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März 2024: Die einschlägigen Compilations

VA – Club Moss (Wisdom Teeth)

Waren auf der vorherigen Wisdom-Teeth-Compilation To Illustrate noch 100 BPM Trumpf, so haben die beiden Label-Betreiber Facta und K-Lone für ihre neue Zusammenstellung das Tempo gehörig angezogen: Alle 14 Tracks bewegen sich im Bereich von 145 bis 174 Beats pro Minute. Wer deshalb einen techsteppenden Drum’n’Bass-Sampler erwartet, könnte nicht falscher liegen. Zwar schöpfen alle Tracks aus dem Hardcore Continuum, aber doch auf sehr clevere wie aufregende Weise. Ausgetretene Pfade werden hier gar nicht erst beschritten. Klar, Breakbeat, Techno, UK Garage und Footwork sind Genres, an denen sich die Wisdom-Teeth-Produzenten orientieren. Es sind aber nur Startpunkte, um ihre sehr eigene Art von psychedelischer Clubmusik zu definieren.

Unter den Künstlern finden sich Bekannte wie Yushh, Sputnik One, Facta und K-Lone, aber auch einige spannende neue Acts wie das New Yorker Trio Purelink oder Cousin aus Sydney. Dazu noch einige bekannte Namen, die bisher nicht auf Wisdom Teeth vertreten waren: Maya Q und Tammo Hesselink, Airhead oder LUXE. So unterschiedlich die Künstler hier sind, allen gemeinsam ist eine Vision vorwärtsgerichteter, groovender wie verspielter, moderner Clubmusik, die auf dem Dancefloor wie auch zum Zuhören zu Hause funktioniert. Quasi eine futuristische Spielwiese elektronischer Tanzmusik. Schöner kann man sein zehnjähriges Bestehen (denn das ist nebenbei der Anlass der Compilation) kaum feiern. Tim Lorenz

Fantastic Voyage – New Sounds For The European Canon 1977-1981 (ACE)

Das ist ja mal eine wirklich seltsame Compilation. Ich meine, jeder Track in dieser Zusammenstellung ist natürlich toller und wichtiger Sound, der definitiv die Vorstellung von Musik veränderte und Geschichte schrieb. Trotzdem sind alle Tracks extreme bekannte Stücke, die jede:r DJ über 30 in seiner Plattensammlung hat – und die Google-Boomer und deren TikTok-Kinder inflationär auf YouTube finden.

Patrick Cowleys „Nightcrawler” hat dort fast 200.000 Klicks. Weshalb bringt jemand solche Stücke noch einmal heraus? Die Originale sind teilweise auf Vinyl noch nicht mal selten und billig zu bekommen. Denn die B-Seiten waren internationale Hits, die 10.000-fach aufgelegt wurden (Simple Minds – „Themes for Great Cities”). Gut, ich lese jetzt den Pressetext , denn ich verstehe das Konzept wirklich gar nicht (Daryl Hall – „The Farther Away I Am”). Ach so! ACE ist ein Reissue-Label, dessen Verkaufsstrategie auf Männer in der Midlife-Crisis abzielt, die sich nochmal nach dem Real Thing ihrer Jugend sehnen und deshalb nostalgisch-betrunken im Internet auf den Buy-Knopf drücken. „Scheiße, habe ich das gerade echt gekauft?”

Alle Stücke verbindet die Postpunk-New-Wave-Krautrock-Ambient-Electronic-Disco-Elektroakustik-Experimentierfreudigkeit der späten Siebziger und frühen Achtziger (Cabaret Voltaire – „Silent Command”). Letztlich wirkt die Auswahl durch die Platzbegrenzung auf Vinyl aber auch beliebig (Grauzone – „Eisbär”). Es fehlen unglaublich viele Tracks, die damals ähnlich relevant waren. Am liebsten war mir persönlich immer Chaz Jankels „3,000,000 Synths”.

