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Autechre: „Mehr Menschen mögen Erdbeeren als Autechre” (Teil 2)

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Autechre (Foto: Bafic)

Der erste Teil unseres großen Interviews mit Autechre konzentrierte sich stark auf die Gegenwart und den Pandemie-bedingten Zeitgeist. In der zweiten Hälfte unseres Facetime-Calls sprechen wir mit dem britischen Duo hingegen über die Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf die derzeitige elektronische Musik. Darüber, wie Sean Booth und Rob Brown in ihren Elternhäusern mit dem Produzieren anfingen. Über das fehlende Verständnis der beiden für das Hantieren mit teurer, schlimmstenfalls geklonter Hardware im 21. Jahrhundert. Und über den Vormarsch von Ecstasy im Großbritannien der Neunziger.

Außerdem erklären Autechre, welche Musikstile von Extrovertierten und welche von Introvertierten ausdefiniert wurden und warum die Verkaufszahlen von Michael Jacksons Thriller die beiden noch an das Gute im Menschen glauben lassen – Shakin’ Stevens hingegen keineswegs.

SB: Wir haben ja eine Art Hip-Hop-Hintergrund und haben früher Mixtapes gemacht, anstatt selbst zu produzieren. Manchmal auch Remixe. Da stellt man sich immer die Frage, was man verbessern kann, was damit nicht stimmt, wie man etwas reparieren kann. Das ist wahrscheinlich die Frage, die ich mir beim Musikmachen am öftesten stelle: Was ist damit verkehrt? Was stimmt nicht daran, was ich höre? Was auch immer das dann ist – ich setze es sofort um.

Und wie habt ihr damals als Remixer zusammengearbeitet?

RB: Wir haben uns über einen gemeinsamen Freund kennengelernt. Sean hat sich sehr für Graffiti und Taggen interessiert, ich immerhin für Graffiti und Hip-Hop-Kultur. Wir waren in unserer jeweiligen Stadt eigentlich dieselbe Person. Ich habe Tapes für meine Freunde aufgenommen, Sean welche für seine. Allerdings war ich etwas mehr Turntable-orientiert und habe früh dran gearbeitet, Decks zu kriegen. Sean hingegen war sehr gut im Bearbeiten von Tapes.

Wie alt wart ihr, als ihr aufeinandergetroffen seid?

RB: 17, Sean etwas jünger. Die Begegnung fühlte sich seltsam an. Da ist dieser Typ, der genauso über Musik spricht wie du, der sogar dieselben Wörter benutzt. Ich habe Sean dann zu mir nach Hause eingeladen. Das war ganz lustig, weil ich eigentlich dachte, dass er mir nur mein Gras abziehen will. Wir haben bei mir aber einen Mix auf Kassette gemacht, den er mitgenommen und bearbeitet hat.

Wie klang das?

RB: Sehr hochwertig, es war kein halbgares DJing, sondern extrem gute sechs Minuten, in denen er alles rausgehauen hat. Sowas hat uns am meisten interessiert. Eine Drum Machine, Tapedecks, Turntables, ein paar Platten und ein kleines Keyboard zum Samplen. Wir haben damit unsere DJ-Mixes überproduziert, bis wir gemerkt haben, dass wir da eigentlich Tracks mit den Samples anderer Leute machen.

SB: Ich hatte nur einen Casio SK-1, Tapedecks und einen Plattenspieler – damit habe ich alles gemacht. Dass Rob zwei hatte, war von jetzt auf gleich ein großer Schritt nach vorne für mich. Meine größten Einflüsse waren Künstler wie die Latin Rascals, die einen Track von Mantronix genommen und daraus eine eigene Version, zum Beispiel mit weirdem Dub, gemacht haben. Ich habe versucht, nur durch Editing Beats aus den Beats von anderen zu machen. Noch heute unterscheide ich nicht zwischen verschiedenen Klangquellen. Ob etwas aus dem Mikrofon, vom Keyboard oder von einer Platte kommt. Man kann sie alle anzapfen – mit der Attitüde bin ich aufgewachsen. Ich denke nicht, dass in kreativer Hinsicht ein Unterschied darin besteht, ob man in ein Geschäft geht, um sich ein Keyboard zu kaufen und damit Klänge zu erzeugen. Oder ob man reingeht, um sich eine Platte zu kaufen und damit Klänge zu erzeugen. Noch immer denke ich wie ein Remixer, eigentlich remixe ich die ganze Zeit nur meinen eigenen Mist.

