Auf der gegenüberliegenden Seite der Optionsschaukel sitzt die Möglichkeit, die Ambient-Klänge möglichst persönlich zu gestalten, mit einer erkennbaren Eigenheit. Am tiefsten und nahbarsten ist in dieser Hinsicht in diesem Herbst wohl die EP For Those You Love Who Are Tormented Or In Pain (Part II)  (Doumen, 29. September) die Tyler Tadlock alias Spirituals einer krebskranken Freundin gewidmet hat. Politisch wach wie mitfühlend, ist die EP sowohl bitterer Kommentar zum US-Amerikanischen Gesundheitssystem wie Hoffnung spendender Soundtrack zur Heilung und Besserung.

Collagen aus gefundenem Sound können ebenfalls zum individuellen Eindruck beitragen, wenn die Partikelchen des Schönen oder Interessanten nicht allzu beliebig zusammengesetzt werden. Wie das geht, zeigt heuer besonders gelungen der Australier Harry Honen alias Schmo. Seine Spring Story (Flau, 18. September) ist komplett Sample-basiert, aus nur milde bearbeitetem Fremdmaterial zusammengebaut und dennoch nicht weniger persönlich nah und schön wie etwa die Arbeiten von KMRU oder Sprituals.

Dominic Simper ist ebenfalls aus Perth, Australien und als Bambi ebenfalls Heavy User von Samples. Dass Simper ansonsten bei den Megastars der Soft-Psychedelik Tame Impala spielt, hört man seinem Solodebüt Unfolding (Spinning Top) nur bedingt an. Keine Songs, sondern warme, weiche Drones, die noch etwas stärker verschleift und verwaschen klingen als bei Schmo. Es ist wohl die entspannte bis verkiffte Freundlichkeit, die Bambis Drones mit Simpers Hauptarbeitgeber gemeinsam haben und das Album zu einer ungetrübt pastelligen Freude machen.

Wenn nicht-funktionale Klänge einen Zweck erfüllen, dann vorwiegend als Begleitung von Bewegtbildern aller Art, als Emotionsverstärker oder Dämpfer. Wie effektiv das wirkt und ob die Töne auch unabhängig der Bilder bestehen können, kommt aufs diffizile Finetuning zwischen dem allzu Beliebigen und allzu Spezifischen an. Ganz wunderbar funktioniert es im Soundtrack zur Dokumentation The Vasulka Effect (Sony Masterworks, 2. Oktober) der beiden Isländen Pétur Jonsson und Bergur Þórisson als Hugar. Das isländische Videokunst-Ehepaar Steina und Woody Vasulka, um die es im gleichnamigen Film geht, haben im Bohème-New-York der Siebziger eine Art der Videoverarbeitung und Verfremdung entwickelt, die heute noch (oder gerade heute) supermodern wirkt. Hugar haben dazu einen superwunderschönen Soundtrack aus Neoklassik und Drone gebaut, der als Begleitmusik perfekt funktioniert, aber eben mindestens genauso gut für sich steht. 

Was der US-Amerikaner Takuma Watanabe, professioneller Soundtrack-Komponist seit zwei Dekaden, für den japanischen Kurzfilm Mada Kokoni Iru (Impartainment, 4. September) an Sounds von Neoklassik und Field Recordings in einen Track gegossen hat, konnte die beiden experimentellen Elektroniker Akira Rabelais und Félicia Atkinson sogar zu einer Art Rekomposition des Soundtracks als eigenständige Stücke animieren, die wiederum selbst als Begleitmusik zum Film dienen könnten. Rabelais hat seine bekannten Soundprocessing Algorithmen auf den Track losgelassen, sodass das Ergebnis wie feiner Piano-Glitch zur Hochzeit von Clicks & Cuts um die Jahrtausendwende klingt. Atkinson agiert diskreter und verdüstert und verdichtet die Neoklassik zu einem Textur-reichen Drone.
  
Anbessa (Miasmah, 25. September), die erste Soundtrackarbeit von Erik K Skodvin bleibt ebenfalls dessen klanglichen Vorlieben treu. Die Deaf-Center-Hälfte klingt hier düster und verschlissen wie immer, agiert aber deutlich weniger schroff und konfrontativ als unter seinem Solo-Alias Svarte Greiner üblich. Er schafft so ebenfalls eine Begleitmusik, die als solche bestens funktioniert, die aber ebenso problemlos als neues Dark-Ambient-Album von Svarte Greiners hätte erscheinen können.

Dass die Berliner Australierin Julia Reidy zu den interessantesten Free-Improv-Musiker*innen der jüngeren Generation gehört, hatte ich in diesem Rahmen schon mehr als einmal erwähnt. Ihre jüngste Arbeit Vanish (Editions Mego, Mitte September) packt die akustische Gitarre noch massiver als bisher in dichte und schwere Freistil-Elektronik. Dazu moduliert sie heuer noch eine Vocoder-Stimme in den Mix. So entsteht ein wundervolles Drone-Pop-Etwas jenseits aller Stile, aber immer diesseits von Schönheit und Eleganz. Dass Reidy alle möglichen Spielarten ihres Instruments dennoch auf brillante und effektive Weise hintergründig mit einbringt, addiert sich nur zum überwältigenden Gesamteindruck.

Die norwegische Postrock/Jazz-Big-Band Jaga Jazzist hat auf Pyramid (Brainfeeder) ebenfalls den Weg vom eindeutig als Jazz oder freie Improvisation identifizierbaren Sound hin zu einem exquisit instrumentierten wie smoothen Postrock-Electronica-Ding gefunden. Dass auf dem Weg dahin Kanten abgeschliffen und vielleicht auch Erwartungen an orthodoxe Spielarten von freierem Jazz enttäuscht wurden, spielt hier keine wirkliche Rolle. Mit ihrem ultralässigen Sound, der aber immer noch die Erinnerung an den spirituellen, utopisch-befreieten Jazz der sechziger und siebziger Jahre warm hält, sind sie bei den Kaliforniern von Brainfeeder (Flying Lotus’ Label) genau richtig angekommen.
  
Das Brüsseler Streichquintett BOW ist eigentlich ein typisches interpretierendes Ensemble, dass der Neuen Musik, Improvisation und Experimenten aller Art zugeneigt ist. Da die Mitglieder aber ebenfalls einige Erfahrung in neoklassischen Ensembles haben, ist ihr Quasi-Debüt BOW (Sub Rosa, 15. September) nur gelegentlich atonal und frei quietschend geraten. Die meiste Zeit agieren sie melodisch fokussiert wie straight postrockend.

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