Schön wäre es, falls dieses Sammelsurium die Genenrationen Z and Alpha wieder über diese Ära stolpern lässt (Holger Czukay – „Ode to Perfume”). Mirko Hecktor

VA – Future Sounds Of Kraut Vol. 2 compiled by Fred und Luna (Compost)

So irre gut diese Compilation geworden ist, so traurig ihr Anlass: Fred und Luna alias Rainer Buchmüller, Herausgeber der beiden Future Sounds Of Kraut-Compilations, ist im Februar verstorben. Das erklärt auch die Veröffentlichung jenes zweiten Teils, der gerade mal ein halbes Jahr nach dem ersten erscheint. Buchmüller hatte vor knapp zehn Jahren seinen elektronischen Take auf Krautrock zum Münchner Label Compost gebracht – mit einigen hörenswerten EPs und Alben seines Künstlernamens Fred und Luna. Für die zweite Future Sounds Of Kraut steuerte er ein Intro und ein Outro bei, ganz der gute Gastgeber, der seine Schützlinge willkommen heißt.

Außerdem neu: das Stück „Monotonikum”, das klingt wie eine niedliche Coverversion eines späten Kraftwerk-Stücks. Auch das Osnabrücker Duo St. Otten war bereits auf dem ersten Teil vertreten; auf Teil zwei verschieben sie einen zarten Electro-Beat in den Hintergrund und lassen vorne die Sterne funkeln. Kosmischer Läufer in weird-lustig sowie I:Cube in Topform waren ebenso bereits auf der ersten Compilation dabei. Zu den weiteren Highlights gehört Schlammpeitziger mit „Runzreich”: eine Maskerade aus sprechenden, lachenden und kichernden Synthie-Stimmen. Und wo Thomas Fehlmann ist, da lauert auch der Hit. Auf „Permanent Touch” scheint er seine eigene Autobahn zu bauen. Guter Drive, gilt für die ganze Compilation. Christoph Braun

VA – Gomma Dancefloor Gems Vol. 2 (Toy Tonics)

Ein Zeit- und Moneysafer ist die Gomma Dancefloor Gems Vol. II, denn wer die originalen 12-Inches – meist im blauen Pappcover mit Aufkleber – im guten Zustand sucht, muss mittlerweile heftig diggen. Oder tief in die Tasche greifen. Nicht ohne Grund liefen viele Maxis in den Clubs auf Heavy-Rotation. Wer sich die nun auf Toy Tonics wiederveröffentlichten Tracks auf den Plattenteller holt, beamt sich nicht nur in die Zeit zwischen 2001 und 2010 zurück, sondern begibt sich auch auf Spurensuche des aktuellen Toy-Tonics-Phänomens.

Wir ermächtigen uns selbst – DIY war das Motto der Gomma-Labelchefs Mathias Modica und Jonas Imbery, und so brachten sie in den Nullerjahren in schneller Reihenfolge einen Underground-Hit nach dem nächsten heraus. Dabei blieb es nicht. Den Über-Hit landete Munk mit „Kick Out The Chairs” (hier im WhoMadeWho-Remix). Auch sind solche Münchner Gewächse wie Leroy Hanghofer mit „Das Pi” oder Hiltmeyer Inc. mit „Chefsong” mit von der Partie und zeigen, dass der Indie-Disco-Sound bis heute eine Geschichte in der bayerischen Landeshauptstadt hat.

Gomma Dancefloor Gems Vol. II zeichnet ein großes internationales Ganzes – denn ob The Deadstock 33’s mit „My Best Dub” aus England, der Producer Bottin mit „Red Onions” aus Italien oder Golden Bug mit „St Tropez” aus Frankreich, ob dirty Disco, Indie-House, oder wicked Broken Beat, alle Produktionen sprechen eine Sprache.