„Seit wir uns zum ersten Mal getroffen haben, verfolgen wir verschiedene Ansätze, die im gleichen Resultat münden.”

Rob Brown

Producing und Remixing sind also das Gleiche für euch?

SB: Alles das Gleiche. Ich finde es schon willkürlich, da zu unterscheiden.

RB: Das zu rechtfertigen endet im Semantischen. Ich bin etwas mehr auf Details fixiert als Sean, deshalb funktionieren wir zusammen auch so gut. Wenn ich etwas nicht selbst nachbauen kann, macht mich das verrückt. Sean hingegen würde das alles auf den Kopf stellen.

SB: Ich hole mir gerne Robs Tracks in mein Setup und zerstöre sie. Dabei entwickeln sich komplett neue Richtungen, in die ich gehen kann. Es macht mir mehr Spaß, an etwas zu arbeiten, das schon existiert, als ganz neu anzufangen.

Wie findest du es, wenn Sean deine Tracks zerschreddert, Rob?

RB: Kulturell ist das total in Ordnung, wir sind geografisch ja in derselben Region aufgewachsen. Das passt zu Manchester. Und unser Ansatz war immer dieses ständige Bearbeiten.

SB: Ich bin manchmal auch neidisch auf ihn, weil er aus meinen Patches so komisches Zeug macht, auf das ich niemals gekommen wäre. Er nutzt meine Ideen also auch auf kritische Weise, nur eben subtiler.

RB: Seit wir uns zum ersten Mal getroffen haben, verfolgen wir verschiedene Ansätze, die im gleichen Resultat münden.

SB: Bei Rob passiert das schrittweise, ich bin da sprunghafter.

Breakdowns im Elternhaus

Was haben eure Eltern über die Musik gedacht, die ihr produziert habt?

RB: Dass sie zu laut und zu kompliziert ist. Seans Eltern waren da ganz entspannt, aber bei mir gab’s schon Beschwerden.

SB: Meinen Eltern hat das nichts ausgemacht. Die hat das sogar interessiert. Mein Vater ist auf das perkussive Zeug sogar ziemlich angesprungen und hat uns ermutigt. Meine Mutter meinte eher: „Oh, das ist schön!”. Weil sie halt meine Mutter war. Mein Vater war sogar kritisch und sagte, was er daran mochte. Das waren vor allem die Breakdowns. (Beide lachen) Insgesamt haben sie uns immer sehr unterstützt. Einzig über den exzessiven Drogengebrauch haben sie sich Sorgen gemacht.

Autechre Unterführung by Bafic
Foto: Bafic

Die haben alles mitbekommen?

RB: Klar. Wir waren da sehr transparent. So war das, als wir aufwuchsen. Jeder hat seinen Lebensstil ziemlich offen vor sich hergetragen.

SB: Mein Vater hatte als Teenager und in seinen frühen Zwanzigern auch Gras geraucht. Es war also nicht unangenehm, er meinte nur immer: „Du weißt, dass das illegal ist? Lass’ dich bloß nicht erwischen.” Mit Graffiti war es dasselbe. Die Maxime war immer: „Ich weiß, ich kann dich nicht davon abhalten. Also lass’ dich nicht erwischen.” Ich habe damit auch aufgehört, als ich 16 wurde, weil die Strafen ab diesem Alter drastisch waren.

RB: Manchmal waren unsere Eltern vielleicht etwas alarmiert, weil das wirklich alles war, was wir gemacht haben. Wir waren bei einem von uns zuhause und haben die ganze Nacht und den ganzen Tag Musik gemacht, wenn wir die Möglichkeit dazu hatten. Sie hatten hin und wieder sicher Sorgen um unsere Perspektive.

„Was zur Hölle willst du mit einer 606, noch dazu geklont? Holst du dir die, weil du dann so tun kannst, als wärst du ein mittelloser Künstler von vor 30 Jahren?”

Sean Booth

Wie sah die denn abseits von der Musik aus?

SB: Ich bin eigentlich ohne Abschluss von der Schule abgegangen, habe mich dann aber aufs College geschlichen. Nach sechs Monaten habe ich dann gemerkt, dass ich nicht genug Zeit im Studio hatte. Also wollte ich mir irgendeinen miesen Job besorgen, um mir Equipment zu kaufen. Es war 1988, man konnte eine 606 für 50 Pfund kaufen.

Das ist heute anders.

