Die texanische Komponistin Claire Rousay hat rein optisch den Punch einer queerfeministischen Punkband. Ihre elektroakustischen Klänge auf Two Things (Second Editions, 28. August) behaupten allerdings das Gegenteil. Leiser, diskreter und subtiler, weniger In-Your-Face geht es kaum. Die beiden Stücke des Albums sind konzeptuell komplexe aber (zumindest oberflächlich) sehr einfach gemachte Sound-Art-Stücke, die Sounds einer Umgebung (etwa einer Bibliothek) in genau diese zurückspielen.

Wenn jemand noch subtiler agieren kann als Rousay, dann wohl Miki Yui. In den weit über 20 Jahren Praxis  in Small Sounds hat die in Düsseldorf lebende Japanerin einen  ultraminimalistischen Stil entwickelt, der unmittelbar wiedererkennbar und eigen ist, obwohl Yuis Arbeiten sich nicht mit einer spezifischen Instrumentierung oder einem besonderen Stil identifizieren lassen. Das ist auf Aperio! (Hallow Ground, 25. September) nicht anders. Wenige statische Sinustöne und leiste Texturen von Feldaufnahmen entwickeln sich ultralangsam in tiefste Tiefen des Deep Listening. Wobei auch Stücke entstehen können, die in dem Zusammenhang beinahe schon Popmusik sind:

Was Vladislav Delay mit einer der ultimativen Rhythmussektionen des jamaikanischen Dub-Reggae, Sly Dunbar & Robbie Shakespeare, anstellt, hat mit den Spielarten des Genres, mit dem der Finne bekannt wurde, ungefähr genauso wenig zu schaffen wie mit dem über 40 Jahre eingependelten tighten Zuasmmenspiel von Sly & Robbie. 500-PUSH-UP (Sub Rosa) ist zu einer erstaunlich widerspenstigen, zerfahrenen und in kleinste Soundstreams zerfaserten Abstraktion avancierter Bässe und Beats geworden, deren unkaputtbare Substanz aber auch Ripatti nicht kompromittieren kann. Eine Arbeit am äußersten Limit dessen, was Dub kann, der all die Styles, die er einmal beeinflusst hat, wieder experimentell in sich aufgenommen hat.

Die Weirdo-Elektronik des Italieners Mana ist wohl durch einen vergleichbaren Prozess gelaufen. Asa Nisi Masa (Hyperdub, 11. September) enthält noch Spurenelemente von Grime, von Instrumental-Hip-Hop, von italienischen Giallo- und Horrorfilm-Soundtracks der Siebziger und Achtziger und einiges an Fourth-World-Aneignungen aus derselben Ära. Aber Mana macht daraus eben etwas verstolpert Eigenartiges. Die Samples laufen nie in Loops zusammen, sondern formen seltsam amorph wirkende, doch eingängige Nicht-Songs.

Die weiteren Exponenten der Hyperdub-Herbstkollektion verstehen sich ebenfalls darauf, sich das Fundament ihrer Erfahrungen, ihre Herkunft aus den Clubs Ostlondons, selbst unter der Füßen wegzuziehen. Und das machen die beiden EPs auf äußerst clevere Weise. Loraine James auf Nothing (Hyperdub, 02. Oktober) in der Abstraktion poppiger Grime- und Post-Step-Variationen

Ikonika erreicht das auf Hollow (Hyperdub, 9. September) über die Minimierung der Anzahl und Fülle von Elementen. Dass ihre Beat- und Bass-Exkursionen dadurch gerade nicht trocken, theoretisch oder akademisch bleiben, eben mit einem Fuß im immer noch geschlossenen Club, ist die Kunst darin.

Wie haben wir sie vermisst. Was ein Glück; Maria Minerva, die nach der posthumen Mini-LP mit Cherushii offenbar kurz davor war, die Musik gänzlich aufzugeben, hat doch noch ein Album gemacht. Und was für ein wunderbares. Soft Power (100% SILK, 18. September) könnte ihr bislang schlüssigstes und perfektestes Stück House-Schrägstrich-Pop geworden sein. Maria Minerva ist einfach die Beste!

Sebastian Maschat & Erlend Øye kennen sich von The Whitest Boy Alive, wo sie Schlagzeug beziehungsweise Stimme und Gitarre bedienen. Wie bei ihrer Band, die sehr erfolgreich damit wuchern konnte, die Echos einer Ibiza-Clubnacht in fluffigen Indie-Folkpop zu übersetzen, ist das Lockdown-Album der beiden unangestrengte Popmusik, die sich nach all den Jahren erlaubt, auch mal albern über die Stränge zu schlagen. Quarantine At El Ganzo (Bubbles Records) macht einfach sofort Laune.

Electronica mit zupackenden geraden House-Beats, aber doch eher für den Hausgebrauch produziert, kann zurzeit das kalifornische Label 100% SILK besonders überzeugend. Die September-Alben haben alle eine Restwärme gemein, die spürbar und wertvoll den vermurksten, verschwendeten und einigermaßen abwesenden Sommer verlängern zu vermag. Dass die Stücke noch viel mehr können und wollen, sollte aber ebenso klar sein. Jupiter Jax zum Beispiel ist ein junger Produzent aus Malta der es schon sehr gut drauf hat, die mediterrane Wärme in Sample-satte Elektronik zu wandeln, die Hüftschwung und Tanzbein nicht komplett vergessen hat in der Quarantäne. No Such Thing (100% SILK, 18. September) findet die perfekte Balance zwischen balearischer Entspannung und etwas forcierter Party.

Der Fahrrad-Enthusiast und Techno-Produzent The Cyclist lebt und arbeitet im kühlen Birmingham. Die politisch wache Arbeit Weather Underground (100% SILK, 18. September) ist dann durchaus etwas düsterer geraten, die percussionlastigen Dubs und experimentellen Breaks unter dem geraden Beat aber doch verhältnismäßig entspannend und weit weg von Kiffer-Paranoia. Hieß so was nicht früher mal Deep House, bevor der Begriff zum tendenziellen Schimpfwort wurde? Nun, The Cyclist macht ihm alle Ehre.
 
Pleasure Model aus Bristol setzt vergleichbares auf C.M.T.I.E. MANUAL (100% SILK, 18. September) in Glitch House mit Crunchy Beats um. Also Lo-Fi House (oder gar Blog-House)? Auch so ein Ding, das heutzutage nach Hipster-Schaden einen schlechten Ruf hat, aber von Pleasure Model tendenziell errettet und frisch gemacht wird.


Außer Konkurrenz, weil eigentlich im engeren Sinne Tech-House und Tanzmusik (also groove.de-Kernkompetenz), aber definitiv nicht falsch hier, möchte ich abschließend die Phases EP (Anjunadeep) von Ben Böhmer erwähnt haben, weil das zentrale Stück „Motherboard” heißt und tatsächlich ein superfluffiger Post-Sommerhit ist.

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