang natürlich, als ob die Hölle auf Erden ausgebrochen wäre. Aber eigentlich sind wir echt nette Typen. Da nervt es ein bisschen, dass Leute uns auf ein Podest stellen, was extreme Musik angeht: Jo, ihr Typen seid so brutal, das wird total krank! Nun, Harry ist total verrückt nach Popmusik und ich höre mir vieles lieber als Techno an. (lachen)

Hört ihr denn noch Metal und Rock?

Robin: Klar, Harry trägt doch ein Shirt von [der US-Death-Metal-Band, Anm. d. Red.] Blood Incantation.

Harry: Nicht mehr so viel wie früher, aber ungefähr einmal im Monat. Mittlerweile höre ich eher Rap und Pop. Etwa mag ich wirklich [die deutsche Pop-Sängerin, Anm. d. Red.] Kim Petras, die als transsexueller Teenie bekannt wurde. Ein bisschen wie dieser Hochglanz-Pop-Kram von Charli XCX. Oder Travis Scott, Future-Rap-Kram aus den USA. Aber eigentlich hören wir alles mögliche, natürlich auch heftige Musik. Es ist gut, eine gesunde Balance zu halten.

Robin: Letztens haben wir uns eine Sludge-Metal-Band namens Body Void angeschaut. Ihr*e Sänger*in identifiziert sich als non-binär, und alle Lyrics drehen sich um Dysmorphophobie. Fantastische Musik, total zerschmetternd und brutal. 

Harry: Überhaupt, warum Clubmusik-Alben! Einzelne Tracks, 12-Inches oder Remixe wie früher machen doch viel mehr Sinn.

Robin: Total, unterm Strich sind Tanzmusik-Alben für mich uninteressant.

Warum denn das?

Harry: Diese ganzen Klischees, die du bedienen musst: Das zweiminütige Ambient-Intro, der Breakbeat-Tune, das Vocal-Feature.

Giant Swan (Foto: Keith Leaf)

Es gibt diese Anekdote, dass ihr mit Giant Swan angefangen habt, weil sich einer von euch den Arm gebrochen und keine E-Gitarre mehr spielen konnte – stimmt das?

Harry: Das war nicht der Beginn von Giant Swan, aber davon, dass wir uns der Tanzmusik zugewendet haben.

Robin: Tja, mit einem gebrochenen Arm Gitarre zu spielen, ist schwierig.

Harry: Wir waren für diesen Gig mit [dem Londoner Experimental-Duo, Anm. d. Red.] patten gebucht, unser erstes Tanzmusik-Booking in einem Club, und ich hatte mir etwa zwei Monate vorher den Arm gebrochen. Meine damalige Freundin lieh mir ein Gitarrenpedal, das auch samplen konnte. Außerdem hatte es eine verdammt fette Kickdrum als Metronom. Das benutzten wir als Basis für den Four-to-the-floor-Sound und nahmen darüber Gitarren-Loops und Beats auf. Die konnte ich mit nur einer Hand triggern, weil die andere in einem Gips steckte.

Robin: Es hätte auch ganz anders laufen können – hätten wir etwa entdeckt, dass wir mit einem gebrochenen Arm super Acid Jazz machen können. Außerdem war es echt eine krasse Erfahrung, diesen kraftvollen, perkussiven Sound durch ein Soundsystem zu schicken.

Wie ich schon anfangs meinte, erinnern eure Auftritte an Electro-Bands aus den 90er-Jahren wie The Prodigy. Inspirieren euch solche Crossover-Stars?

Robin: Schau dir Underground Resistance an – sie hatten einen Vocalisten. Das braucht uns nicht zu interessieren, aber diese Energie ist immer noch da. Und Prodigy: Na klar!

Harry: The Chemical Brothers.

Robin: Nicht das beste Beispiel.

Harry: Mich inspirieren solche Gruppen heute viel mehr als während meiner Jugend. Was sie gemacht haben, war ziemlich extrem und repräsentiert die ganze Freespeech-Bewegung und das moderne Großbritannien. Früher waren The Prodigy für mich dieser eine Track, den mein Vater viel zu laut abspielte. Heute denke ich eher: Vielleicht sind wir The Prodigy? – Nein, sind wir nicht.

Robin: Und Kram wie Fad Gadget oder Throbbing Gristle, wie sie den Frontmann einsetzen. Oder British Murder Boys, die sich selbst als Space-Rock-Duo bezeichneten. Immer mit einem Augenzwinkern, stärker beeinflusst von Monty Python als vom Tresor. Hey, es sind immer noch Tony [Anthony Child alias Surgeon, Anm. d. Red.] und Karl [O’Connor alias Regis, Anm. d. Red.] mit ihrem Techno, die ihre Späßchen am Mikro machen. Es geht um Subversion und darum, ein bisschen zu lachen, sich über sich selbst lustig zu machen.

Harry: Solche Gruppen zeigen auch eine Verletzlichkeit, die andere anzapfen und nachvollziehen können. Wenn Kunst undurchdringbar ist, ist es schwierig, eine emotionale Beziehung dazu aufzubauen. Wenn sie so unerreichbar ist, dass du nicht mal nachvollziehen kannst, was der Artist sich dabei gedacht hat. Wir wollen das Gegenteil, unser Publikum ermutigen, auch Künstler*innen zu sein. Wie [das ehemalige Oasis-Mitglied, Anm. d. Red.] Noel Gallagher und David Bowie. Bowie ist unantastbar, aber Noel Gallagher oder sagen wir jemand von den Arctic Monkeys repräsentiert viel eher unsere Sichtweise: Ich kann das machen, also kannst du es auch, uns trennt nichts. Sogar [der britische Singer-Songwriter, Anm. d. Red.] Ed Sheeran: Wenn er den Durchbruch in seinem Kaff geschafft hat, kannst du das auch.

Robin: Genau wie in der Punk-Szene: Diese Leute motivieren dich, selber aktiv zu werden.

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