SB: Das ist das Komische an der Gegenwart! Schaut euch diese Kids an, die für eine geklonte 606 350 oder 400 Pfund ausgeben. Ich frage mich da nur eins: Warum? Du kannst dir für das Geld auch einfach einen Laptop holen. Was zur Hölle willst du da mit einer 606, noch dazu geklont? Holst du dir die, weil du dann so tun kannst, als wärst du ein mittelloser Künstler von vor 30 Jahren? In den Achtzigern hatten wir diesen Typen in den Charts, Shakin’ Stevens. Der tat so, als wäre er ein Rock’n’Roller. Also ein mittelloser Typ aus den Fünfzigern. Ich dachte mir damals, was das für ein totaler Müll ist, was das soll. Wenn ich also jetzt jemanden sehe, der 400 Pfund für eine geklonte 606 ausgibt, ist das ähnlich. Ist das wirklich, was du machen willst?

Wie hast du dann mit der echten 606 weitergemacht?

SB: Ich dachte mir, dass, wenn ich irgendeinen Job kriege, ich keinen College-Abschluss brauche, um sie zu benutzen. Ich kann einfach die Gebrauchsanweisung lesen. Das klang sehr einleuchtend und unkompliziert: Du hast 50 Pfund, dann die 606, dann liest du das Handbuch, verstehst es in voller Gänze und fängst an, Tracks zu machen. Wen solltest du dafür brauchen? (Rob lacht)

RB: Ich habe diesen Onkel, dessen Platten ich genutzt habe, um zu verstehen, was ältere Generationen so hören. Die Mode wurde damals auch von Filmen wie Grease bestimmt, der sich an den Fünfzigern orientierte. Und ich dachte mir nur: „Ich und meine Leute, wir haben dazu so gar keinen Bezug.” Wir dachten, wir kämpfen an vorderster Front, wenn es darum geht, Neues zu machen. Und trotzdem hatten manche Schlaghosen und etwas veraltete Shell-Top-Schuhe an. Mein Onkel muss sich da gedacht haben: „Warum ist diese junge Generation scharf drauf, die Vergangenheit nochmal zu durchleben?” Das passiert jetzt auch wieder. Wenn du älter wirst, merkst du, dass es Zirkel gibt, die sich immer wiederholen.

SB: In Manchester gab es in den Achtzigern auch Bands wie die Stone Roses, die Sixties Rock machten. Das war nicht meins. Ich wollte in die Zukunft. Eine 606 war ein Schritt dahin. Auch wenn sie damals schon alles andere als neu war. Wir haben uns die gekauft, weil wir sie uns leisten konnten. Nicht aus stilistischen Gründen. Wenn es für das Geld damals schon Laptops gegeben hätte, hätte ich mir die verdammte 606 nicht mal angeschaut. Das wäre Zeitverschwendung gewesen. Unser damaliger futuristischer Sound ist also eher im Zufall begründet. Ansprechend war daran vor allem das Preisschild.

Wie hätte sich dein Leben entwickelt, wenn ihr es mit der Musik nicht geschafft hättet, Rob?

RB: Ich habe gute Erinnerungen an meine Grundschulzeit. 1983 auf dem Spielplatz habe ich mir schon überlegt, dass ich im Jahr 2000 30 sein und wie das dann wohl sein würde. Dass ich mir dann mit 13 oder 14 sowas wie Schooly D angehört habe, ist aus heutiger Sicht echt seltsam. Wir haben uns übrigens gar nicht so für Kraftwerk interessiert. Das war für etwas ältere Menschen. Wir haben richtigen Electro gehört. Kraftwerk war im Mainstream angekommen.

SB: Immer lief dieser „Numbers”-Song.

RB: Heute umgibt mich haufenweise Musik, die dem Sound entstammt, den ich mit 14 so mochte. Diese Zukunft sah ich damals schon als gegeben an, quasi als Gratisticket. Es war keine harte Arbeit. Ich dachte mir: Wir machen die Tracks, die wir wollen. Andere machen die Tracks, die sie wollen. Das wird alles riesengroß, Hip Hop wird Mainstream werden. Jeder Track im Radio wird klingen, als wäre er von der Musik, die ich als Kind gehört habe, beeinflusst worden.

SB: Da geht’s natürlich auch um unsere Definition von Hip Hop, weil wir so alt sind. Für uns standen an erster Stelle immer die Beats, die MCs wurden danach dazugegeben. Jetzt geht’s ums Rappen.

Nicht mal so sehr ums Rappen als ums Singen. Hip Hop ist inzwischen eine weitere Ausprägung von Popmusik.