Nancy Wang und Bonar Bradberry beschließen mit „Working The Shift (Disco Version 2024)” die Compilation und geben bereits die Blaupause für Toy Tonics vor. Gomma Records war längst nicht nur ein Label, sondern setzte mit seinen grellen DIY-Covern, Plakaten, T-Shirts und Magazinen auch optisch Vorbilder. Ein Schelm, wer da nicht an Toy Tonics denkt. Liron Klangwart

Sandwell District – Where Next? (Point Of Departure/PIAS)

Klar, man könnte sagen, bei Sandwell District darf Techno noch Techno sein (deshalb schauen ja alle immer so böse drein). Oder man hört sich Where Next? an und sagt: Ja, also. Weil der Titel natürlich was suggeriert, nämlich dass es wohin geht, aber man in diesem Moment noch nicht weiß, wohin genau.

Nachdem seit Kurzem aber eines der engsten Sandwell-Mitglieder nicht mehr ist, schlägt man hier notgedrungen den Rückweg ein. Das heißt: Die Tracks von Regis, Function und Silent Servant sind eine Sandwell-District-Compilation – das Schaffen längst vergangener Tage, wo eigentlich alles besser war, sogar die Schokoladenmilch von Müller. Na ja, wohin denn nun? Zurück zum Techno, der fünf, sechs Minuten die Luft anschiebt, bis die Welt stehenbleibt und alles anders ist. Das haben Sandwell District immer gut gekonnt, diese Tools für die Tooltime. Wobei das natürlich in der landläufigen Auffassung eine Beleidigung ist, die man unmöglich so stehenlassen kann. Deshalb muss man es wie einer der eifrigsten Nachahmer Rene Wise halten: „Es gibt keine langweiligen Tools, nur langweilige Tracks!” Und die findet man bei Where Next eher nicht – wenn man böse drein schaut. Christoph Benkeser

Terre Thaemlitz – Tranquilizer (30th Anniversary Restored & Expanded Edition 1994-2024) (Comatonse)

Dass ein Terre-Thaemlitz-Reissue nicht ohne ausführliches Begleitschreiben erscheinen würde, war klar. Doch überrascht die Geschichte um das Erstlingswerk der Trans-Aktivistin und Künstlerin mit pikanten Details zur ursprünglichen Version von 1994 und erklärt das Zustandekommen der nun zum 30. Jubiläum erscheinenden Restored & Expanded Edition.

Was damals als Tranquilizer auf dem New Yorker Label Instinct Ambient als einzelne CD erschien, war für Thaemlitz ein Paradebeispiel dafür, wie ein böses Label sich die Rechte aufstrebender Künstler sichert, nur um dann hoffentlich eine neue Cashcow melken zu können. Was Thaemlitz 1994 also nicht durfte, etwa den eigentlichen Titeltrack „Tranquilizer” auf das fertige Album zu packen, passiert nun auf dem Doppel-CD-Release fürs eigene Label Comatonse. Inklusive kleiner Vinyl-Stil-Hüllen für die CDs, einem Poster, jeder Menge Bonus-Versionen und bislang unveröffentlichten Tracks. Ein echtes Sammlerstück eben.

Während die erste Edition von Tranquilizer laut Thaemlitz selbst eine Art „shit-show” darstellte (sie durfte gerade keinen Begleittext über die in fast jedem Track enthaltenen, sozialkritischen Botschaften ihrer Songs beilegen), schaffte es „Raw Through a Straw” doch auf den Teller von David Mancuso und ins New Yorker Loft. Das Gros der restlichen Tracks ist ambienter gehalten, doch weniger im New-Age-Rave-orientierten Chillout-Style der frühen Neunziger; dafür musikalischer, mit vielen ausufernden Piano-Sequenzen, überraschenden Soundeffekten und schrägen Synth-Exkursionen. Wer Terre Thaemlitz alias DJ Sprinkles als Dance-Produzentin kennengelernt hat, erfährt hier mehr über deren Ursprünge als Hobbyist und versteht die Künstlerin danach wahrscheinlich besser in ihrer Ganzheit. Leopold Hutter

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