SB: Es ist jetzt etwas ganz Anderes. Selbst in der goldenen Ära, den Neunzigern, ging es schon um die MCs. Als wir aber damit groß wurden, so von ’83 bis ’89, ging es mindestens so sehr um die Produktionen wie um die Rapper. Und ich habe mir die Platten wegen ersterem gekauft, nicht wegen Persönlichkeiten. Viele Rap-Crews bestanden damals nicht nur aus einem Producer und einem MC, sondern aus einer ganzen Gruppe von Leuten, die alle rappten. Was alles zusammenhielt, war der Beat. Die Popindustrie hat das Genre umgedreht und individualisiert.

„München wirkte sehr professionell. Frankfurt hatte eher diesen großstädtischen New-York-Charme. Hamburg waren die extremen Stoner, die in Richtung Hippie und Indie gingen.”

Rob Brown

Ab wann wurde Hip Hop für euch zu Electro?

RB: Unser ganzer Zugang war gewissermaßen schräg. In letzter Zeit haben wir uns immer wieder mit New Yorkern unterhalten, für die die Bezeichnung „Electro” gar nicht existiert. Das ist für die ein europäischer Begriff. Wir dachten, die ganze Welt versteht dieses Phänomen auf die gleiche Art wie wir. Aber eigentlich haben wir Teile der Hip-Hop-Industrie unterstützt, die New York vernachlässigt hat.

SB: Schau dir Todd Terry an. Der hat anfangs noch Freestyle-Tracks gemacht, die verdammt genial waren. Wegen des House-Booms ist er jetzt als House-Producer bekannt. Für uns bleibt er aber Bboy – auch sein House-Zeug trägt dieses Element in sich. Auch Jeff Mills. Die Wizard Mixes aus den Achtzigern bestehen aus denselben Tracks, die wir gern gespielt haben. Ich habe mir das letztens wieder angehört und festgestellt, dass der Typ so sehr Bboy ist, dass du’s kaum glaubst. Auch wenn du mit Drexciya oder UR redest – die sind mit demselben Zeug aufgewachsen wie wir.

Wo liegen dann die Unterschiede?

SB: Wir haben uns davon ausgehend in unterschiedliche Richtungen bewegt. Obwohl Mills in Berlin eine große Nummer wurde, war er für uns immer ein Bboy-Producer, der für dieses Publikum eben Techno gemacht hat. Ich wollte euch eh was zu Deutschland fragen. Als wir dort die ersten Male waren, hattest du Szenen im ganzen Land. Du hattest eine in Hamburg voller abgedrehter Hippies, eine in Köln, eine in Frankfurt, all das Zeug. Jetzt scheint alles aus Berlin zu kommen. Es scheint mir fast so, dass Berlin die alle geschluckt hat.

Hermetisches Berlin, freies Wien

Das stimmt gewissermaßen. Es gab noch München.

RB: Das wollte ich auch erwähnen. München wirkte sehr professionell. Frankfurt hatte eher diesen großstädtischen New-York-Charme. Hamburg waren die extremen Stoner, die in Richtung Hippie und Indie gingen.

SB: Es gab Force Inc. und sowas, das war verdammt gut. Köln, etwa mit Mike Ink, war etwas ganz Eigenes. Deutschland hatte tolle unabhängige Szenen.

Berlin hat die definitiv vereinnahmt. Das ist ziemlich schade.

SB: Ich will Berlin gar nicht schlecht reden, aber von allen Städten in Deutschland hatte es Anfang der Neunziger die uninteressanteste Musik.

Es war ja auch nie wirklich eine Musikstadt. Es gab eine Punk- und Postpunkszene, die Einstürzenden Neubauten.

RB: Der Tresor hat sich das zunutze gemacht. Compilations wie Der Klang der Familie sind auch nach England geschwappt.

SB: Diese Szene war so viel deutscher als die in anderen deutschen Städten damals. Gemessen daran, was wir für deutsch halten.

„Wir in England dachten uns, dass Basic Channel sich da drüben ein Königreich aufbauen. Das Tolle an der Musik war, wie offensichtlich sie ein Club-Publikum ansprach, das damals wahrscheinlich noch gar nicht so existierte.”

Sean Booth

Ein Problem ist wohl, dass Künstler*innen den Eindruck vermittelt bekommen, dass sie nach Berlin ziehen müssten, um richtig gute Musik zu machen. Daran liegt es auch, dass man hier kaum noch Berliner*innen trifft.

SB: Das macht Sinn.

RB: Es gibt eine richtige Migrationsbewegung, nicht wahr? So in etwa war es in L.A. doch auch. Orte werden Wüsten, weil sie als alleiniger Marktplatz für einen bestimmten Sound herhalten müssen.

Wie habt ihr Deutschland denn in den Neunzigern wahrgenommen? Im Interview mit RA meintet ihr, dass ihr hauptsächlich Österreich, speziell Wien, besucht habt.

SB: Ich glaube, dass wir nur in Berlin nicht waren. Wir spielten Gigs in München, Frankfurt, Hamburg oder Köln.

RB: Und abgelegeneren Orten. In Rostock etwa.

SB: Oder Potsdam. Das Publikum dort war super. Am meisten fühlten wir uns aber den Hamburgern verbunden. Die waren am entspanntesten, hatten viel für Ambient übrig.

Wann kam Berlin für euch dann auf die Landkarte?

SB: Wir in England dachten uns, dass Basic Channel sich da drüben ein Königreich aufbauen. Das Tolle an der Musik war, wie offensichtlich sie ein Club-Publikum ansprach, das damals wahrscheinlich noch gar nicht so existierte. Das passierte alles zu ihren eigenen Bedingungen. Sie machten keine Zugeständnisse, hatten fast ihr eigenes Universum. Und produzierten und masterten alles selbst. Das wirkte wie eine richtige Einheit. Damit konnten wir uns als Typen aus Manchester, die Piratensender machen mussten, weil wir nicht repräsentiert wurden, identifizieren.

RB: In Berlin haben wir mal in einem Gebäude namens Kunsthalle gespielt. Da haben uns alte Promoter hingebucht, die uns irgendwie als Künstler aus einer jugendlichen, hippen Blase verstanden haben, die auch Musik machen. Und dort vielleicht von einem Typen von Kraftwerk bestaunt werden konnten.

SB: Wir wussten schon, was der Tresor ist. Und wir hatten Sachen, die wir für Berliner Clubmusik hielten. Wir wurden aber nie gefragt, ob wir dort irgendwo spielen wollen, weil wir für die Außenseiter waren. Die hatten eine viel engere Definition von Clubmusik. Uns wurde da kein Zugang gewährt. Den hätten wir bekommen sollen, aber wir haben eben keinen polternden Techno gemacht.

RB: Das musste alles sehr uniform sein, um zu funktionieren.

Das ist das Paradoxe am Berlin der Neunziger. Jeder hatte das Gefühl, dass dort etwas Unwahrscheinliches, Avantgardistisches passierte, obwohl die Musik klar definiert und repetitiv war.

SB: Auch jetzt weiß ja noch jeder, was gemeint ist, wenn ich Berlin Techno sage. Es ist etwas sehr Fixiertes, das aus Mills und Basic Channel entstanden ist.

Würdet ihr sagen, dass die Definition von Techno in Österreich loser gedacht wurde?

SB: Dort war es einfach komplett anders. Speziell in Wien, wo Mego [heute Editions Mego, d.Red.] saß. Die hatten diesen 80s-Post-Industrial-Noise-Ansatz. Manche der Platten waren wie Hip-Hop-Loops. Das passte zu uns. Als wir dort anfingen zu spielen, waren wir mit vier oder fünf Acts auf dem Programm, die sich alle komplett unterschiedlich anhörten. Dort gab es mehr künstlerische Freiheit. Peter [Rehberg, d.Red.] meinte zu mir, dass Wien während der Neunziger so extrem langweilig war, dass sich dort gar keine richtige Szene herausbilden konnte. Deshalb hatten alle unterschiedliche Vorstellungen von Musik. Das war ein starker Kontrast zu Berlin – und für uns deshalb einladender.

„Ich mochte kein Ecstasy, was damals im Club jeder nahm. Wir nahmen Acid und Speed, weil das für uns die beste Kombination war, um auszugehen. Leute meinten zu uns, dass das ziemlich krass und komisch wäre. Ich hatte immer das starke Gefühl, dass sie damit komplett falsch lagen.”

Sean Booth

Musik in Berlin hatte noch diesen militärischen Subtext.

RB: Für mich klang es relativ grob, irgendwie so, wie man sich den Osten vorstellt.

SB: Ich hasse es, Stockhausen zu zitieren. Aber er meinte mal, dass er in Deutschland aufgewachsen ist. Und der Grund dafür, warum seine Musik so arhythmisch und ungewohnt klang, war, dass er in seiner Kindheit in einer Marschkapelle Militärmusik spielte. Er meinte, dass sämtliche Musik aus Deutschland darauf basiert.

RB: Mobilisierung.

SB: Ich weiß nicht, wie groß der Einfluss dessen auf Berliner Techno dann tatsächlich war, aber er lässt sich schwer leugnen. In Manchester hast du diesen depressiven, postindustriellen Wesenszug in der Musik. Wir sind genauso ein Teil dessen, wie diese Art von Techno ein Teil Berlins ist.

RB: Ich will Manchester nicht überromantisieren, aber unser erster Trip nach Australien war da schon ein extremer Kontrast. Das war im Winter, trotzdem schien die ganze Zeit die Sonne und jeder hing die ganze Zeit am Strand ab. In Manchester würdest du in deinem Schlafzimmer kauern und zittern. Bestrahlt von emeraldgrünen, gräulich-trostlosen Dampflampen auf der Straße. Soweit ich das mitbekam, gab es in Melbourne keine gute Musik, als wir dort ankamen.

SB: Keine Ahnung, ob das auch auf Berlin zutrifft, aber in Manchester gibt es viele gelangweilte Leute, die nicht wissen, was sie tun sollen. Die nicht wissen, welche Szene sie repräsentieren sollen. Diese Langeweile hatte auch bei uns als Musikern einen großen Einfluss auf unsere Produktivität. Was würde man auch sonst tun? Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, wieso wir so viel raushauen.

Ecstasy kontra LSD

Hat die Langeweile, die ihr eben angesprochen habt, euch zum Drogenkonsum animiert? Oder habt ihr sie genommen, gerade weil ihr Musik machen wolltet?

SB: Ich habe Musik schon gemacht, bevor ich Drogen genommen habe. Sogar eine ganze Weile zuvor. Damit habe ich erst so richtig mit 17 oder 18 angefangen. Da hatte ich schon drei, vier Jahre Musik gemacht. Ich mochte allerdings kein Ecstasy, was damals im Club jeder nahm. Wir nahmen Acid und Speed, weil das für uns die beste Kombination war, um auszugehen. Leute meinten zu uns, dass das ziemlich krass und komisch wäre. Ich hatte immer das starke Gefühl, dass sie damit komplett falsch lagen.

RB: Wir waren nette und sehr sensible Typen, das konnten wir nicht akzeptieren.

SB: Wir hatten damals schon eine Zeit lang unseren Piratensender gemacht und sind dann in diesen Club gegangen, das Hippodrome. Da habe ich Leute aus der Schule getroffen, von denen ich wusste, dass sie sich gar nicht für Dance Music interessierten. House hat meine Schule etwa 1986 erreicht. Dann war es dieses coole Genre, das sich trendbewusste Mädchen und Schwule anhörten. Nicht nur auf meiner Schule, eigentlich in ganz Manchester. Aber selbst ’83 oder ’84, als Electro groß wurde, konnte man das schon im Radio mitschneiden. Das haben wir gemacht, obwohl wir zu jung waren, um in Clubs zu gehen. Deswegen war Clubmusik für mich auch etwas, was ich mir zu Hause anhörte. Ohne den sozialen Kontext.

Was mochtest du dann an Ecstasy nicht?

SB: Es hat diese Musik für viele Leute geöffnet, die sich eigentlich nicht dafür interessierten. Weder für Electro noch für House. Plötzlich kamen die alle in die Clubs. Und ich sah sie dort und habe gemerkt, dass sie nur wegen der Drogen da waren. Das war scheiße. Für viele Leute waren Drogen also sicher ein Einstieg in diese Musik. Für uns war es eher andersrum. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass Ecstasy dich dazu bringt, einfach alles zu mögen.

RB: Das wollte ich gerade sagen!

SB: Wenn damals nur Grace Jones in den Clubs gelaufen wäre, hätte plötzlich jeder Grace Jones gehört. Es ging dabei gar nicht drum, was eigentlich lief. Der Mechanismus war eher der: Hier hast du Ecstasy, hier hast du irgendeine Art von Musik, was hältst du davon? Und die Leute sagten natürlich „Total geil!”, weil sie drauf waren.

RB: Mit den falschen Drogen hätten wir auch keine wirkliche Stimme, keine wirkliche Signatur zustande gebracht. Weil uns alles gefallen hätte. Das war uns sehr wichtig, obwohl wir keine militanten Hardliner waren, wie das manchmal dargestellt wird. Alles, was dazu geführt hätte, dass wir nicht mehr wir, sondern irgendwer anders sind, war aber vollumfänglich verboten.

Autechre bei MTV 1994
Autechre im MTV-Interview 1994

Und mit Acid hat das funktioniert?

SB: Acid ist eine unbarmherzige Droge, wenn es um Musik geht. Da gibt es nicht viel, das sich gut anhört, wenn du drauf bist. Viel klingt dann einfach falsch und etwas eigenartig. Du bist viel kritischer in deiner Musikauswahl, das ist so ziemlich das Gegenteil von Ecstasy. Acid ist viel subjektiver, du bist mehr du. Es intensiviert deinen persönlichen Geschmack. Es ist die einzige Droge, die ich je genommen habe, die mich nicht dazu gebracht hat, beschissene Musik zu hören und es am nächsten Tag zu bereuen. (Gelächter)

RB: Und wir hatten ja die ganzen Negativbeispiele vor der Nase, wir konnten das alles aus nächster Nähe mitverfolgen, daraus ließ sich ableiten: „Wenn ich viel Ecstasy nehme, werde ich sehr beschissenen Progressive House machen.”

SB: Wir hatten Glück, dass wir darum einen Bogen gemacht haben. Der Bus hat einige Leute plattgefahren. Dieses ganze Ecstasy-Ding. Es war schon ok, diese ganze Bewegung und die Raves mitzuerleben. Aber dass die Droge zum alleinigen Motor wurde, fand ich nicht gut.

RB: Wir sind nicht unbedingt extrovertiert. Und gewissen Szenen haben extrovertiertes Verhalten belohnt. Ich fand immer, dass diese Szenen dazu tendiert haben, sich selbst aufzufressen. Die sind implodiert oder explodiert und haben keinen gehaltvollen Sound hervorgebracht.

„Leute hören jetzt von der Szene in irgendeiner Stadt, jeder springt drauf an und konsumiert sie. Dann wird nach der nächsten gesucht.”

Sean Booth

Wie war es für euch als Introvertierte, Euch in einer extrovertierten Szene zu bewegen?

SB: Wegen des Internets ist der Dialog zwischen beiden Lagern mittlerweile tot. Du hattest in Städten extrovertierte Szenen, die sich graduell in den Vororten verbreitet haben. Irgendwann hat das die Introvertierten erreicht, die daraus ihre eigene Version gemacht haben. Aus Punk wurde zum Beispiel Postpunk und Indie. Punk ist was Metropolitanes, aus dem irgendwann sowas wie die Cocteau Twins wurde. Dasselbe gilt für Rave, woraus Ambient Techno wurde. Oder Grime, der zu Dubstep wurde. Oder Drum’n’Bass, eine suburbane Version von Jungle. Mit den ganzen Lyrics.

Wie hat das Internet diese Entwicklungsmuster verändert?

SB: Die gibt es schlicht nicht mehr. Leute hören jetzt von der Szene in irgendeiner Stadt, jeder springt drauf an und konsumiert sie. Dann wird nach der nächsten gesucht. Introvertierte tragen jetzt nicht mehr viel zur Konversation bei. Die Leute springen zwischen verschiedenen extrovertierten Szenen hin und her. Das ist ok, musikalisch interessiert es mich nur weniger. Ich habe diesen Dialog immer gemocht. Es gibt noch Sachen wie Algorave, definitiv eine Szene der Introvertierten. Die steht aber inzwischen eher im Schatten. Wie auch etwa die Modular-Szene, die aber ohnehin von ökonomischen Voraussetzungen abhängig ist. Auch für Algorave musst du aber Zeit und Geld haben, um dich überhaupt bilden zu können. Leute, die heutzutage eher mittellos sind, sozial oder finanziell, haben generell nicht mehr die Chance, musikalisch viel beizutragen. Die gehen dann gleich zu Bandcamp. Die Plattform hat praktisch den ganzen Indie-Kreislauf ersetzt. Weil auch Labels weniger Geld haben, verkaufst du dein Zeug eben direkt an deine 60 oder 70 Fans.

Ihr wart Introvertierte. Aber wenn man eure Karriere bedenkt, eure Konzerte, euren Status, seid ihr gezwungenermaßen extrovertiert geworden.

SB: Auf der Bühne können wir uns ja ganz gut verstecken hinter all dem Zeug, in der Dunkelheit.

RB: Ich verstehe schon, was du meinst. Das ist ein interessantes Paradoxon.

SB: Wir sind immer noch dieselben seltsamen Typen. Daran hat sich nichts geändert.

Ihr seid die Extrovertierten unter den Introvertierten.

SB: Das kann man wahrscheinlich so sagen. Allerdings stellen wir unsere Arbeit in die Öffentlichkeit, nicht uns selbst. Was ich wirklich über Sachen denke, meine Ansichten bleiben in der Regel zwischen Rob und mir – und euch. Aus künstlerischer Sicht machen wir in der Außendarstellung nichts anderes als die Typen auf Bandcamp, von denen wir eben sprachen.

„Ich tröste mich damit, dass die bestverkaufte Platte aller Zeiten Thriller von Michael Jackson ist, die 50 Millionen Mal gepresst wurde. Das ist nur ein kleiner Prozentsatz der Weltbevölkerung.”

Sean Booth

Das stimmt so nicht. Ihr seid weltbekannt und habt mehr als 60 oder 70 Fans, seid auf einem Label wie Warp vertreten.

RB: Das macht für uns aber keinen signifikanten Unterschied.

SB: Vielleicht bin ich dann nicht introvertiert. Seht es mal von dieser Seite aus: Ich bin nicht sehr sozial, ich habe kein allzu großes Netzwerk an Freunden. Das sind dieselben Leute, die ich schon mit 15 oder 16 kannte. Durch die Musik hat sich mein Bekanntenkreis nicht nennenswert erweitert. Ich will keine Szene-Person sein, hänge nicht wirklich mit anderen Musikern ab. Die schreiben mir weitaus mehr E-Mails als ich ihnen. Sehr oft antworte ich auch nicht. (Brown lacht) Frag irgendwen, der mich kennt. Generell bin ich einer sehr zurückhaltende, schüchterne Person. Eigentlich ist das schon Asperger – oder zumindest Züge davon. Es ist schwierig, mich kennenzulernen, ich bin ein bisschen scheu. Aber wenn ich mal anfange zu reden, kann ich nicht mehr aufhören. Extrovertiert ist an mir aber tatsächlich nur meine Musik. Ich habe kein Twitter, kein Social Media. Und ich teile niemandem mit, was ich zum Frühstück hatte. Oder wie ich über Donald Trump denke. Das bleibt alles da, wo es sein sollte – in meinem Kopf. Damit täte ich niemandem einen Gefallen. (Brown lacht)

Wie ist das bei dir, Rob?

RB: Der Unterschied zu den Leuten auf Bandcamp ist, dass wir das eben schon weitaus länger machen. Wir waren genau wie die. Bei unserem ersten wirklichen Gig waren vielleicht so 15 Leute, die auch noch Freikarten bekamen. Wir haben in den frühen Neunzigern im Band on the Wall gespielt und Warp Records eingeladen. Wir haben eine Show gemacht, auf der wir die DJs waren, das Live-Set gespielt und das Licht gemacht haben. Da war eine Mikroszene aus Freunden, vielleicht 50 oder 60 Leute. Was ich sagen will: Es ist immer noch dasselbe, wir machen es nur seit 30 Jahren.

Wie gestaltet ihr den Kontakt mit euren Fans?

SB: Die sind in der Regel so scheu wie wir selbst. Wenn wirklich mal einer auf uns zukommt und sich traut, ein Gespräch anzufangen, haben wir da Lust drauf. Die Konversation besteht aber dann größtenteils daraus, wie toll es ist, tatsächlich mit uns zu reden.

Spürt ihr da eine Verbindung?

SB: Ich kann keine Tracks für Leute machen, die ich nicht kenne. Eigentlich nur für Rob oder mich. Deswegen ist es immer komisch, wenn wir einen Fan treffen und der uns sagt, er sei in Connecticut aufgewachsen und hätte all unser Zeug gekauft. Und welche Bindung er dazu hat. Dann denke ich mir: „Wow, der ist ein wenig wie ich und Rob.” Denn für viele Leute ist das, was wir tun, einfach nur dieser bedeutungslose, willkürliche Krach. Das ist auch ok, jedem kannst du es nicht recht machen. Ich tröste mich immer damit, dass die bestverkaufte Platte aller Zeiten Thriller von Michael Jackson ist, die 50 Millionen Mal gepresst wurde. Das ist nur ein kleiner Prozentsatz der Weltbevölkerung. Die meisten Menschen scheinen es nicht genug zu mögen, um es zu kaufen.

RB: Es ist besser, wirklich zu mögen, was du machst. Und da alles reinzustecken.

SB: So, dass es gerade genug Leute mögen. Mich stört, dass es insgesamt nicht genug Menschen gibt, die sich für irgendwas begeistern können. Außer natürlich Essen – mehr Menschen mögen Erdbeeren als Autechre – oder Thriller von Michael Jackson.

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